Verena Tobler – Plädoyer für einen fruchtbaren Umgang mit Extremisten

Die Taliban verstehen

Verena Tobler

Es gibt derzeit wohl wenige Gruppierungen in der Welt, die derart diabolisiert werden wie die Taliban in Afghanistan. Wer sich unmöglich machen will, muss nur ein Wort für diese verfemten Gottesstreiter einlegen. Und doch bin ich überzeugt: Wer die Taliban versteht, hat einen wichtigen Schlüssel zu jenem Problem in der Hand, das momentan die Welt von Algerien und der Türkei über den Iran bis hinüber nach Afghanistan und Pakistan durchzieht.

Nicht den Terrorismus will ich im Folgenden rechtfertigen, hingegen verstehen, weshalb es zu diesem Krieg zwischen Traditionalismus und Modernismus kommen kann, der die Menschen des Westens allerorts bedroht – ob sie als Touristinnen durch entfernte Regionen reisen oder im World Trade Center von New York arbeiten. Der Westen muss sich ernsthaft fragen, wie es dazu kommt, dass er die Pathanen, aus deren Reihen sich die Taliban rekrutieren, in den 80er Jahren als heldenhafte Widerstandskämpfer gegen die Sowjets gefeiert hat, um sie dann in den 90ern in abgrundtiefe Ungnade fallen zu lassen. Denn die pathanischen Männer hatten ihren Aufstand gegen die von den Sowjets gestützte Regierung in Kabul u. a. von Anfang damit begründet, “dass die Kommunisten die Mädchen zur Schule schicken”. Und die Pathanen waren damals in ihrem Kampf gegen die verhassten Sozialisten Taraki, Karmal und Amin durchaus nicht allein. Als im März 1979 in Herat, einer Stadt im tadschikischen Teil Afghanistans, Frauen und Mädchen von Lehrern zu Lesekursen gezwungen wurden, sollen die dortigen Traditionalisten 50 Sowjetbürger und eine unbekannte Zahl Afghanen bei lebendigem Leibe gehäutet und verbrannt haben. All das wollte der Westen damals nicht sehen! Inzwischen starrt er zwar entsetzt nach Aghanistan – nur verstehen kann er immer noch nicht. Denn die Aufspaltung in Form von Idealisierung und Verteufelung macht ihn blind für den gewaltigen Bruch, den die Weltwirtschaft verursacht, und verhindert so eine effektive Problemlösung.

Ich will im Folgenden den Blick auf zwei Welten richten, die so sehr auseinanderklaffen, dass keine die andere verstehen kann, und die sich dabei doch beide moralisch im Recht wähnen. Wer in einem derartigen Konflikt verstehen will, muss sich der Gegenseite so weit nähern, dass er sich selbst aus deren Blickwinkel sehen kann.

Die Chance zu diesem verqueren Kunststück erhielt ich 1980/81 in der Afghan Refugee Operation von UNHCR, wo die rohen Sitten der Pathanen auch mich erschreckten. Umso mehr war ich irritiert, dass HCR, damals hauptsächlich von den USA finanziert, so manche Regel missachtete, die offiziell für den Umgang mit Flüchtlingen galt: Die Pathanen wurden weder entwaffnet noch individuell gezählt, auch nicht 50 km von der Grenze entfernt angesiedelt. So wurde die Refugee Operation als Troyanisches Pferd im Kalten Krieg gegen die UdSSR genutzt und die massiv inflationierten Zahlen dienten den traditionalen Pathanen u.a. dazu, sich mit Waffen auszurüsten. Weil abzusehen war, dass das in ein menschlichen Desaster führen würde, empfahl ich damals meinen Schweizer Vorgesetzten, jede direkte Unterstützung der Flüchtlinge aus Afghanistan einzustellen – nicht ohne Erfolg.

Trotzdem lernte ich auf meinen langen Reisen durch die Stammesregionen das Volk der Pathanen, seine Menschen und ihre Kultur, kennen und allmählich zu verstehen: Weil jenseits von Brücken und weit ab von geteerten Strassen, Spitälern, Aerzten jeder Blinddarm ein Todesurteil ist, wurden mir die harschen Lebensbedingungen bewusst, unter denen hier die grosse Bevölkerungsmehrheit zu leben hat; weil ich, meilenweit entfernt von jeder staatlichen Schutz- und Sicherheitshoheit, gezwungen war, einen Mann mit Gewehr in meinem UN-Auto mitzuführen – einen pathanischen Stammesangehörigen, der mir seinen persönlichen Schutz gewährte – begriff ich, weshalb die Frauen dort im Aussenraum zu gehorchen haben; und weil ich während meinen Reisen und Recherchen mit den Pathanen viel gestritten habe, wurde mir ihr Blick auf sich selbst und den Westen vertraut. Schliesslich wuchsen in mir jener Respekt und jene Wertschätzung, die diesen traditional enkulturierten Menschen in ihrem harten Existenzkampf gebühren.

Ich will im Folgenden fünf konfliktive Aspekte zwischen traditionaler und moderner Lebensweise darlegen: Erstens begründe ich, warum der Westen die Taliban – und mit ihnen andere Fundamentalisten – nicht verstehen kann; zweitens zeige ich auf, welcher Art der Bruch ist, der derzeit die Welt entzweit; drittens illustriere ich am Beispiel der Pathanen, wie das Leben für jene aussieht, die ausserhalb der Geld- und Weltwirtschaft zu überleben haben; viertens lege ich dar, wie der Westen mit strukturblindem Moralisieren den Menschen, die mit vormodernen Regeln überleben, ständig schwerste Kränkungen beifügt; zu guter Letzt schlage ich vor, wie der Westen aus seiner struktur- und kulturblinden Arroganz und der laufenden Abwertung von traditionalen Kulturen herausfinden kann. Denn der Boden, auf dem die heillose Eskalation des Konflikts gestoppt werden kann, ist gegenseitiger Respekt – etwas, das mich, wie wir noch sehen werden, die Pathanen gelehrt haben.

