Chiapas 4: Sehen und gesehen werden

Nicht profilierungssüchtige AktionheldInnen sind im Konflikt zwischen mexikanischer Armee und zapatistischer Bewegung gefragt, sondern zuverlässige BeobachterInnen, die im entscheidenden Moment genau das tun, was vernünftigerweise von ihnen erwartet werden kann ï Den Chiapas-Freiwilligen Jean-Daniel S.* befragte Hans Hartmann

Was war deine Motivation für einen Friedensdiensteinsatz in Chiapas?

Von CORSAM habe ich erstmals im April 1997 durch einen Zeitungsartikel in der welschen Presse erfahren. Da ich Chiapas schon von früheren Besuchen her kannte und da ich mich generell für humanitäre Anliegen interessiere, nahm ich mit CORSAM Kontakt auf. Nach einem Info-Nachmittag und einem Vorbereitungskurs im vergangenen Herbst entschloss ich mich endgültig, mich in diesem Projekt zu engagieren.

Was macht man in einem Vorbereitungskurs?

In erster Linie wird man informiert: über die Geschichte Mexikos und den Hintergrund des Konfliktes in Chiapas, über wirtschaftliche und religiöse Zusammenhänge und über die Strategie des Low-Intensity-Konflikts. Daneben übten wir in Rollenspielen verschiedene Verhaltensweisen. Zum Beispiel: Was tun, wenn das Militär bei einer Strassenkontrolle die mitreisenden Einheimischen schikaniert? Wir haben gelernt, dass wir nicht direkt intervenieren sollten, aber durchaus nachfragen dürfen, wenn es Probleme für die Einheimischen gibt.

Welches sind die wichtigsten Fähigkeiten, die Freiwillige für einen solchen Einsatz mitbringen sollten?

In erster Linie muss man zumindest gegen aussen unparteiisch bleiben können, auch wenn man im Herzen mit der indigenen Zivilbevölkerung sympathisiert. In Konfliktsituationen muss man vor allem ruhig bleiben und das Maul halten. Man muss auf die Bedürfnisse der Gemeinschaften reagieren können, aber man sollte keine Eigeninitiative ergreifen, denn es geht ja nicht um einen Selbstverwirklichungstrip.

Ebenfalls gefordert sind Teamfähigkeit und die Bereitschaft, das Alltagsleben unter schwierigen Bedingungen selbständig zu organisieren. Den Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung sollte man sich nicht zu romantisch vorstellen: Immerhin herrscht Krieg und Bespitzelung kann nie ausgeschlossen werden ñ sogar Kinder werden dafür eingesetzt. Sowohl für die Einheimischen als auch für die InternationalistInnen ist es gefährlich, zu viel zu wissen. Auch in ruhigen Perioden darf man nie vergessen, dass man sich mitten in einem Konflikt auf Leben und Tod befindet, der von einer Sekunde auf die andere höchste Aufmerksamkeit erfordern kann. Das wichtigste aber ist einfach: präsent sein, sehen und gesehen werden.

Das tönt bescheiden. Bewirkt diese passive Präsenz überhaupt etwas?

Die Anwesenheit ausländischer BeobachterInnen befreit die Bevölkerung ein wenig von der ständigen Angst. Viele Menschen mussten im Februar 95 vor der Armee flüchten und verbrachten Wochen oder Monate im Dschungel. Heute ist das Militär in Chiapas allgegenwärtig: Es gibt etwa 70 Militärcamps, grösstenteils in unmittelbarer Nähe von Siedlungen. Die 26 Friedenscamps wurden nicht zuletzt eingerichtet, um dieser dauernden Bedrohung etwas entgegenzusetzen.

Was tut die Armee in Chiapas konkret?

Eine Strategie der Armee ist es, die Gemeinschaften unter dem Vorwand der Sozialhilfe zu spalten. Ich habe zufällig selbst miterlebt, wie in Nuevo San Juan Chamula an der Grenze zu Guatemala Soldaten mit vier Armeefahrzeugen vorfuhren und begannen, Nahrungsmittel zu verteilen. Meistens werden für solche Aktionen Dörfer ausgewählt, die stark zwischen Anhängern der Regierungspartei PRI und ZapatistInnen polarisiert sind. Natürlich profitieren nur die ‹Priisten› von solchen Aktionen.

Die Spaltung wird also von der Regierung bewusst vorangetrieben?

