«Das dürfen Sie nicht sagen!»

Bundesrat Ogi bei den Journalisten – oder: warum der aussenpolitische Durchbruch der Schweiz im Güterwagen stattfindet • Von Hans Hartmann

Eine «heilige Kuh» sei die Armee «schon lange nicht mehr», schrieb die NZZ in der Vorankündigung zu einem Gespräch zwischen Armeeminister Adolf Ogi und den Journalisten Hugo Bütler und Erich Gysling (ausgestrahlt am 21. September auf SF 2). Fragen «zum militärischen Sonderfall Schweiz» seien heute erlaubt: «Können wir uns ein 400000-köpfiges Heer auch in Zukunft noch leisten? Auf welche Bedrohungslagen haben wir uns neu einzustellen? Wird die Neutralität und die Bündnisfreiheit zum Sicherheitsrisiko? Was spricht für, was gegen die Optionen Nato-Beitritt oder Übergang zu einer (stark verkleinerten) Berufsarmee?»

Die Floskelbüchse des Ogi

Drängende Fragen – in der Tat. Kein Wunder hatte sich Adolf Ogi gründlich vorbereitet und einen ganzen Sack voll Floskeln ins TV-Studio mitgebracht: So viel «Souveränität», «Seriosität» und «Solidarität» auf einen Schlag hat sonst niemand zu bieten. Wer allerdings substantielle Antworten erwartet hatte, wurde enttäuscht.

Von Beginn weg. Ex-Rundschau-Chef Gysling eröffnete die Diskussion mit der Gretchenfrage: «Wozu braucht die Schweiz die zweitgrösste Armee Europas?» Ogis Reaktion war symptomatisch für seine Ausweichstrategie: Das Militär befinde sich in einem Reformprozess, behauptete er und las von einem Spickzettel fünf Punkte ab: das Militärdepartement werde reorganisiert, die Rüstungsbetriebe privatisiert, die Kaderbestände müssten gesichert werden, man habe die «subsidiären Sicherungseinsätze» ausgebaut und tue nun mit den Gelbmützen in Sarajewo etwas für die Friedensförderung. Mit anderen Worten: Die Schweiz braucht die Armee, um sie reformieren zu können?

Konfusion als Prinzip

Ogis Bemühungen, die Positionen der «Modernisierer» und der «Bewahrer» im Lager der Militärbefürworter unter einen Hut zu bringen, artikulieren sich in einer kaum mehr zu überbietenden Beliebigkeit. So behauptete Ogi einerseits, das Milizsystem sei die «Brücke zwischen Volk und Armee», die man nicht einfach «über Bord werfen» könne. Andererseits brauche es für das «internationale Engagement» – Ogi brachte als Beispiel die militärische Intervention in Albanien – einen ständig einsatzbereiten «Kern» von Profis. Doch auf das Verhältnis von Miliz und Professionalisierung angesprochen, auf «Zeitsoldaten» oder «Berufssoldaten» und auf konkrete Einsatzbereiche solcher Profis blockte Ogi konsequent ab. Wenn die Interviewer bei Ogi «zwischen den Zeilen» (Gysling) doch so etwas wie eine Position zu bestimmen versuchten, wehrte dieser jeweils ab: «Das sind nur Überlegungen! Es ist nichts beschlossen!».

Zur Frage der Wehrpflicht war von ihm ebenfalls nichts zu erfahren, ausser dass die Wirtschaft die Armee unter Druck setze, weil sie die besten Leute für sich wolle. Die Neutralität wiederum, so Ogi, sei in der Schweiz eine «gelebte», die vor allem von älteren Leuten als etwas «sehr wertvolles» angesehen werde. Sie habe uns «vielleicht» vor dem letzten Krieg bewahrt und man dürfe «die Weltkriegsgeneration» nicht angreifen. Aber die Neutralität wandle sich, und man habe da einen grossen Interpretationsspielraum.