1. Im Global Village sind wir kultur- und strukturblind geworden!

Diese Kulturblindheit äussert sich auf zwei Arten: Zum einen übersieht jener Teil der Menschheit, der in Nord und Süd in die Geld- und Erwerbswirtschaft integriert ist, dass die Menschen und Gesellschaften an den globalen Rändern ihren zunehmend harten Ueberlebenskampf nur Dank rigorosen Kulturvorschriften bestehen. Zum andern sind wir strukturverwöhnten Zentrumsbewohner auch blind für die Voraussetzungen und Verbindlichkeiten unserer eigenen Kultur. So ist Kultur in Zentren des Kapitals längst zur Ware bzw. zum Erwerbszweig geworden. In der Schweiz machen die sog. Kulturschaffenden Kultur – von Adolf Muschg über Paul Klee und Beethoven und inzwischen hin bis zu Konsalik, Grafitikünstlern oder den Toten Hosen. Die rasch wachsende Vielfalt an käuflichen Kulturprodukte lässt uns übersehen, das ein derartiges Kulturverständnis nur in der durchmonetarisierten Gesellschaft wachsen kann. Denn Geld erst macht frei im westlichen Sinn – ist der Boden sowohl für die beliebigen Formen der Kunst als auch für die eng vorgeschriebenen Formen professioneller Spezialisierung. Und es ist just diese enge Spezialisierung, die dazu führt dazu, dass auch die Wissenschaft mit Blick auf Kultur derzeit wenig klärt. Denn soweit die Soziologie Kultur als “die kollektiv vermittelten Codes definiert”, kann sie Wichtiges nicht von Unwichtigem unterscheiden. Und wo die postmoderne Ethnologie Kultur auf Identität oder Sprachfähigkeit reduziert, macht sie sich wiederum blind für die Ueberlebenszwänge vor Ort. So haben Ueberfluss und Spezialisierung bei uns – Menschen, Politik, Medien, Wissenschaft – kulturblind gemacht: Blind dafür, dass in allen Gesellschaften, auch in der unsrigen, bestimmte Werte, Fähigkeiten, Fertigkeiten in Form von Verhaltens- und Rechtsnormen verbindlich sind. Gleichzeitig sind wir im Konsumparadies strukturblind geworden! Blind für die wirtschaftlichen und moralischen Voraussetzungen unseres Wohlfahrtsstaats mit seinen individualistischen Existenzmodellen, schöpfen wir fraglos Energie, Nahrungsmittel, medizinische Versorgung, Renten aus der globalen Geld- und Erwerbswirtschaft. Wir übersehen dabei, auf welchem Trick unser Wohlfahrtsstaat basiert: Die westlichen Verfassungsgemeinschaften haben zur Zeit der bürgerlichen Revolutionen die Produktion privatisiert und globalisiert, während sie die restlichen drei Kernaufgaben als Staatsaufgabe definierten und damit exklusiv aufs nationale Territorium beschränkten. So gründet unser Wohlfahrtsstaat zwar nicht nur, jedoch wesentlich in dieser Aufspaltung der Kernaufgaben. Denn einmal etabliert, erlaubt das wachsende Produktivitäts- und Infrastrukturgefälle laufend Energie, Erwerbsarbeit, Kaufkraft, Intelligenz etc. zu Gunsten der Wohlfahrt jener zu konzentrieren, die bereits in die Weltwirtschaft integriert sind.

Und erneut stinkt es zum Himmel, das alt-neue Uebel der Menschheit: Wie in den finstersten Zeiten des Kolonialismus breitet sich ein Ethnozentrismus aus, der fremde Menschen und ihre Kulturen als “Hinterwäldler” behandelt, als “unzivilisiert” verlacht, als “unmenschlich” abwertet, als “blutrünstig” verschreit. Damit sich dieser elende Gestank möglichst rasch verflüchtigen kann, will ich zunächst die Kluft in der derzeit so ungleichen Welt ausschildern.

2. Draussen vor der Tür – der Weltwirtschaft!

Die Kluft, die derzeit die Welt durchzieht, verläuft längst nicht mehr zwischen Industrie- und Entwicklungsländern, sondern reisst meist innerhalb armen Nationen auf. Man kann diesen Graben als Kulturkonflikt bezeichnen, wenn auch nicht so wie ihn Huntington in seinem Clash of Civilizations (vgl. Abb.1) konstruiert. Denn weder Hochkulturen noch Religionen “an sich” geraten in Konflikt, sondern die durchmonetarisierten Gesellschaften, die sich in den Zentren des Kapitals herausgebildet haben, führen seit einigen Dekaden einen moralischen Kreuzzug gegen jene Verbände, die von der Weltwirtschaft ausgesperrt sind. Dabei ist der Konflikt zwischen moderner und traditionaler bzw. re-traditionalisierter Kernkultur weder religiös noch ethnisch, sondern sozioökonomisch begründet. Es sind die unverstandenen Strukturdisparitäten, die zum Clash führen, der die Welt derzeit in Atem hält.

Was aber ist Kernkultur?

Weil Menschen nicht Instinkt-geleitet sind, stellen Gesellschaften allerorts und seit eh und je über Kultur die Voraussetzungen dafür sicher, dass ihre Mitglieder u.a. die folgenden vier Kernaufgaben gemeinsam und mehr oder weniger verlässlich erfüllen können: Produktion und Kooperation, Schutz und Sicherheit, Verteilung und Solidarität sowie Erziehung und Ausbildung. Mit Kernkultur bezeichne ich also nur jenen Teil der kulturellen Codes, der unverzichtbar ist für die kollektive Erfüllung der vier Kernaufgaben. M. a. W.: Kernkultur umfasst jene Werte, Fertigkeiten, Fähigkeiten, die verbindlich sind und die deshalb über Regeln rechtlicher oder moralischer Art – und im Westen zudem zunehmend über Geld – sichergestellt werden.

Und wie zeigt sich die erwähnte Kluft?

Sie lässt sich am deutlichsten an den kontextspezifischen Rollenvorstellungen aufzeigen: Kernkultur formiert allerorts eindeutige und verbindliche Kernrollen, die, weil sie für die Erfüllung der Kernaufgaben bzw. für die Bedürfnisbefriedigung von Kollektiv und Individuum unverzichtbar sind, verrechtlicht und moralisiert werden.

Weil Kernrollen die sozioökomischen Strukturbedingungen gebunden sind, ja die Sozialstruktur recht eigentlich generieren, gleichzeitig aber unmittelbar von der Position einer Gesellschaft in der Weltwirtschaft abhängen, sind Kernrollen bzw. ist die sie betreffende Sozialstruktur in den Zentren des Kapital und ausserhalb der Weltwirtschaft derzeit höchst unterschiedlich konstruiert. Und weil diese unterschiedlichen Kernrollenvorstellungen hüben und drüben verrechtlicht und moralisiert sind, geraten sie in heftigen Konflikt.

Denn in den Zentren der Weltwirtschaft sind die Kernrollen um die Erwerbsarbeit organisiert. Denn damit hier der Wohlfahrtsstaat etabliert und erhalten werden kann, ist Erwerbsarbeit für eine Mehrheit obligatorisch. Weil das Kapital dafür sorgt, dass die Erwerbsarbeit effizient und effektiv erfolgt, wurde zuerst die Produktion auf der Basis von hochspezialisierten Berufsrollen organisiert. Inzwischen können die westlichen Wohlfahrtsstaaten jedoch Dank ausreichender Lohn- und Steuerabgaben auch die restlichen drei Kernaufgaben als Erwerbs- und Berufsarbeit organisieren: Erstens führen Juristen und Polizistinnen die Ordnungs-, Schutz-, Sicherheitsaufgaben aus, zweitens nehmen Krankenschwestern und Sozialarbeiter überfamiliale Solidaraufträge an Kranken und Randständigen wahr, drittens sind Kindergärtnerinnen, Lehrer, Professorinnen für Erziehung, Bildung, Ausbildung zuständig. So macht die nationalstaatliche Umverteilungskapazität in der Schweiz alle, vom Beamten und Strassenkehrer über die Hausfrau bis hin zum Invaliden und Fürsorgeabhängigen, zu Stakeholdern des längst global operierenden Kapitals. Doch ein Blick in die eigene Geschichte zeigt: Erst nachdem Krankenkassen, Alters- und Invalidenversicherung, Witwenrenten, Arbeitslosengelder, das Recht auf staatliche Fürsorge in Form des Wohlfahrtsstaat etabliert waren, wurden die Verwandtschaftsrollen verzichtbar, die Geschlechterrollen beliebig, die Generationenrollen diffus. Im Kontrast dazu sind hingegen die Erwerbs- und Berufsrollen weitgehend und zunehmend verrechtlicht und entsprechend an ein verbindliches Arbeits- und Berufsethos gebunden, das, sollte es fehlen, eingeklagt werden kann. Weil die Ober- und Mittelschichten in Entwicklungsländern inzwischen ebenfalls an den Erträgen aus weltweiter Oekonomie und Spitzenproduktivität teilhaben – auch sie verfügen über formelle Erwerbsmöglichkeiten, geniessen staatlich garantierte Schutz- und Sicherheitsdispositive, haben Zugang zu modernen Solidarnetzen und Ausbildungsinsitutionen – , sind auch sie fraglos an moderner Kernkultur orientiert.

