Eine Arbeitslose will nicht ausgesteuert werden

Die Armee ist arbeitslos. ‹Ausgesteuert› werden will sie aber nicht. Da kommen ihr die Allmachtsphantasien des neuen militärischen ‹Internationalismus› gerade recht. Eine Gespenstergeschichte und ein Andersen-Märchen • Von Josef Lang

Ein Gespenst geht um im Schweizerland – das Gespenst des militärischen Internationalismus. Die gleichen Politiker und Parteien, die noch vor wenigen Jahren die Abschaffung der Armee einer «materiellen Totalrevision der Bundesverfassung» (Botschaft des Bundesrates vom 25.4.1988) gleichgesetzt haben, finden plötzlich, die genauso tabuisierte «bewaffnete Neutralität» sei überholt.

Gespenstisch ist der militärische Internationalismus nicht nur, weil er von Leuten vertreten wird, die bis vor kurzem jegliche Distanzierung von der Landesverteidigung als politisches Delikt betrachtet haben und in konkreten Solidaritätsfragen wie Waffenexport, Asyl, Entschuldung, Abrüstung oder Apartheid die Partikularinteressen des Landes und seiner Firmen über irgendwelche universelle Anliegen stell(t)en.

Gespenstisch ist er auch, weil er von der real existierenden Armee weitgehend abgekoppelt ist. Deren Übungen haben trotz globalen Phantasien, die etliche Szenarien enthüllen, mit ‹kollektiver Sicherheit› herzlich wenig zu tun. Schon eher zeugen sie von einem ziemlichen konzeptionellen Wirrwarr unter den steifen Hüten. Das gleiche gilt für die Propaganda-Aktionen, die anlässlich ziviler Katasrophen durchgeführt werden. Und was verbindet die von Ogi geforderte «Kampfwertsteigerung von 291 Panzerhaubitzen» mit dem von ihm dafür am 24.9.1997 im Nationalrat in die Waagschale geworfenen Argument: «Wir dürfen nicht nur Frieden konsumieren, wir müssen auch Frieden produzieren.»?

Camoufliertes Ziel

Gespenstisch ist der militärische Internationalismus weiter, weil er camoufliert daherkommt. Er kann nicht offen dazu stehen, dass er letztendlich auf den Nato-Beitritt hinausläuft. Das neue Gespenst ringt hinter den Kulissen mit den alten Geistern des Isolationismus und deren Dogma: «Die Schweiz hat keine Armee, die Schweiz ist eine Armee.» Wer diesen vom Bundesrat in seiner GSoA-Botschaft ausdrücklich bekräftigten Glaubensschatz in seinem patriotischen Herzen trägt, dem ist die nationale Existenz untrennbar mit der militärischen Unabhängigkeit verknüpft.

Wie stark der militärische Fundamentalismus noch verankert ist, zeigt der Aufstand gegen das, was die NZZ die «Schatten des Zweiten Weltkriegs» nennt. Wer meint, dieser werde nur von der Aktivdienstgeneration getragen, täuscht sich. Man höre sich um, beachte die Leserbriefseiten oder führe sich die Allgemeine Schweizerische Militärzeitschrift (ASMZ) oder den Schweizer Soldat zu Gemüte! Ein Grossteil der nachfolgenden Generation der 1925 bis 1940 Geborenen ist mindestens so mythenresistent. Während die Aktivdienstler neben dem Mythos immerhin noch die widersprüchliche Wirklichkeit mitbekommen haben, sind viele Nach-45er und Vor-68er viel ungeschützter durch die fraglichen Legenden, den Antikommunismus und das Wirtschaftswunder geprägt worden. Hier liegt die soziale Hauptbasis der Konservativen und ein wichtiger Grund, warum die Armeereformer weder Klartext sprechen, noch das Milizprinzip in Frage stellen.

