Die dunkle Seite

Wolfgang Sofskys Analyse der Gewalt am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Eine Buchbesprechung • Von Marco Tackenberg

Die pazifistische Linke sucht den zivilisatorischen Fortschritt. Ihr Selbstbild der Gegenwart ist geprägt vom Glauben an Vernunft, Friede und Demokratie. Zu Recht fordert sie, dass den sozialen, politischen und wirtschaftlichen Ursachen von Krieg und Gewalt weltweit begegnet werden muss. Ihr Engagement wurzelt in der Hoffnung auf moralische Entwicklung, im Vertrauen auf die Möglichkeit einer friedlichen Welt. Auf die Zukunft gerichtet konkretisiert sich dieses Bild im Begriff der Utopie, der Vorstellung eines Ortes, welcher vielleicht nicht erreicht wird, dem man sich aber doch stetig nähern kann. In seiner radikalsten Form weist dieses Bild eschatologische Züge auf, die Sehnsucht nach dem «paradise lost», dem Ort, wo das Lamm friedlich an der Seite des Löwen liegt (wobei Woody Allen zu Recht annimmt, dass der Löwe dabei besser schläft). Konkrete Projekte der Friedensbewegung werden an diesem Ideal gemessen. Wo sie dem Anspruch auf eine «umfassende» (Er-)Lösung nicht gerecht werden, müssen sie enttäuschen. Das real Mögliche spricht auf der Bühne der Utopie vor und fällt durch. Das Bild ist nicht grundsätzlich falsch. Als lähmend erweist es sich jedoch in einer Gegenwart, die sich durch die Herausforderung «from protest to project» kennzeichnet. Wo Frieden als praktische Aufgabenstellung verstanden wird, gilt es auch die Grenzen und Risiken einer engagierten Politik zu erkennen. Eine Handlungsperspektive kann erst wieder gewonnen werden, wo wir uns der Kehrseite der Moderne bewusst werden.

Normalität der Gewalt …

Eine Analyse der Kosten, des Preises, den die Moderne einfordert, unternimmt der Soziologe Wolfgang Sofsky in seinen Arbeiten. In «Die Ordnung des Terrors» rekonstruiert er 1993 in seiner Habilitationsschrift den Extremfall des totalen Machteinsatzes: das rational organisierte Konzentrationslager mit dem ausschliesslichen Zweck der Destruktion. Wo andere unter dem Vorbehalt der Unverstehbarkeit und Unvergleichbarkeit der Verbrechen, für welche der Name Auschwitz steht, verstummen, vollzieht er eine soziologische Analyse des Grauens. Das Konzentrationslager liege nicht hinter uns, es «gehört in die Geschichte der modernen Gesellschaft.» Eine moderne Ideologie spreche angesichts von Auschwitz oder Jugoslawien von einem «Rückfall in die Barbarei». Dem hält Sofsky entgegen, dass erst der Fortschritt und das zweckrationale Denken der Neuzeit die Tötungsmacht ins Unermessliche gesteigert habe: «Auf den Schlachtfeldern der Massenkriege wurde die Vernichtungskraft moderner Technik erprobt, in den Schlachthäusern der Konzentrationslager die Zerstörungsmacht moderner Organisation» (1993: 315).

Die Kehrseite der Moderne sei daher «eine ungeheure Steigerung der Repression und Gewalt.» In seinem kürzlich erschienenen «Traktat über die Gewalt» nimmt Sofsky seine pessimistische Grundthese wieder auf - und verschärft sie: «Von jeher zerstören und morden Menschen gerne und wie selbstverständlich. Ihre Kultur verhilft ihnen dazu, dieser Potenz Form und Gestalt zu geben. Nicht in der Kluft zwischen den dunklen Triebkräften und den Verheissungen der Kulturwelt liegt das Problem, sondern in der Korrespondenz von Gewalt und Kultur." Eng folgt Sofsky der theoretischen Position Jacob Burckhardt's: "Kein Staat ist jemals durch Konvention und Vertrag entstanden. Seine Gründung war meist begleitet von Akten massiver Gewalt und Unterwerfung.» In seinem weiteren Bestehen wird der Staat zur eingerichteten, legitimen Macht. Die ursprüngliche Gewalt bleibt in ihrer latenten Form aber stets vorhanden: «Bis heute steht die Meute im Dienst der Exekutivgewalt. Sie steckt die Täter in Uniformen, rüstet sie aus und lässt sie los, wenn es soweit ist» (1996: 219).

Als modernes Märchen entlarvt Sofsky, dass Gewalt verschwinden werde, wenn wir nur lange genug mit den Instrumentarien des Sozialen und Politischen daran herumbasteln. Gewalt als condition humaine bleibe in jeder Gesellschaft präsent, was auch immer ihre ideologische Ausrichtung sein möge: «Der Glaube an die Zivilisation ist ein eurozentrischer Mythos, in dem sich die Moderne selbst anbetet.» Denn es sei gerade die Tendenz jeder Gewalt, egal ob durch einen legitimen Staat verkörpert oder manifest in der Form der Barbarei, dass sie alle Bindungen an Zwecke abstreife, um grundlos, absolut zu werden: «Unterdrückung liegt im Wesen jeder Herrschaftsordnung."

… Gewalt der Normalität

Sofskys Arbeiten hinterlassen einen zwiespältigen Eindruck. Das Traktat muss als Provokation verstanden werden. Wer lediglich seine stockfinstere Einseitigkeit kritisiert, ihm Pauschalisierung vorwirft, wer das Fehlen empirischer Beweise bemängelt, hat so unrecht zwar nicht, sollte sich aber gleichwohl auf die Irritation einlassen, welche die leidenschaftlich vorgetragenen Thesen verdienen. Man folgt dem Autor mit Gewinn, wo er der gängigen Selbstbeschwichtigung ein pessimistisches, aber real immerhin mögliches Bild einer Gesellschaft entgegenhält, wo Kultur und Zivilisation eben nicht die sicheren Bollwerke wider Mord, Grausamkeit und Zerstörung sind. Das Potential der Zerstörung ist in der gesellschaftlichen Normalität fest verankert. Problematischer erscheinen die Texte dort, wo Sofsky der Wirkung seiner eigenen Bilder erliegt, wo er nicht mehr unterscheidet zwischen zerstörerischer Gewalt und der Suche nach einer sinnvollen gesellschaftlichen Ordnung. So droht das Potential an Veränderung verloren zu gehen, das die bestehende Wirklichkeit in sich trägt. Denn darin liegt die Faszination einer - tatsächlich umfassenden - pazifistischen Politik: «... dass das Leben für alle erträglich wird und die Kultur keinen mehr erdrückt» (Sigmund Freud).

Wolfgang Sofsky. Traktat über die Gewalt. Frankfurt am Main, 1996. 239 Seiten. Und ders.: Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager. Frankfurt am Main, 1993. 390 Seiten.