Aus eben diesem Grund baut sich aber derzeit weltweit eine gewaltige und rasch wachsende Verständigungsbarriere auf: Die internationale Gemeinschaft jener, die entweder umfassend, weil nationalterritorial, oder als Inseln in die Weltwirtschaft integriert sind, verfällt in ihrer Strukturverwöhung in einen blinden Ethnozentrismus, der sich letztlich gegen die Armen an den globalen Rändern richtet. Denn weil moderne Rechtsvorstellungen und Moral in einer durchmonetarisierten Sozialstruktur wurzeln, drohen sie die traditionalen Organisationsformen, deren Sozialstruktur und Regelwerke vor Ort zu zerstören, ohne dass dort gleichzeitig die objektiven Voraussetzungen für eine effektive Modernisierung bereitgestellt würden – und das heisst: eine ausreichende Zahl an Erwerbsarbeitsplätzen, zunächst für Männer, dann aber auch für Frauen, samt staatlich garantierten Schutz- und Solidarsystemen, die die gesamte Bevölkerung einzuschliessen vermögen.

Derzeit ist die Bevölkerungsmehrheit in der Dritten Welt ausgeschlossen von den Segnungen, die das geldwirtschaftlich dominierte Welt- und Menschenverständnis bzw. die abendländischen Rechts- und Moralvorstellungen prägen. In der internen Peripherie von armen Ländern gibt es ganze Völker oder grosse Bevölkerungssegmente, die entweder im Hinterland primär Subsistenzwirtschaft betreiben oder die in den Slums der Städte mit nur sehr prekären monetären Einkommensmöglichkeiten sind. An den Erträgen der hochproduktiven Weltwirtschaft haben sie weder direkt teil, über Aktien oder Anstellung in der Privatwirtschaft, noch partizipieren sie indirekt daran, über innerstaatliche Umverteilung und staatliche Salarierung. Hier werden Solidar-, Schutz- und Sicherheitsaufgaben nach wie vor im direkten Tausch und über die traditional konstruierten Primärrollen sichergestellt. Deshalb konstituieren hier die traditionalen Generationen-, Geschlechter- und Verwandtschaftsrollen jene Kernrollen, die unverzichtbar sind, sollen die Grundbedürfnisse verlässlich erfüllt werden. Und wie bei uns die Erwerbs- und Berufsrollen sind hier entsprechend die traditionalen Kernrollen eindeutig und verbindlich formiert und für die jeweiligen RollenträgerInnen obligatorisch. Und jede dieser traditionalen Rollen ist, genau wie bei uns, verrechtlicht, wenn auch nicht im modernen geldwirtschaftlichen Sinn, und an ein entsprechendes Generationen-, Geschlechter- und Verwandtschaftsethos gebunden. Denn Anderes bedeutet am Rande der Weltwirtschaft Elend und Anomie! Im Folgenden will ich am Beispiel der Pathanen illustrieren, wie das Leben in einer traditional orientierten Ehre-Schande-Gesellschaft geregelt ist.

3. Leben im Ausserhalb – im Herz einer Ehre-Schande-Region

Reste von Ehre-Schande-Gesellschaften, wenn auch in unterschiedlicher Einfärbung und Intensität, finden sich im sog. Speichergürtel, der sich vom südlichen Mittelmeerraum bis hinüber nach Pakistan und Afghanistan erstreckt. Es gibt einen historisch-geographischen Grund, weshalb diese Regionen eine schwache oder nicht-akzeptierte Zentralinstanz und martialisch anmutetende Rechtsvorstellungen haben: Im Ehre-Schande-Gürtel waren sowohl die Ressourcen als auch die Früchte der Produktion stets hart umkämpft. Wo fruchtbarer Boden, Wasser, Menschen knapp und Vorräte zu verteidigen sind, werden meist Schutz- und Sicherheitsaufgaben dominant. Weil diese historisch stets den Männern zugeordnet und in kargen spärlich besiedelten Region häufig abgerufen wurden, sind die Menschen hier in patrizentrierten Verwandtschaftsverbänden organisiert. Und es sind diese Männerverbände, die bis heute den Hort des Widerstands gegen den modernen Staat und seine Zentralisierungsansprüche bilden. Deshalb ist es auch kaum unmöglich, Zivilisten und Soldaten säuberlich auseinanderzuhalten. Denn die Männer sind als soziale Kategorie dazu verpflichtet, Rechts-, Schutz- und Sicherheitsfunktionen wahrzunehmen, die Frauenrollen sind komplementär dazu formiert (Abb. 2).

Abb.2: KULTURSPEZIFISCHE KERNROLLEN UND MORAL
EHRE-SCHANDE-GESELLSCHAFTEN MODERNE GESELLSCHAFTEN
SCHUTZ UND SICHERHEIT
Gewaltmonopol der Männer Gewaltmonopol des Staates
innerhalb der Verwandtschaft: innerhalb einer Nation:
Verwandtschaftsloyalität Staatsloyalität
Heldenhafte Männer; geschlechtsneutrales Berufsethos
züchtige Frauen. geschlechtsneutraler Affekthaushalt
PRODUKTION
komplementäre Geschlechterrollen mit geschlechtsneutrale Erwerbsrollen
spezifischem Frauen- & Männerethos mit spezifischem Berufsethos
ein Ethos der sozialen Pflichten & verrechtlichten Reziprozitäten
SOLIDARITÄT UND VERTEILUNG
verwandtschaftliche Solidarität nationalterritoriale Solidarität mit
Verwandtschaftsethos: Arbeits- und Berufsethos
Blood ist thicker than water! abstrakter Generationenvertrag
Generationenethos: BürgerInnenethos zu Abgabepflicht,
Du sollst Vater und Mutter ehren! & zulässigem Solidarnetzgebrauch
ein Ethos der sozialen Pflichten ein Ethos der individuellen Rechte
ERZIEHUNGS- UND AUSBILDUNG
Orientierung an weiblichen geschlechtsneutrale Orientierung
und männlichen Tugenden an Intelligenz, Geschlecht & Alter
Betonung der sozialen Pflichten Betonung der individuellen Rechte
& der Interdependenz & der individuellen Schulleistung
Erziehung zu komplementärem Erziehung zum Gleichstellungsethos
Gender- & Generationenethos in Bezug auf das Geschlecht
Betonung der Interdependenz Betonung der Autonomie

Folgende Merkmale zeichnen denn auch das Geschlechterverhältnis bei den Pathanen aus:

  1. Geschlechterpolarisierung: Es herrscht eine eindeutige, komplementäre, stark betonte und rigide Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau.
  2. Geschlechterasymmetrie: Männer und Männerrollen werden als wichtiger erachtet und höher bewertet als Frauen und ihre Rollen.
  3. Geschlechterhierarchie: Zumindest im Aussenraum haben Männer die Befehlsgewalt, während Frauen zu gehorchen haben.

Nota bene sind auch die modernen Kernrollen nach den oben erwähnten drei Prinzipien organisiert: Denn bei uns machen sich Polarisierung, asymmetrische Bewertung und Hierarchie an den Erwerbs- und Berufsrollen fest, während die Geschlechterrollen beliebig und die Menschen darin “im Prinzip” einander gleichgestellt werden. Doch niemand zweifelt hierzulande daran, dass der Direktor zu befehlen, der Hilfsarbeiter zu gehorchen hat, und wenige stört es, wenn ersterer nicht nur ein grösseres Ansehen geniesst, sondern am Ende des Monats ein höheres Gehalt einstreicht.