Gespenstisch wirkt auch die Verwischung des Unterschieds zwischen Friedens- und Kriegszustand und die damit verbundene Vermischung von militärischen und zivilen Aufgaben. Noch 1988, also kurz vor der GSoA-Abstimmung, hatte Divisionär Gustav Däniker angesichts solcher Bestrebungen die «Vision eines Grossen Bruders» an die Wand gemalt. Die bundesrätlichen Berichte und Verlautbarungen der 90er Jahre, z.B. der ‹Bericht 90›, die Botschaft zum neuen Militärgesetz (1993) und das «Armeeleitbild 1995», haben die Grenze zwischen «Sicherheitspolitik und Politik im weiteren Sinne» (Däniker) stark aufgeweicht. Diese Option der ‹Multifunktionalität› ist um so gefährlicher, als sich hier Modernisten und Traditionalisten treffen. Jene denken dabei eher an den ‹internationalen Terrorismus›, diese an die Abwehr von Flüchtlingen.

Die Armee ist nackt!

Das ‹multifunktionale› und globale Ausgreifen der Schweizer Militärs hat einen ganz banalen Grund: Auch der Armee ist in der Schweiz die Arbeit ausgegangen. Unser Land braucht die Panzer und Flieger gegen unsere nahen und fernen Nachbarn ebensowenig wie Solothurn seine im Alten Zeughaus ausgestellte ‹Vorwärts-Kanone› gegen die alten Sonderbundskantone.

Die Armee muss daher, will sie nicht ‹ausgesteuert› werden, ausserhalb ihres funktionalen und nationalen Bereichs neue Aufgaben finden. Gespenstisch daran ist, dass keine offizielle Stimme die Sache beim Namen nennt und offen die sonst so modische Frage stellt: Was soll eine staatliche Institution, der ihre Aufgaben ausgegangen sind? Wo ist das Andersensche Märchenkind, das in die Menge ruft: «Die Armee ist nackt!»?

Gespenstisch ist der militärische ‹Internationalismus› aber auch, weil er zu einem Phänomen passt, das man den neuen internationalen Militarismus nennen könnte. Militarismus meint hier nicht erstrangig die dazu gehörenden Apparate, sondern eine Gesinnung. Konflikte und deren Lösung werden allzuleicht in militärischen Kategorien gesehen bzw. gesucht. Dabei kommt die Politik – vor allem die demokratischen Impulse von unten – zwangsläufig zu kurz. Hätte man auf das Auseinanderbrechen Jugoslawiens rechtzeitig politisch reagiert und auf die in allen Völkern vertretenen Friedenskräfte statt auf die Kriegstreiber gesetzt, hätten viele Ungeheuerlichkeiten verhindert und bessere Zukunftsbedingen geschaffen werden können.

Diese Kritik fusst nicht auf dem – meiner Meinung nach unsinnigen – fundamental-pazifistischen Grundsatz: «Noch nie sind Probleme durch Gewalt gelöst worden.» Der Nationalsozialismus konnte nur mit Waffen besiegt werden. Vor 150 Jahren hat die gewaltsame Auflösung des Sonderbunds die Gründung des Bundesstaats ermöglicht. Tatsächlich kann der Einsatz von Gewalt in bestimmten Fällen die ‹ultima ratio› sein. Aber ‹rational› ist er nur, wenn er eingebettet ist in eine kohärente Politik, welche auch weiss, dass jede Gewalt zerstörerisch und verletzend ist und dass jede Zerstörung und Verletzung irrationale Folgen hat. Diese Bedingung war weder im Kuwait-Krieg, noch bei den Somalia-, Rwanda- oder Balkan-Interventionen gegeben.

UNO statt Nato!

Dafür hat sich ein neu-alter Mythos herausgebildet: der Mythos der Kontrolle. Sicherheit wird dabei nicht als gesellschaftliches Problem betrachtet, das mit sozialen und demokratischen Veränderungen angegangen werden muss; Sicherheit wird zunehmend als ein Weltpolizei-Problem angeschaut – zu Lasten der Friedens- und Entwicklungspolitik, für die immer weniger Geld zur Verfügung steht.

