Schweizer Armee – von der Tragödie zur Farce

25.05.12, es gilt das gesprochene Wort:

Die Armee befindet sich in ihrer tiefsten Krise seit der dramatischen Hydra-Affäre vor 109 Jahren. Damals setzte sich nach einem jahrelangen Seilziehen zwischen dem republikanisch-demokratischen und dem preussisch-autoritären Lager innerhalb des Offizierskorps die Neue Richtung des späteren Generals Wille durch. Dass Wille obsiegte, hatte auch damit zu tun, dass das republikanische Lager unfähig war, mit dem dritten Lager, dem sozialdemokratisch-armeekritischen, ein taktisches Bündnis einzugehen.

Allerdings ist die Sinn- und Orientierungskrise der Armee heute viel tiefer, als sie damals gewesen ist. Der Sinn der Armee war nach der vorletzten Jahrhundertwende leichter zu begründen, als dies nach der letzten Jahrhundertwende der Fall ist. Und die Orientierungskrise ist heute schwerwiegender, gerade weil es keinen echten, öffentlichen Orientierungs-Streit gibt.

Von Karl Marx gibt es das böse bonmot: Die Geschichte wiederholt sich, zuerst als Tragödie, dann als Farce. Der Hydra-Streit war eine Tragödie, der aktuelle Typen-Streit um Gripen, Rafale oder Eurofighter ist eine Farce.

Die Hauptgründe für die tiefe Krise der Armee liegen weder im VBS noch in der Armeeführung. Deshalb halte ich auch nicht viel vom grassierenden Maurer- und Blattmann-Bashing. Sie liegen tiefer und sind vielfältig.

Die Sinnkrise an den drei Fronten

Zuerst einmal gibt es eine Sinnkrise. Wenn wir die Aufgaben der Armee etwas vereinfacht in drei Fronten einteilen: traditionelle Grenzverteidigung, Einsätze im Inland und Einsätze im Ausland, zeigt sich folgendes Bild:

Die traditionelle Grenzverteidigung ist ebenso überholt, wie es einst die Stadtmauern waren. Als sich in den 1820er Jahren in Zürich Radikalliberale und Lokalkonservative um die Schleifung der Schanz stritten, stellten diese jenen die Frage, ob sie denn garantieren können, dass es nie mehr einen Angriff auf die Stadt geben würde. Jene antworteten, dass sie das nicht können, aber dass sie wüssten, dass die Stadtmauern keinen Schutz gegen einen solchen Angriff mehr böten. Tatsächlich gab es 1838 einen konservativen Angriff auf die liberale Stadt. Allerdings spielte beim Ausgang des Züriputsches die universitäre Theologie eine wichtigere Rolle als die militärische Technologie.

Sich heute auf einen äusseren Feind einzustellen und vorzubereiten, macht schlicht und einfach keinen Sinn. Erstens ist dieser Feind für eine derart lange Periode völlig undenkbar, dass die Waffensysteme, die man heute kauft und beübt, sicher nie zum Einsatz kommen. Und wenn man das macht, was die SOG im militärischen Zusammenhang immer wieder postuliert, „das Undenkbare denken”, dann kommt man zur gleichen Einsicht wie die Stadtzürcher Liberalen vor 180 Jahren: die Armee bietet keinen tauglichen Schutz.

In ihrem Positionspapier „Weiterentwicklung der Armee” vom 25.6.2011 nennt die SOG (Schweizerische Offiziersgesellschaft) unter dem Titel „Bedrohungen, Potenziale, Risiken und Gefahren” die folgenden Beispiele: „atomare Gefahren, Proliferation, Bedrohung durch Fernwaffen, Cyberwar und langfristige Bedrohungspotenziale, die sich durch die demographischen Entwicklungen und den Kampf um Wasser, Energie und sonstige Ressourcen ergeben. Dabei handelt es sich um reale Gefahren, denen die Schweiz nicht autonom begegnen kann.” (Seite 6)

Atomare Gefahren: Gegen einen atomaren Grossangriff gibt es – abgesehen von den Schutzräumen und den Schutzmasken – keinen Schutz. Gegen nukleare Minibomben, die in einem Köfferchen Platz haben, braucht es Polizei und Nachrichtendienst. Und gegen das wahrscheinlichste Risiko, ein Fukushima in der Schweiz, liegt die Antwort in dieser Volksinitiative für einen geordneten Ausstieg aus der Atomenergie. (Mit Verlaub: Ich verstehe keinen Offizier, der nicht für den zwar geordneten, aber möglichst zügigen Ausstieg aus der Atomenergie ist. In den AKW liegt doch das weitaus grösste Gefahrenpotenzial.)

Proliferation: Wie soll die Armee diese verhindern? (Ein kleiner Hinweis: die gefährlichste Atommacht auf unserem Planeten, Pakistan, kam dank Schweizer Hilfe, privater und staatlicher, zum Schweren Wasser.)