Weil wir die sozial akzeptierten Prinzipien unserer eigenen Kernrollenorganisation ausblenden, übersehen wir, dass Geschlechterasymmetrie und Geschlechterhierarchie i. d. R. von nicht-geldwirtschaftlich verorteten und vormodern organisierten Männern und Frauen gleichermassen akzeptiert, durchgesetzt und über die Geschlechterpolarisierung überhöht werden. Doch genau so wie der beruflichen Spezialisierung eine effizienz- und effektivitätssteigerne Potenz innewohnt, ist die geschlechtsspezifische Aufgabenteilung für ein Leben ausserhalb der Weltwirtschaft ein rationales Kalkül, bei dem die Individuen zwar einiges zu verlieren, aber i. d. R. weit mehr zu gewinnen haben.

Wie sehr die Schutz- und Sicherheitsaufgaben in diesen Regionen unverzichtbar waren und es teils immer noch sind, zeigen die institutionalisierten Möglichkeiten zu Geschlechterrollenwechsel an. Aus dem gebirgigen Balkangebiet in und um Albanien sowie aus dem Südirak wird die Institution der Eidgebundenen Jungfrauen dokumentiert: Wenn in einer Familie der Mann fehlte oder ausfiel, konnten Frauen offiziell in Männerrollen steigen, d.h. Männerkleidung tragen, Männerarbeit leisten, mit Waffen umgehen – kurz: Sie konnten das Leben eines Mannes führen, wurden wie ein Mann geehrt, mussten allerdings dabei zölibatär bleiben. Auch ich bin in einem Dorf an der afghanischen Grenzregion auf eine waffentragende Frau gestossen, die unverschleiert den Männerverband stolz um einen Kopf überragte. “Yes, this may happen amongst us!” erklärte mir der mitreisende Pathane lakonisch. Wenn Frauen in Männerrollen Respekt und Ehre geniessen, wie sie sonst exklusiv für Männer gelten, dann weil nicht das Geschlecht “an sich” geehrt wird, sondern die Person, welche die gefährliche Rolle des Schützens übernimmt. Bereits die scharfsinnige Simone de Beauvoir hat dazu bemerkt: “For it is not in giving life but in risking life that man raised above the animal; that is why superiority has been accorded in humanity not to the sex that brings forth life but to that which kills.”

Wo aber die Kernaufgaben bzw. die Kernrollen vormodern, also nicht auf der Basis von Erwerbsarbeit, sondern über Primärrollen und im direkten Tausch organisiert sind, wird mühsame Pflichterfüllung nicht mit Geld, sondern mit “Ehre” und “Ansehen” entgolten, Pflichtvergessenheit hingegen mit Schande und Ausstossung bestraft. Weder mit Geld entlöhnt noch durch modernes Recht formalisiert, werden die Kernrollen hier über traditionale Rechtsnormen und religiöse Moralvorstellungen stabilisiert und das heisst: mit symbolischer Gratifikation “entlöhnt” oder mit drastischer Strafe sanktioniert.

Auch im Volk der Pathanen sind Ordnung und Zusammenleben an den zwei elementaren Prinzipien von Ehre und Schande orientiert: Ehre und Respekt gebührt Personen, die ihre Rolle erfüllen. Das öffentliche Scheitern eines Individuums wird hingegen mit Schande, u. U. mit Verstossung oder Tötung sanktioniert. Ehre und Schande kommen aber sowohl den Männern als auch den Frauen zu. Denn beide Geschlechter werden über soziale Kontrolle an ihre geschlechtsspezifisch konzipierten Pflichten gebunden. Gleichzeitig werden die komplementär konstruierten Genderrollen moralisiert und von Männern und von Frauen narzisstisch besetzt. So sind Stolz und Scham die tiefenpsychologischen Korrelate von Ehre und Schande – und zwar in einem weit aus stärkeren Mass, als das für moderne Gesellschaften gilt, wo den Individuen eine Würde zugesprochen wird, die unabhängig von ihren Leistungen und ihrem konformen bzw. dissidenten Verhalten ist, ……. allerdings auch nur, weil und so lange bei uns Professionelle regelmässig und verlässlich Geld damit verdienen! Für die Pathanen gilt die folgende Moral:

  1. Blood is thicker than water! Weil Sicherheits- und Solidaraufgaben nicht wie bei uns vom Staat nationalterritorial, sondern verwandtschaftlich organisiert sind, ist dort die Verwandtschaft, neuerdings auch der traditionale Islam, das funktionale Aequivalent für unser traditionelles Bürgerrecht bzw. neuerdings für das sog. Grundrecht, das für alle in der Schweiz Ansässigen gilt.
  2. Du sollst Vater und Mutter ehren! Kinder sind ihren Eltern lebenslang zu Pietät und Gehorsam verpflichtet: Arranged Marriage, auch sie gilt für Knaben und für Mädchen, ist eine zentrale Institution im Generationenvertrag, der die wirtschaftliche, soziale, politische Sicherheit im Sozialverband sicherstellt – alles Funktionen, die bei uns dem Staat obliegen, so lange dieser zahlungsfähig bleibt.
  3. Heldenhafte Männer, züchtige Frauen! Produktions- und Erziehungsaufgaben sind über komplementäre Geschlechterrollen und entsprechende Moral organisiert. Auch die erfüllten Pflichten der Frau werden mit Ehre honoriert, wobei hier allerdings nicht der Ehefrau, sondern der Mutter die grösste Wertschätzung gebührt.

Weil in diesem prekären Kontext die Schutz- und Solidaraufgaben das Rückgrat der Gesellschaft sind, werden die Männer zu einem gedoppelten Ideal erzogen: Jeder Pathane muss sowohl ein Nangialai als auch ein Turialai sein! Als edler Nangialai hilft er Schwachen und hat deshalb Frauen und Kinder genau so heldenhaft zu schützen wie die Musiker und Barbiere im Dorf, die ebenfallls keine Waffen tragen. Als wackerer Turialai weiss der Pathane hingegen so mit seiner Waffe umzugehen, dass er Frauen, Familie, Boden, Ehre erfolgreich verteidigen kann. Frauen sind reziprok zu Anstand und Gehorsam angehalten, weil sie keine Konflikte vom Zaune reissen sollen, in denen die Männer unnötig ihr Leben lassen müssen – einer der Gründe dafür, dass bei den Pathanen strenge Sexualtabus für beide Geschlechter gelten. Unzucht und Ehebruch ausgenommen, sind Frauen aber stets schützenswerte Personen. Die Solidaraufgaben sind ebenso rigoros geregelt: Absolute Solidarität ist mit dem Personen aus dem Verwandtschafts- und teils auch aus dem Dorfverband vorgeschrieben. Es gilt nicht nur ein Heiliges Gastrecht, sondern ebenso bedeutsam ist hier das Asylrecht: Wer immer bei einem Khan Zuflucht sucht, muss von diesem mit Leib und Leben beschützt werden, will der Khan Gesicht und Ehre nicht verlieren.

