Chiapas 2: Eine Bombe? Wer weiss…

Kriege werden auch um und mit Informationen ausgetragen. Ungewissheit schafft Angst und Misstrauen in der Zivilbevölkerung. Internationale Beobachter in Konfliktgebieten sind daher eine wichtige Brücke zur Welt ï Von Robert Z.*

Wäre nicht die tropische Vegetation, würde die hügelige Landschaft um das Dorf Roberto Barrios an das Emmental erinnern. Die von etwa 1500 Tzeltalen bewohnte Siedlung gilt in der Gegend als zapatistische Hochburg. Etwa drei Viertel der Bevölkerung sind SympathisantInnen der EZLN, einige Familien verhalten sich neutral, und der Rest gehört der Regierungspartei PRI an.

Geschenke statt Gerechtigkeit

Als Zentrum der zivilen zapatistischen Bewegung hat Roberto Barrios für die mexikanische Armee strategische Bedeutung. Unmittelbar am Dorfeingang hat sie ein Militärcamp eingerichtet. Das Strässchen führt mitten durchs Lager. Wer das Dorf verlässt oder betritt, wird kontrolliert ñ allerdings nur oberflächlich, denn die Armee ist bemüht, die Sympathie der Bevölkerung zu gewinnen. Aber nach jahrelanger Einschüchterung überzeugt die Politik der Samtpfoten offensichtlich nicht.

Alle paar Tage lud ein schwerer Lastwagen Zementsteine, WeIlblechtafeln und Sand vor einem Häuschen ab. PRI-Mitglieder kommen so gratis in den Genuss von Baumaterialien. «Im Dorf haben einmal lauter Gleiche unter Gleichen gewohnt», lautete der bittere Kommentar der zapatistischen Bauern dazu: «Wir wollen keine Geschenke, wir wollen Gerechtigkeit!» Mit der Politik der Begünstigung hat die Regierung die tiefe politische Spaltung in der Bevölkerung bewirkt. Am bedrohlichsten werden die Familien der Überläufer empfunden, jene die als ehemalige Zapatisten über viele Informationen verfügen, die sie - so vermutet man - an die Armee weitergeben.

Auf einer Fahrt mit dem Lastwagen von Palenque nach Roberto Barrios wurde ich Zeuge eines heftigen Streites zwischen zwei Männern. Zwei, drei weitere mischten sich ein. Der Rest verhielt sich teilnahmslos, während der Streit zunehmend handgreiflicher wurde. Die beiden Hauptakteure beschimpften sich gegenseitig im mir unverständlichen Tzeltal, zerrten einander an den Kleidern, schlugen sich ins Gesicht. Als der Wagen anhielt, stieg einer der beiden mit blutverschmiertem Gesicht von der Ladebrücke.

Ich fragte einen mitfahrenden Bekannten nach dem Grund des Vorfalls. «Der eine hat dem andern vorgeworfen, er sei an einem politisch motivierten Mord beteiligt gewesen», gab er mir Auskunft. Mordanschläge und Kriegsverbrechen an Zivilisten werden systematisch verschwiegen. Meist werden sie aus politischen Gründen nicht strafrechtlich verfolgt. Solche unaufgedeckten Verbrechen vertiefen das vorhandene Misstrauen. Wo es keine Strafverfolgung gibt, gibt es keine Wahrheit und keine Gerechtigkeit; Verdächtigungen und Beschuldigungen schüren den Hass und bringen die verschiedenen Lager der Zivilbevölkerung noch mehr gegeneinander auf.

Informationsmangel …

In Roberto Barrios gibt es keine Tageszeitung und die privaten Radiosender strahlen fast ausschliesslich Popmusik und Werbung aus: Es herrscht ein lnformationsnotstand. Immer wieder fiel mir auf, wie wenig Sicheres man wusste. Der Ausspruch «Quien sabe!» (Wer weiss es schon!) war täglich zu hören. Obwohl das Dorf in verschleiertem Funkkontakt mit andern Dörfer steht, gelingt es nicht, zu erfahren, ob am kommenden Tag eine Camioneta in die Stadt fährt oder nicht. Wo es keine Information gibt neigen Menschen dazu, Vermutungen als sicheres Wissen auszugeben: ein reicher Nährboden für Gerüchte und Desinformationen,

Eines Morgens kamen ein paar Bauern zu unserem Camp und fragten: ,«Habt ihr die gewaltige Detonation in der Nacht auch gehört?» Ich verneinte und fragte, was denn geschehen sei. Die Männer erklärten mir: So etwa um vier Uhr sei es gewesen. Eine riesige Explosion. Die Armee habe eine Bombe abgeworfen. Ganz bestimmt habe sie dem Dorf gegolten, aber die Bombe sei in den Fluss gefallen. «Wieso in den Fluss?» wollte ich wissen. Die Erklärung schien plausibel: ,«Man sieht nirgends Spuren! Wäre die Bombe auf die Erde oder ein Haus gefallen, müsste man ja ein Einschlagloch sehen.»

Den ganzen Tag durch war die Bombe ein Gesprächsthema. Am Abend versammelte sich die zapatistische Dorfbevölkerung. Es wurde über Gemeinschaftsarbeit auf den Feldern, über den bevorstehenden Arztbesuch und die Impfung der Kinder gesprochen ñ und über die Bombe. Ich fragte anschliessend einen der Dorfverantwortlichen, einen jüngeren, sehr gebildeten Mann mit ausgeprägtem politischem Bewusstsein, welche Bewandtnis es mit dieser Bombe habe. Er zuckte mit den Schultern und meinte, das könne der Überschallknall eines Flugzeuges, eine Sprengung oder eine Explosion in einem petrochemischen Werk gewesen sein ñ aber keine Bombe.

… und Imformationshunger

Kurz darauf berichtete man mir, ein Soldat habe in der vorangehenden Nacht Mitglieder einer paramilitärischen Organisation Chinchulines an den Waffen ausgebildet. Man habe gesehen, wie drei Männer durchs Dorf gegangen seien, alle bewaffnet, und einer in Soldatenkleidern. Auf meine Frage, ob man die zwei Männer aus dem Dorf gekannt habe und mir Namen sagen könne, erhielt ich keine Antwort. Ich war ratlos und wusste nicht, ob ich überhaupt eine Meldung ans Menschenrechtszentrum in San Cristobal machen sollte.

Aber es herrscht nicht nur ein lnformationsmangel, sondern auch ein lnformationshunger. Mit meinem kleinen Kurzwellenradio konnte ich Nachrichten hören von Schweizer Radio International bis Radio Cuba. Eines Abends berichtete der spanische Auslandfunk, Bischof Samuel Ruiz habe die mexikanische Regierung dazu aufgefordert, Chiapas zu entmilitarisieren. Ich gab die Nachricht weiter und war von da an regelmässig von Mithörern umgeben. Vor meiner Abreise schenkte ich das Radio der der Dorfbibliothek, damit es von Interessierten genutzt werden kann.

*Robert Z., 49, ist reformierter Pfarrer. Er verbrachte im Sommer 1997 zwei Monate in einem Campamento civil por la paz.

Der Krieg verwischt die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Einbildung. Der Informationsnotstand der Zivilbevölkerung liegt ganz im Interesse der Machthaber. Oder ist auch das nur Einbildung?