Fernwaffen: Dieses Beispiel ist das einzige, das militärisch relevant sein könnte, aber sicher nicht für das schweizerische Militär. Erstens ist es höchst unwahrscheinlich, dass der Iran Europa mit Interkontinentalraketen angreift. Zweitens ist es unvorstellbar, dass der geplante Raketenschirm der Nato funktioniert – abgesehen davon, dass es ein Riesenfehler ist, Russland damit zu brüskieren. Drittens hat die Schweiz weder die Notwendigkeit noch die Fähigkeit, hier eine Rolle zu spielen. Die militärisch tauglichste Methode gegen eine mögliche zukünftige Gefahr wären wohl Tarnkappen-Drohnen. Die würden nahe der Grenze Irans fliegen und könnten deutlich früher Abfangraketen abschiessen als Systeme am Boden.

Cyberwar: Dafür braucht es Profis, das können auch Zivis sein!
Ressourcenverknappung und Klimaerwärmung: Diese rufen – insbesondere was die Schweiz betrifft -, nach zivilen Antworten. Auch diesbezüglich bin ich am Sammeln für eine Volksinitiative: Für eine nachhaltige und ressourceneffiziente Wirtschaft. Deren Fernziele sind eine Kreislaufwirtschaft und den Fussabdruck 1. Das heisst: Die Schweiz verbraucht nur so viele Ressourcen, wie wenn es bloss einen Planeten gäbe. (Heute wirtschaften und leben wir, als gäbe es mehr als 3 Planeten.)

Kommen wir zur zweiten Front, den Auslandeinsätzen: Den Autoren des SiPol B 2000 war klar, dass die Verteidigung die Armee nicht mehr legitimierte. Als neue Aufgabe setzten sie auf eine starke Ausweitung der Auslandeinsätze. Der damit verbundene Bruch mit der SVP wurde kompensiert durch die Tatsache, dass die Mehrheit der SP mitmachte. Allerdings geriet diese sogenannte „Koalition der Vernunft” mit dem Irak-Krieg ins Wanken. Die Antikriegsbewegung – in Bern gab es zwei Demos mit je 40‘000 Teilnehmenden, die GSoA verkaufte 60‘000 Peace-Fahnen – machte es der SP immer schwerer, beim Interventionismus mitzumachen. So gelang es der sogenannten „Unheiligen Allianz” aus SVP, GSoA, Grünen und SP-Linken den Ausbau der Swisscoy und die Verschickung eines Detachements nach Afghanistan zu verhindern sowie die Atalanta-Mission zu versenken.

Atalanta bedeutete im September 2009 das Waterloo für Auslandeinsätze. Über den Kosovo hinaus gelangt die Schweizer Armee nicht mehr. (Nie in Frage gestellt wurden die UNO-Beobachter.)

Das VBS und die Armeeführung reagierten auf den Verlust dieser zweiten Armee-Perspektive mit dem massiven Ausbau der dritten Front: der sogenannten subsidiären Dienste im Inland. Das Leistungsprofil des Armeeberichts zeigt sowohl den fast völligen Abschied von den Auslandeinsätzen wie auch den weitgehenden von den Verteidigungs-Vorbereitungen: Von den 80‘000 AdAs sind mit 36‘000 fast die Hälfte für das Innere, 22‘000 für Basisaufgaben, 22‘000 als operative Reserve und die Verteidigung und 1000 für Auslandeinsätze vorgesehen.

Nur: eine Armee lässt sich auf die Länge weder mit der Übernahme von Polizeiaufgaben noch durch das Aufräumen nach Naturkatastrophen legitimieren. (Man soll Legitimation nicht mit Sympathie verwechseln. Selbstverständlich kommt das Löschen von Waldbränden gut an. Als Soldat habe ich auch lieber im Urnerland Geröll weggeräumt als auf dem Glaubenberg Schiessübungen gemacht.)

Noch dies: Dass Armeen ungeeignet sind für den Kampf gegen den Terrorismus, hat sich inzwischen hinlänglich bewiesen.

Gesellschaftliche und politische Krise

Damit käme ich zur zweiten und zur dritten Krise, der gesellschaftlichen und der politischen: Ein Ausdruck der gesellschaftlichen Krise ist der Umstand, dass erstmals in der Geschichte der Schweizer Armee Jugendliche aus bildungsnahen Familien grossmehrheitlich der Armee fern bleiben. Soziologisch gesehen erleben wir eine schleichende Amerikanisierung.

Ein Ausdruck der politischen Krise ist auch ein historisches Novum: Erstmals seit dem Ersten Weltkrieg und damit erstmals, seit die Linke institutionell eine Rolle spielt, ist das politische Bürgertum in der Armeefrage gespalten. War früher die Annahme von Rüstungsprogrammen durch die bürgerliche Mehrheit so sicher wie das Amen in der Kirche, wurden die Rüstungs-Debatten in den letzten Jahren zu Zitterpartien mit unsicherem Ausgang. Sind alle hier Anwesenden sicher, dass die Grippen-Beschaffung durch das Parlament kommt?

Orientierungs- oder Konzeptionskrise

Hinter dieser politischen Krise steckt eine Krise, die hintergründig stark spielt, vordergründig kaum thematisiert wird. Es ist eine Orientierungs- oder Konzeptions-Krise. Sie lässt sich auf den Punkt bringen: Masse oder Klasse?