Weil in dieser Region auch Polizisten und moderne Richter fehlten, gründet das Rechtssystem der Pathanen bis heute auf direktem Tausch: Auge um Auge, Zahn um Zahn! gilt für alle Belange, in denen der Gesellschaftsvertrag gebrochen wird. Das Stammesrecht, das sog. Pashtunwali, legt fest, wer unter welchen Umständen freizusprechen, zu schonen, zu büssen oder zu töten ist. Jeder Normbruch ist “terai” und wird unabhängig vom Tätermotiv geahndet – eine Regelung, die es nota bene gestattet hat, Recht flächenhaft, einheitlich und ohne Ansehen der Person – und in diesem Sinne: gerecht! – anzuwenden. So hat bis zum Kriegseinbruch eine antiplutokratische Ordnung einer Region gestattet, bislang weitgehend ohne das Gewaltmonopol des Staates, ohne modernes Recht und seine gebildeten, aber bezahlten Spezialisten auszukommen. Das Pashtunwali ist jedoch keineswegs despotisch, sondern umfasst die “shura”, den Aeltestenrat, die “melmastia”, das Recht auf Gastfreundschaft, das sogar Asyl einschliesst. Und just weil das Asylrecht und das Non-Refoulement-Prinzip auch bei den Pathanen gelten und strikt an die Ehre gebunden sind, wird bin Laden nicht einfach ausgeliefert. In der “jirga” werden angesehene Männer, Geistliche und Aelteste, dazu mandatiert, einen Konflikt zu schlichten; formelle Bittgänge und eigentliche Bittprozessionen sorgten dafür, dass Frieden geschlossen und ein Schiedspruch anerkannt wurde. Auch für Frauen bestanden institutionalisierte Mittel und Wege, einen Streit zu schlichten: Im manchen Stämmen konnten sie einen Krieg unterbrechen, wenn sie mit dem Koran auf dem Kopf zwischen die Kämpfenden traten. Frauen vermochten aber durchaus auch einen Krieg zu entfesseln, in dem sie die Männer mit Handtrommeln und offenem Haar zum Kämpfen drängten.

Die traditionale Blutbuchhaltung mit ihren eingeschliffenen Konfliktregelungs- und Schlichtungsinstitutionen ist jedoch im Krieg völlig aus der Balance geraten: Die Pathanen wurden von allen Seiten, sowohl von der USA als auch von Saudiarabien und Pakistan, mit modernen Waffen beliefert. Und so driftet nun dieses traditional orientierte Volk mit seiner auf prekäre Lebensumstände abgestimmten Kultur in den Abgrund. Denn in einer Region, die nie eine verlässliche Polizei und inzwischen überhaupt keine staatlichen Strukturen mehr hat, sind die sogenannten Tugendwächter nicht viel mehr als ein Versuch, wenigstens einige der missliebigsten Folgen des 20jährigen Krieges abzuwenden: Vor der Machtübernahme durch die Taliban wurde das Land von brandschatzenden und raubenden Horden versehrt, die alles und jeden überfielen, sei’s das von Hunger und Not, sei das von puren Bereicherungsmotiven getrieben. Die Taliban sind deshalb eine rezente und nota bene insofern moderne Institution, als sie sich über das traditionale Recht und den Stammes- und Verwandtschaftsverband hinaus organisieren und- basiert auf ein überfamiliales Orientierungssystem in Form des Islams – wieder ein wenig Ruhe und Ordnung im kriegsversehrten und kriegsverluderten Aussenraum herzustellen versuchen.

4. Weg vom Moralisieren – zurück zur Moral!

Moralisieren bezeichne eine Moral, welche die sozioökonomischen Bedingungen nicht berücksichtigt, auf die eine Gesellschaft für die Organisation der vier Kernaufgaben zurückgreifen kann. Und just weil in den Kapitalzentren Struktur- und Kulturblindheit grassieren, verfällt der Westen in unethisches Moralisieren. Denn eine Ethik, die ihren Namen verdient, setzt sich mit den kollektiven Werten und Regeln, d.h. mit der Moral von Menschen und Sozialverbänden, in einer Weise auseinander, welche sowohl die Sozialstruktur als auch die verfügbaren Ressourcen berücksichtigt, auf die in einem konkreten Kontext zurückgegriffen werden kann – beides hängt derzeit primär von der Position eines Sozialverbandes in der Weltwirtschaft ab.

Ich will kurz auf die sozioökonomischen Verhältnisse in Afghanistan hinwiesen, um nachher mit Beispielen zu illustrieren, was das fürs Leben am Rande konkret heisst:
Afghanistan gehörte bereits vor Ausbruch des Krieges zu den ärmsten Staaten der Welt; inzwischen ist es derart zerschunden, dass keine Daten mehr erhältlich sind. Zwar existieren für die Pathanen, die ca. 40% der afghanischen Bevölkerung ausmachen, keine separaten Zahlen, doch gilt für sie in etwa, was für ganz Afghanistan: Der moderne Staat existierte bislang nur formell und das heisst: in wenigen Städten. Für die grosse Bevölkerungsmehrheit gab und gibt es bis heute keinen modernen Staat. Vor 20 Jahren waren noch weit über 90% der Bevölkerung Analphabeten; inzwischen soll der Prozentsatz auf 70% (?) gesunken sein. Bis 1980 lebten 80% der Bevölkerung auf dem Land; 70% der Gesamtbevölkerung hatten ihren Lebensunterhalt in der Landwirtschaft. Ueber die Erwerbstätigkeit fehlen Angaben.
So ist denn auch der Hauptgrund dafür, dass sich traditionale Loyalitäten und Vorstellungen in Afghanistan bis heute erhalten konnten, nicht religiöser, sondern struktureller Art. Wie in so vielen Papierstaaten, die aus dem Kolonialzeitalter hervorgingen, fehlten auch in Afghanistan schlicht die Mittel, die Kernaufgaben auf der Basis von formeller Lohn- und Erwerbsarbeit zu regeln und sich auf diese Weise moderne – loyale und zufriedene – Bürgerinnen und Bürger zu schaffen. Und wie an vielen Orten der arabischen Welt springt auch in Afghanistan der Islam in die Lücke und übernimmt Funktionen, die anderswo vom Staat mit dem Geld aus der Weltwirtschaft modern geregelt werden: Schutz und Sicherheit werden teils nach traditionalem Recht, teils auf der Basis der Sharia geregelt; überfamiliale Solidarität und “Bildung” obliegen hingegen zunehmend dem Islam.

Abb. 3. RAHMENBEDINGUNGEN VON TRADITIONALER & MODERNER GESELLSCHAFT
Der Stand der Technologie und die verfügbaren Ressourcen bilden den kontextspezifischen, aber ungleichen Rahmen, in den die Kernkulturen weltweit gestellt sind.
  Vormoderne Gesellschaften: Moderne Gesellschaften:
Technologie: Vorkapitalistisch

  • Pflug
  • Muskelkraft
  • von Tier und Mensch
Kapitalintensiv

  • Maschine
  • Erdöl
  • Pille
Ressourcen lokal verfügbar global abgeschöpft
Sozialstruktur: Geschlecht
Alter
Verwandtschaft
Verhältnis Lohn- &
Erwerbsarbeit zu
unbezahlter Arbeit
Kernrollen: Primärrollen Erwerbsrollen
Steuergrössen: Direkter Tausch von
Gebrauchswerten
Gegenseitigkeit
Geschlechter-
& Generationenhierarchie
Geld!
Tausch von Tauschwerten
Ungleicher Tausch
Einkommens-, Beschäftigungs-
& Berufshierarchie
Recht: Traditionales Recht