In die Partnership for Peace mit der Nato gehe man «pragmatisch» hinein, «wie ein Bergler: zuerst einen Schritt machen … absichern … dann den nächsten Schritt». Aber «wir wollen neutral bleiben … wir wollen nicht der Nato beitreten». Man müsse zuerst Erfahrungen sammeln. Eine Abstimmung über einen Nato-Beitritt hätte «heute sowieso keine Chance» vor dem Volk. «Im Moment» komme ein Nato-Beitritt also nicht in Frage. Wenn Österreich der Nato beiträte, müssten «wir» allerdings gemäss Ogi «die Kraft haben, eine neue Lagebeurteilung vorzunehmen». Also doch in die Nato? Ogi: «Das dürfen Sie nicht sagen! Aber ich bin ein Mann, der Probleme nach vorne lösen möchte.»

‹Raumpatrouille Brunner›

Es ist allzu einfach, sich über Ogis verbale Pirouetten lustig zu machen. Doch seine, sagen wir mal, ‹konservative Zukunftsrhetorik› ist Ausdruck einer durchaus realistischen Strategie: Es geht darum, aktuelle Widersprüche in der offiziellen, militärorientierten Sicherheitspolitik zu vernebeln, Leerstellen zu überdecken und Konfliktpotentiale zu minimieren. Je besser Armee und Sicherheitspolitik aus der breiten, demokratischen Debatte verbannt und zur Angelegenheit von exklusiven Expertengruppen gemacht werden können, um so mehr Raum gibt es für die Erarbeitung einer neuen, militärlastigen Sicherheitsideologie von oben, die mit der Zeit ‹vom Volk› akzeptiert werden könnte.

Nicht zufällig bezeichnete Ogi die sicherheitspolitische ‹Komission Brunner› als «Patrouille, die in die Zukunft marschiert» und dabei «visionäre Arbeit» verrichtet. Ganz unabhängig von seinem Inhalt wird dieser Komissionbericht vor allem eine Funktion erfüllen: Er wird Ogi und seinen EMD-Strategen Zeit und Raum für machbare konzeptionelle Erneuerungen verschaffen. Dass «in der gegenwärtigen Lage die Schweiz vor allem politisch, wirtschaftlich, kulturell und auch sicherheitspolitisch einen Beitrag zur Friedenssicherung leisten» muss, hat nämlich schon 1990 die Arbeitsgruppe Armeereform unter FDP-Ständerat Otto Schoch herausgefunden. Seither hat das EMD – in Erwartung nächster Visionen – mehr als 40 Milliarden in den Sand gesetzt.

Güterwagen gegen Mittelstreckenraketen

Um so wichtiger ist es, offensiv auf die Leerstellen und Widersprüche der aktuellen Sicherheitspolitik hinzuweisen. Ogis TV-Interview gibt uns dazu trotz aller Konfusion wichtige Hinweise. Erstens können wir gar nicht oft genug wiederholen, dass das traditionelle Verteidigungsdenken der Schweiz am Ende ist. Auf mögliche Bedrohungsszenarien angesprochen, war Ogi nur gerade in der Lage, von einem «Angriff mit Mittelstreckenraketen» zu fabulieren. Woher diese Raketen kommen könnten, wusste er nicht – aber das war auch egal, denn NZZ-Chefredaktor Bütler wies Ogi richtigerweise daraufhin, dass die Schweizer Armee gar keine Abwehrmittel gegen Mittelstreckenraketen besitzt und dass unser Land in einem solchen hypothetischen Fall vollständig von der Nato abhängig wäre.

Zweitens war nicht zu übersehen, wie sehr Ogi sich an den Gedanken der militärischen Internationale klammert. «Wir dürfen Frieden nicht nur konsumieren. Wir müssen auf der Baustelle der Friedensförderung präsent sein!», lautete seine wohlklingende Formel für die Vermischung von Solidaritätsrhetorik und agressivem Interventionismus. Auf die Partnership for Peace anspielend behauptete Ogi: «In der Aussenpolitik haben wir den Durchbruch erreicht. Darauf sind wir stolz. Der Zug fährt. Wir sind nicht in der ersten Klasse, nicht in der zweiten Klasse, sondern im Güterwagen. Aber wir sind dabei.»

Die GSoA muss in den nächsten Jahren zusammen mit anderen gesellschaftlichen Kräften versuchen, die politischen Phantasien der Menschen für eine zivilere Vision von ‹Öffnung› und ‹Solidarität› unseres Landes zu gewinnen.