Während in den letzten beiden Jahrzehnten alle europäischen Armeen massiv verkleinert wurden und in diesem Zusammenhang die Wehrpflicht aufgehoben haben, beharrt die Schweiz auf einer Bestandesgrösse, die sich a) durch kein realistisches Szenario begründen lässt und die b) nicht mehr finanzierbar ist. Eine treibende Kraft beim Übergang von grossen Wehrpflicht- zu kleineren Freiwilligen-Armeen sind die Kosten. Da wegen der technologischen Entwicklung die einzelnen Soldaten immer teurer werden, bleibt nichts anderes übrig, als deren Zahl zu senken (oder auf den technischen Fortschritt zu verzichten).

In der Schweiz ist eine solche „Transformation der Streitkräfte” blockiert. Die – übrigens lautstarken – Traditionalisten halten an einer Armee fest, die sich an einem überholten Verteidigungsfall orientiert und möglichst stark im gesellschaftlichen Alltag verwurzelt ist. Die Wurzeln aber sind die einzelnen Soldaten – unabhängig von ihrer Ausrüstung. Ein Teil der Traditionalisten – ich habe den Verdacht, genauer: Sie müssten den Verdacht haben – dass Blocher zu ihnen gehört, ein Teil also ist bereit, zugunsten der Masse auf Klasse zu verzichten. Wenn ausgerechnet die SVP Angst hat vor einem Abstimmungskampf über die Kampfjetbeschaffung erklärt sich das mit der – beispielsweise von Ueli Schlüer ausgesprochenen – Befürchtung, die Armee könnte einer Zerreisprobe zwischen Luft und Boden ausgesetzt werden.

Da gibt es die – allerdings kleinlauten – militärischen Modernisten, welche lieber eine kleine Armee hätten, die sich Hochtechnologie leisten kann und der Wirtschaft weniger Opportunitätskosten verursacht. Zu ihnen gehören Pierre Maudet, wahrscheinlich auch Christophe Keckeis, sicher Karl Haltiner und Rainer Eichenberger, fast alle ehemaligen EMD- und VBS-Generalsekretäre und viele unbekannte Offiziere. Warum hört man so wenig von ihnen?

Ihr Dilemma ist das folgende: Eine starke Verkleinerung der Armee stellt die Wehrpflicht in Frage. Bereits bei einem Bestand von 80‘000 ist die sogenannte Wehrgerechtigkeit nicht nur geritzt wie heute schon, sondern verletzt. Jährlich werden 41’000 Männer wehrpflichtig. Bei einer Armee von 80‘000 braucht es pro Jahr höchstens 16‘000 – zusammen mit dem Zivildienst macht das ungefähr 20‘000. Aber eine Verkleinerung der Armee auf 40‘000 (Hans-Ulrich Ernst) oder auf 20‘000 (Pierre Maudet), was ungefähr dem europäischen Durchschnitt entspräche, erzwingt die Aufhebung der Wehrpflicht. Was sich Deutschland über lange Zeit leistete, den Jungen zu sagen, eigentlich müsst ihr, aber wir brauchen die meisten von euch gar nicht, das geht in der Schweiz nicht. Die sogenannte Wehrgerechtigkeit hat in unserem Land einen viel höheren Stellenwert. Das gilt -mindestens in den traditionell- bürgerlichen Kreisen – auch für die Wehrpflicht. Solange die Modernisten nicht den Mut haben, sich aus der Traditionsfalle Wehrpflicht zu befreien, gibt es keine Modernisierung der Armee.

Die Offiziersgesellschaft, in deren Reihen es Traditionalisten, Modernisten und viele gibt, die mit einem Bein in jenem und mit dem anderen in diesem Lager stehen, versucht die Quadratur des Kreises: Masse und Klasse! Ihr Problem ist einfach, dass es die Masse nicht mehr braucht und jenes Geld frisst, welche es aus Armee-Sicht für die Klasse braucht. Dass bei der Wirtschaft die Bereitschaft sinkt, weiterhin Massen von Angestellten freizustellen. Und dass die Gesellschaft nicht bereit ist, mehr Geld für die Armee zu bezahlen. Masse und Klasse sind nicht mehr finanzierbar!

Zum Schluss komme ich auf die Eingangs-Bemerkung zurück. Der fortschrittliche Teil des Offizierskorps hat vor 109 Jahren den Machtkampf gegen die damals so genannten „Pickelhauben” verloren, weil er nicht bereit oder fähig war, mit der armeekritischen Linken ein taktisches Bündnis einzugehen. Die armeekritische Linke hat heute einen reformerischen Vorschlag auf dem Tisch: Aufhebung der Wehrpflicht. Die Armeereformer gewinnen nur mit uns. Wir nur mit ihnen. Dass wir gemeinsam gewinnen können, zeigt die heute veröffentlichte Studie „Sicherheit 2012″ der Militärakademie der ETH und der HKA der Armee: 48 Prozent der Befragten, 10 Prozent mehr als vor einem Jahr, sind für die Aufhebung der Wehrpflicht.

 

 

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