  • Religion
  • Sitten
Formelles verschriftliches Recht

  • Bussen
  • Gefängnisse
Moral Ehre & Schande

  • Familienethos
  • Geschlechterethos
  • Generationenethos
Lohnanreize

  • Prestige
  • Arbeitsethos
  • Berufsethos
Ideologie Kollektivismus Individualismus

Ich will an einem konkreten Beispiel aufzeigen, wie sehr die moralischen Vorhaltungen des Westens an der Realität vorbeizielen: In Kabul, der Hauptstadt, soll die Arbeitslosigkeit 90% betragen, auf dem Land ist entlöhnte Arbeit noch seltener zu haben. Und da schimpfen unsere Hilfswerke und Feministinnen, weil die Erwerbsarbeit für Frauen verboten wurde. Der Zweifel sei erlaubt, ob Schweizer Männer in solchem Fall vornehm zurücktreten würden, um fortan die Kinder zu hüten und den Frauen den Vortritt in die Geldwirtschaft zu lassen. Zumindest historisch taten sie das nicht! Den Taliban wird vorgeworfen, sie liessen Frauen in den Strassen betteln oder gar verhungern. Dabei haben sie dieses Problem längst erkannt, denn inzwischen sollen in diesem kriegsversehrten Land ca. ein Drittel der Frauen Witwen sein. Doch weil die Gottesstreiter weder Fürsorgegelder noch Witwenrenten aus Steuer- und Lohnabgaben zur Verfügung haben, versuchen sie, das Problem traditional zu lösen: Sie greifen aufs Levirat zurück – ein Mann ist verpflichtet, für die Frau seines verstorbenen Bruders und dessen Kinder aufzukommen! Doch damit geraten die Taliban vom Regen in die Traufe, denn das verstösst gegen das Menschenrecht! Die Fans westlicher Lebensart und moderner Rechte übersehen, dass bei uns ledige Mütter, geschiedene Frauen, Witwen fraglos von Mitteln leben, die der Staat aus der Erwerbsarbeit der vielen schöpft und die aus den globalisierten produktiven Sektoren kommen.

Die westliche Moral wird deshalb am anderen Ende der Welt als Double Bind erlebt: Denn die Anstellung von ein paar wenigen hundert Frauen durch eine Handvoll westlicher Hilfswerke in Kabul kann zwar das soziale Problem von einzelnen Frauen lösen – doch kaum ein Promill der bedürftigen Frauen wird dadurch verlässlich genährt. Ganz und gar nicht gelöst wird auf diese Weise das Problem der vielen! Im Gegenteil: Die westlichen Rechts- und Moralvorstellungen setzen die durchmonetarisierte Gesellschaft voraussetzt (Abb.3) und führen dazu, dass sich allerorts Familienverantwortung und familistische Moral auflösen….. und zwingen dann viele Frauen – mangels Alternativen – in die Prostitution!

Blind für die realen gesellschaftlichen Verhältnisse am Rande der Welt rückt der Westen derzeit zu einem gefährlichen Kreuzzug aus: Er moralisiert mit “seinen Menschenrechten” arrogant an den Menschen vorbei, die gezwungen sind, ausserhalb der Geldwirtschaft zu leben, und er wertet vormoderne Sozialorganisation blind als hinterwäldlerisch oder fundamentalistisch ab, auch wenn das vor Ort oft die einzige realistische Möglichkeit ist, die sozialen Probleme der vielen effektiv zu lösen.

Zu unserer Entschuldigung ist zu sagen, dass es ausserordentlich schwierig ist, als modern enkulturierter und strukturverwöhnter Mensch die traditionale Gesellschaftsordnung und die Taliban einzufühlen bzw. zu verstehen. Ich will deshalb einige Implikationen dieser Armut an Exempeln aufzeigen, die mich bei meinen damaligen Auseinandersetzungen so sehr irritiert haben. Denn auch ich habe mit den Pathanen über die Hinrichtung von Verbrechern, über Arranged Marriage, die Bildungsdefizite, insbesondere der Mädchen, gestritten. Denn das alles sind keine Erfindungen der Taliban, sondern Elemente der tradtitionalen Moral, Rechts- und Ordnungsvorstellungen der Pathanen.

Vehement habe ich dagegen protestiert, als sie einen Mörder kurzerhand hinrichteten. Doch wie irritiert war ich, als sie zurückfragten: “Was sollen wir denn anderes tun? Wir können kaum unsere eigenen Familien ernähren, und Du erwartest von uns, dass wir nicht nur einen Gefangenen, sondern auch noch einen Wärter mit unserer Hände Arbeit durchbringen?” Beschämt erinnerte ich mich, dass bei uns ein Gefangener pro Tag zwischen SFr. 360.- und 500.- kostet, je nachdem, ob er bereits in der Vollzugsstrafanstalt oder noch im Untersuchungsgefängnis sitzt. Trotzdem argumentierte ich weiter und führte ins Feld, dass mit dieser drastischen Strafe ein Unschuldiger getroffen werden könnte. Ihre Reaktion: “Wir töten nur, wenn es dafür redliche und verlässliche Zeugen gibt!” Und sie stellten mir eine peinliche Frage: “Und wenn Du mit Deinem Auto da herumfährst, riskierst Du nicht ebenfalls einen Unschuldigen zu töten?” Ihre irritierende Fragerei erst liess mich die Strukturverwöhnung gewahr werden, in der ich, obwohl Arm-Leute-Kind, in der Schweiz effektiv aufgewachsen war und die mich so blind für die Härtefälle der Anderen machte.

Auch Arranged Marriage und Kinderverheiratung waren ein Streitpunkt. “Romantische Liebe? das kennen auch wir!” versicherten mir die Pathanen: “Doch niemand von uns ist so dumm, etwas so wichtiges wie die Familie auf romantische Liebe zu gründen!” Und nun wollten sie von mir wissen, wie lange denn bei uns die romantische Liebe dauern würde: “Drei Monate oder drei Jahre?” Sie erklärten mir, dass bei ihnen die Familie alles in einem ist: Produktionsstätte, politischer Schutzverband, Solidareinheit, Ort der Erziehung. Und sie fügten hinzu: “Vielleicht lieben wir unsere Frauen nicht so, wie Ihr das im Westen tut, aber wir respektieren sie – eine weit solidere Basis für tragende Beziehungen und stabile Familien!” Diese Bemerkung und ihr Verhalten mir gegenüber brachten mir die Einsicht, dass Respekt eine unverzichtbare und verlässliche Basis für Beziehung ist – in der Ehe und im überfamilialen Bezug. Und einmal, als ich müde und verstaubt in eine ihrer Hütten im hintersten Hinterland ankam, erhielt ich dort reichlich zu essen und zu trinken. Der Chef selbst bediente mich und die andern Männer standen dazu um uns beide herum. Als sie realisierten, dass mir das peinlich war, klärten sie mich auf: “Schäme Dich nicht, wir stehen, um Dich zu ehren, und nur, so lange Du isst. Nachher werden auch wir uns setzen und erhalten zu essen.” “Nähren” heisst bei den Pathanen immer auch “ehren”! Denn während wir unsere Ernährung fraglos über Maschinen und Erdöl aus fernen Ländern sicherstellen, sind sie dazu weitgehend auf die prekären lokalen Ressourcen und die Muskelkraft von Tieren oder von Menschen angewiesen.

Die Pathanen wehrten sich mit Händen und Füssen gegen Ko-Edukation, waren aber bereit, für beide Geschlechter Koran-Schulen einzurichten. Sie forderten mich stets dazu auf, mit ihren Frauen zu sprechen, ermahnten mich aber auf meinem Weg in die Frauengemächer häufig dazu, ” ihnen keinen modernen Blödsinn” zu erzählen, der unzufrieden mache, ohne dass er im Hier und Jetzt auf die Füsse helfen kann.