Diese illiberale Weltsicht, die sich mit einem konservativen Menschenbild deckt, knüpft an Vorstellungen des englischen Staatstheoretikers Thomas Hobbes (1588-1679) an. Dieser zog nach den Erfahrungen der konfessionellen Kriege den Schluss, dass «der Mensch dem Menschen Wolf» sei und Gesellschaften deshalb durch eine autoritäre Staatsgewalt, einen «Leviathan», zu pazifizieren seien. Heute fällt diese Rolle immer mehr der Nato zu – auf Kosten einer sicherheitspolitisch marginalisierten und instrumentalisierten UNO und einer finanziell knapp gehaltenen OSZE. Im Unterschied zum Hobbschen «Leviathan» aber ist die Nato nicht Ausdruck eines Gesellschaftsvertrags, sondern eines Machtblocks, welcher primär seine eigenen Interessen verfolgt. So verkauft er Waffen an kleinere «Leviathans», gegen die unter Umständen später zwecks ‹Friedensschaffung› Krieg zu führen ist.

Zum obrigkeitsstaatlichen Hobbes-Konzept gibt es eine ‹weltbürgerliche› Alternative: die des deutschen Philosophen Immanuel Kant (1724-1804). Sein globales Modell beruht nicht auf der Macht einer militärischen Weltorganisation, sondern auf ähnlichen Grundsätzen wie eine Demokratie; sie versteht sich als «Republik freier verbündeter Völker». Im Unterschied zu Hobbes würde der Autor der Schrift «Zum ewigen Frieden» nicht auf die Nato, sondern auf die UNO setzen. Und eine emanzipatorische Politik ginge wie im 19. auch im 21. Jahrhundert nicht von Hobbes, sondern von Kant aus.

Gordische Knoten

Warum schliesst sich die offizielle Schweiz der Hobbesschen Generallinie an, obwohl die Bundesstaatsgründer eher kantianisch gedacht und gehandelt haben, obwohl die Stärke unseres Landes im Zivilen und nicht im Militärischen liegt, obwohl die Welt unser Friedenshandwerk viel dringender benötigt als unser Kriegshandwerk? Ein bereits erwähnter Grund ist: Die Armee braucht die Welt oder die ‹kollektive Sicherheit› zur Arbeits-Beschaffung und Sinn-Findung. Dazu kommt, dass das Militär nicht nur physische, sondern auch metaphysische Funktionen zu erfüllen hat. Während sie für die Traditionalisten Nation und Gehorsam verkörpert, symbolisiert sie für die profaneren Technokraten Machertum und Effizienz: Mit einem Hieb lassen sich selbst gordische Knoten ‹lösen›!

Deshalb wird auch eine neue Abschaffungsinitiative sicherheitspolitische und weltanschauliche Fragen aufwerfen, die Innenpolitisches und Aussenpolitisches verschränken: Wie gestalten wir Demokratie national und global? Wie verändern wir unser Land, so dass es weltverträglich wird? Wie geben wir jene schweizerischen Erfahrungen und Errungenschaften weiter, die universalisierbar sind?

Die neuen GSoA-Initiativen werden das politische Panorama wie ein Wetterleuchten erhellen. Es werden sich Fragen klären wie: Sind die neuen Global-Politiker wirklich so solidarisch und demokratisch? Oder ist der militärische Modernismus nicht vielmehr eine blosse Fortsetzung des alten Herrschaftsdiskurses nun technokratischen statt mit nationalistischen Argumenten und Affekten?

Verteidigungsminister Ogi lässt im Tagi-Gespräch vom 17. September mit seinem ‹new-old-speak› eher Gespenstisches erahnen: «Eine Weltkriegsgefahr gibt es heute nicht. Doch die Armee ist eine Versicherung in einer Welt, die mehr Konflikte kennt als zur Zeit des Kalten Krieges. Es gibt kein geeigneteres Instrument, die demokratischen Grundwerte zu schützen und Solidarität zu zeigen.»