Meine Dispute mit den Pathanen haben mich überzeugt:: Ein Urteil über Moral, das einer ethischen Beurteilung standhalten kann, nimmt Mass an den konkreten Lebensumständen der Betroffenen und stellt die verfügbaren Ressourcen in Rechnung, auf deren Basis die Menschen und ihre Gesellschaftsverbände vor Ort zu überleben haben. Alles andere ist Anmassung und läuft auf einen moralischen Imperialismus hinaus, der in die Katastrophe führt. Und zwar aus zwei Gründen: Erstens übernehmen Anomie und Gewalt das Szepter, wenn traditional-religiöse Wertvorstellungen zusammenbrechen, ohne dass die wirtschaftlichen Strukturbedingungen für eine moderne Organisation der Kernaufgaben gegeben sind. Und was passieren kann, wenn “leere” Modernisierung die traditionale Moral zum Einsturz bringt, das lehren uns die Ereignisse in Rwanda und Osttimor! Zweitens sind Menschen nirgends so empfindlich wie in Fragen der Moral. Erst recht dort, wo die Moral nicht auf moderne Weise verrechtlicht werden kann, weil dazu die Mittel für die Finanzierung sowohl von modernen Rechtsrollen als auch für ein effektives und flächendeckendes Bussensystem fehlen. Doch ob die Flagge des Islamismus oder die Fahne des westlichen Säkularismus hochgehalten wird: Der Krieg wird von beiden Seiten mit moralischer Begründung, aber auf mörderische Weise geführt! Warum, das will ich zum Schluss aufzeigen.

5. Wir brauchen dringend eine neue Aufklärung!

Moral ist zwar nötig, aber leider schrötig! Schrötig im mehrfachen Sinn: Erstens ist Moral transkulturell narzisstisch eingebunden. Denn Ueberich- und Ichidealbildung werden allerorts vom Anerkennungs- und Geltungsstreben der Heranwachsenden genährt: Das Ueberich, so nimmt die Tiefenpsychologie an, ist eher mit einschränkenden Regeln möbliert, die auf der Basis der ambivalenten Aussicht auf Belohnung und Bestrafung übernommen und internalisiert werden. Das Ichideal basiert demgegenüber auf positiven Identifizierungen mit gesellschaftlichen Vorbildern und wird von den kindlichen Grössenwünschen gespiesen, so grossartig, so schön, so stark, so mutig, so gut zu werden, wie der Vater, die Mutter, die Tante, der Onkel etc. Schrötig ist die Moral aber auch, weil in doppelter Weise aggressiv eingebunden: Einerseits durch die Forderung, die eigenen Entfaltungswünsche hintanzustellen, andrerseits weil die eigenen Grössenwünsche dann doch nie vollkommen zu erfüllen sind. Schrötig ist die Moral zu guter Letzt, weil sie sowohl herrschaftsgebunden als auch kulturspezifisch orientiert ist: So hilft Moral zwar zunächst die gesellschaftlich bedeutsamen Kernrollen zu stabilisieren, als herrschaftsgebundene Institution dient sie aber stets auch dazu, für die einen mehr Vorteile als für die andern zu etablieren. Trotzdem werden sowohl die traditionalen als auch die modernen Kernrollen nicht nur verrechtlicht und moralisiert, sondern von den Gesellschaftsmitgliedern hüben und drüben narzisstisch besetzt. Auch hier schleicht sich aggressive Ladung ein. Denn Kernrollen sind sowohl ans infantile als auch ans erwachsenes Geltungs- und Anerkennungsstreben der Gesellschaftsmitglieder gebunden: Von traditionalen Männern an ihre Männerrolle, von traditionalen Frauen an ihre Frauenrolle, von modernen Männern und Frauen an ihre Berufsrollen, die sie als Aerzte und Lehrerinnen, als Rechtsanwältinnen und Polizisten wahrnehmen.

Gegenseitiges Verständnis und Gespräch wäre möglich, wenn wir anerkennen: Die fremden Andern haben selten keine Moral, sondern sie haben meist nur eine andere Moral! Leider sind wir zu dieser Leistung, die für die interkulturelle Verständigung unverzichtbar ist, derzeit nicht im Stande – denn hüben und drüben macht nichts so blind, wie die narzisstisch besetzte, jedoch kulturspezifische Moral.

Immerhin vermag diese Art, die Moral zu konzeptualisieren, den jähen interkulturellen Konflikt zwischen der USA und dem Islamismus zu erhellen und zu erklären, weshalb die strengen und rigiden und just deshalb stets äusserst ethnozentrischen Moralisten von hüben und drüben sich am heftigsten in die Haare geraten: Im Westen – die USA, deren Präsident Bush bereits nach seinem Amtsantritt vor laufender Kamera gedroht hat, überall zuzuschlagen, wo immer auf der Welt amerikanische Interessen tangiert sind; im Osten – die Taliban, deren Tugendwächtern und Widerstandshelden auf der Basis von vergleichsweise ähnlichen Regeln und Besetzungen handeln. Nur – im ersten Fall ist es die moderne Moral, die mit ihren individualistischen und professionellen Daseinsentwürfen narzisstisch besetzt und aggressiv geladen ist. Im zweiten Fall bleibt der Narzissmus an der traditionalen Moral mit ihren verbindlichen Geschlechter-, Generationen- und Verwandtschaftsrollen verhaftet und wird von jenem Islamismus stolz und aggressiv gestützt, dem die bornierten sozialen Verhältnisse am Rande der Weltwirtschaft Pate stehen. Doch während moderne Moralvorstellungen in formelles Recht gegossen sind, bleiben traditionale auf religiöse Begründung angewiesen: So ist der Islam unter vormodernen sozioökonomischen Strukturbedingungen durchaus ein vernünftiges Recht! Die Reaktion des Westens auf den Angriff auf New York zeigt wiederum, wie sehr bei uns nach wie vor “Nation” und “Nationalgefühl” zur Mobilisierung des Zusammenschlusses dienen. Und wenn nun “die westliche Kultur”, derer sich das Global Village rühmt, zunehmend als Begründung fürs notwendige Zusammenrücken dienen muss, so entsteht die Gefahr, dass westliche Kultur zum selbstherrlichen Monument verkommt, das es blind und mit allen Mitteln zu verteidigen gilt. Denn Macht macht dumm!

Dem gegenüber kann eine bifokale, aber symmetrische Betrachtung von Moralen, die jeweils unterschiedliche Kernrollen stabilisieren, erkennen, warum es uns modern erzogenen Menschen so schwer fällt, die pathanische Gesellschaftsordnung und die Taliban zu verstehen: Denn der an die kulturspezifische Moral gebundene Narzissmus macht die Heftigkeit der gegenseitigen Reaktionen verständlich – wir haben es hüben und drüben mit Heldinnen und Helden zu tun, nur ist das Heldentum leider aus höchst unterschiedlichem Holz geschnitzt. Interkulturelle Moralkonflikte bringen für beide Seiten enorme Kränkungen und Verletzungen. Denn sie unterstellen dem jeweils Fremden ausgerechnet dort moralisches Versagen und weisen damit entsprechend Schuld- und Schamgefühle zu, wo dieser jeweils besonders stolz darauf ist, seine gesellschaftliche Pflicht tunlichst erfüllt und die entsprechende Moral sorgsam beachtet zu haben.

All diese unterschwelligen gegenseitigen Kränkungen schwingen auch seit Dekaden im Disput über die modernen Menschenrechte mit: Denn der Westen kann den Individuen nur deshalb individuelle und soziale Grundrechte ohne entsprechende Pflichten einräumen, weil diese über professionelle Erwerbsarbeit organisiert und wohlfahrtsstaatlich – und das heisst stets: primär aus der ungleichen Weltwirtschaft! – finanziert sind. Diese Feststellung kann keine Gewaltexzesse rechtfertigen! Doch halten sich die Taliban immerhin an die Sharia und sind in Sachen “Abmachungen” extrem verlässlich. Auch wenn ihre Regelungen uns martialisch vorkommen – sie verhindern die totale Anomie und z.B. Gewaltexzesse gegen Frauen und Kinder, wie sie in Burundi, Rwanda, Liberia oder Jugoslawien zu beobachten waren. Traditionales Recht ist, genauso wie das Recht der Islamisten, besser als gar kein Recht, weil es eine verlässliche und berechenbare Ordnung erlaubt, dabei allerdings – Gott sei Dank! – auf die Bedürfnisbefriedigung der Bevölkerungsmehrheit und nicht von einzelnen privilegierten Individuen zielt.

Ebenso wenig will ich damit staatliche Willkür legitimieren! Doch auch wenn die Taliban keinen modernen Staat repräsentieren, ist nicht zu übersehen, dass sie sich effektiv in Richtung Moderne bewegen: Denn indem sie sich über den Islam und nicht länger über die verwandtschaftlichen Clans definieren, finden sie zu einer grossräumigeren Organisation, Integrität und Identität. Gefährdet sind und bleiben deshalb dort wie hier die jeweiligen gesellschaftlichen Minoritäten.

Zu guter Letzt will ich mit meinen Ueberlegungen auch keineswegs gegen die modernen Menschenrechte einstehen. Aber ich suche eine Antwort auf die Frage, wie diese nicht länger arrogant gepredigt, sondern künftig effektiv anzustreben sind.

Für einen fruchtbaren Umgang mit den geschilderten Ungleichzeitigkeiten schlage ich deshalb dreierlei vor:

  1. Kurzfristig leitet sich ein Recht auf kulturelle Differenz aus den globalen Strukturdisparitäten ab: Kulturen sind soweit als gleichwertig zu behandeln, als ihre Werte, Normen, Fähigkeiten den Gesellschaftsmitgliedern die gemeinsame und verlässliche Erfüllung der Kernaufgaben erlauben. Völker und Bevölkerungssegmente, die derzeit von den Erträgen kapitalintensiver Produktivität ausgeschlossen sind, haben, jenseits von individualistischen Freiheiten und geldwirtschaftlich finanzierten Sozialrechten, so lange das Recht, auf verbindlich formierten Verwandtschafts-, Generationen- und Geschlechterrollen zu bestehen, als keine effiziente moderne Erwerbsstruktur vorhanden ist, auf der ein Staat effektiv nationalterritorial umverteilen kann.
  2. Sollen die Menschenrechte mittelfristig globalisiert werden, so sind die globalen Strukturdisparitäten auszugleichen. Um die Produktivität und den Energiekonsum, die Infrastrukturausstattung und das Erwerbsarbeitsvolumen von bezahlter und unbezahlter Arbeit zwischen und innerhalb der Länder und Familien effektiv auszugleichen, sind vorab der Westen und seine Weltwirtschaft gefordert. Dieser Ausgleich kann nur gelingen, wenn in Süd und Nord (!) nicht nur die Rechte, sondern die Pflichten formuliert werden, die zwischen arm und reich, Mann und Frau, alt und jung gelten sollen – eine Aufgabe für die der Westen zusammen mit den Taliban auf dem moralischen Prüfstand steht: Die Neuformulierung der Menschenrechte hat die Strukturbedingungen so in Rechnung zu stellen, dass sie allerorts erfüllbar sind! Alles andere ist arrogantes Moralisieren, dass zu schweren Kränkungen führt!
  3. Zu guter Letzt brauchen wir die von mir geforderte neue Aufklärung! Denn bisher fällt das eigene Selbst leider aus der Weltanschauung stets hinaus. Während wir noch willens sind, mit Verstand über die Disparitäten in der Weltwirtschaft und Sozialstruktur zu diskutieren, geraten wir, wenn’s um moralische Differenzen geht, affektiv rasch ins dunkelste Abseits. Denn unser Hirn denkt nur soweit, wie unser Herz fühlen kann bzw. darf.

Die neue Aufklärung hat deshalb zweierlei zu leisten!

Erstens hat sie sich nicht nur an der Deckung der Grundbedürfnisse zu orientieren, sondern auch den Narzissmus und die Aggression als vitale Lebenskräfte anzuerkennen, die den Menschen aller Gesellschaften und in allen Kulturen gemeinsam sind; zweitens hat sie in unser kulturelles Bewusstsein zu holen, dass das Recht allein den menschlichen Alltag niemals regeln kann. Moral ist deshalb nicht nur schrötig, sondern auch nötig! ob die Menschen an einen Gott glauben oder nicht.

Der Ausweg aus den moralischen Dilemmata zwischen traditionaler und moderner Gesellschaftsorgansisation und hoffentlich hinein und hinüber in ein komplexes Weltbürgertum liegt in der Fähigkeit, sich so weit von der eigenen Moral und dem eigenen Selbst zu distanzieren, dass deren kontextspezifische Rahmenbedingungen jeweils mitreflektiert werden können. Wenn wir erkennen, dass wir es hüben und drüben mit Heldinnen und Helden der Moral zu tun haben, können wir auch das unterschiedliche Holz definieren, aus dem das Heldentum jeweils geschnitzt ist: Die traditionale Moral ist religiös inspriert und rankt sich oft genug ums nackte Ueberlebensinteressen der einzelnen Gesellschaftsmitglieder und orientiert sich deshalb an “den” Frauen, “den” Männern, “den” Kindern, “den” Alten. Die moderne Moral wird zwar von denselben Quellen genährt, nimmt jedoch nicht in erster Linie Mass an den Laien, sondern wird primär von den Professionellen definiert und von deren Interessen formiert – sie ist aber deshalb nicht primär eine bessere Moral, sondern eine, die bei nüchterner Betrachtung, eine durchmonetarisierte Gesellschaft voraussetzt. Das ist denn auch der Grund dafür, dass sie weltweit so grossen Zulauf hat – sie macht satt und sie befreit!

Die ernüchternde Einsicht, dass die gesellschaftliche Moral samt ihren individuell internalisierten Formen von der Position in der Weltwirtschaft mitbestimmt ist, kann uns vom hohen Ross der moralischen Arroganz herunterhelfen. Denn Achtung und Respekt sind im Umgang mit den fremden Anderen gefordert, wenn diese aus guten und einsichtigen Gründen eine andere Moral vertreten als wir. Kurz – auf den Weg zum Weltbürgertum kann uns nur jene kontextualisierte Moral führen, die von der Gleichheit aller Menschen ausgeht, aber die derzeit enorm unterschiedlichen technischen, ökonomischen und sozialen Verhältnisse in der ungleichen Weltwirtschaft berücksichtigt, unter denen Menschen ihre Grundbedürfnisse stillen. So wächst uns denn vielleicht endlich jene Haltung, die Respekt sowohl für die Andern als auch für sich selbst erlaubt, denn die beiden sind nicht von einander zu trennen!

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