Ja, das ist eine auf lange Sicht angelegte Strategie. Sie beginnt bei der Blockade der Friedensverhandlungen auf höchster Ebene und endet bei unzähligen Vorgängen im alltäglichen Leben, mit welchen KritikerInnen eingeschüchtert und Sympathien erkauft werden. Die Regierung kann dabei auf das weitverzweigte Netz lokaler Machthaber bauen, die in der PRI organisiert sind. Letztlich ist zu befürchten, dass die systematische Schwächung und Einschüchterung der Opposition den Boden für eine militärische Lösung des Konflikt vorbereiten soll.

Ein weiteres Element dieser Strategie ist die ständige Einschüchterung der Bevölkerung bei ihrer täglichen Arbeit. Hubschrauber und Flugzeuge ñ nach Angaben der Zapatisten auch Schweizer Pilatus-Maschinen ñ überfliegen bewohnte Gebiete im Tieflug, zehnmal, zwanzigmal, immer wieder. Oder Soldaten bedrohen Bauern mit vorgehaltener Waffe, fragen nach Waffenverstecken oder nach dem Aufenthaltsort des Subcommandante Marcos, leeren Kaffeesäcke aus, verbieten ihnen bestimmte Wege zu benutzen etc. Immer wieder gibt es «Soldaten-Alarm» und die Bauern rennen verängstigt nach Hause.

Meistens geht es um Provokation ñ gezielte Provokation, die die alltäglichen Lebens- und Wirtschaftsstrukturen der Zivilbevölkerung schwächen sollen. Auch ein «falscher» Alarm kann einen ganzen Arbeitstag vernichten.

Gehört das Massaker vom 22. Dezember in Acteal auch zu dieser Einschüchterungsstrategie? Durchgeführt wurde das Massaker ja nicht von der Armee, sondern von Paramilitärs. Wer sind diese Leute?

Das sind zumeist «gewöhnliche» Zivilisten, die sich für Geld rekrutieren lassen und von Militärs oder Polizeibeamten Waffentraining erhalten. Diese Paramilitärs werden von der Regierungspartei finanziert, organisiert und ideologisch kontrolliert. Offiziell treten sie als «unabhängige» Kraft auf. Das macht sie zu einer der Hauptwaffen für die Schmutzarbeit in der Low-Intensitiy-Kriegsführung. Durch Todesschwadrone begangene Morde, Entführungen und andere Menschenrechtsverletzungen werden kaum je gerichtlich geahndet, da die Verantwortlichen politisch gedeckt werden.

Die Armee ihrerseits nimmt das Massaker jedenfalls zum Vorwand, ihre Präsenz in Chiapas noch mehr zu intensivieren ñ angeblich um die Bevökerung zu schützen. Seit dem 1. Januar dieses Jahres hat die Armee ihre Präsenz in ganz Chiapas ausgeweitet, auch in den bisher von den ZapatistInnen kontrollierten Zonen. Die Gemeinde Morelia beispielsweise wurde erstmals am 3. Januar für einige Stunden von Soldaten besetzt. Ich erreichte das Dorf am 7. Januar. Die Bevölkerung befand sich in höchster Anspannung. Ständig gab es Alarm. Am Mittag des 8. Januars fuhren dann neun Armee-Lastwagen mit 170 Soldaten sowie ein Fahrzeug der Bundespolizei mit bewaffneten Zivilisten und Angehörigen verschiedener Polizeieinheiten bis unmittelbar vor den Dorfeingang.

Dann geschah etwas, das ich nie vergessen werde: Etwa 50 Frauen und eine ganze Schar von Kindern rannten den Soldaten vor Wut schreiend entgegen und schlugen mit Stöcken und Steinen auf die Fahrzeuge ein. Die Kolonne zog sich darauf hin etwa einen Kilometer zurück, um erneut von den Lastwagen abzusteigen ñ Frauen, Kinder und wir InternationalistInnen hinterher. Dieses «Spiel» wiederholte sich ein paar mal. Wegen der angespannten Situation waren fast ein Dutzend internationale BeobachterInnen anwesend. Das verunsicherte die Militärs offenbar. Einmal forderten sie uns auf, die Frauen zu «beruhigen», dann wiederum beschuldigten sie uns, die Dorfbevölkerung zum Widerstand aufzuwiegeln. Dabei wurden wir ständig fotografiert. Wir haben darauf gar nicht reagiert, bis sich die Armee schliesslich zurückzog.

Was wäre passiert, wenn in Morelia keine BeobachterInnen anwesend gewesen wären?

Später haben wir erfahren, dass dieselbe Armee-Kolonne am darauffolgenden Tag unweit von Morelia die Gemeinde Diez de Mayo besetzte ñ eine Gemeinde, die bisher vom Konflikt weitgehend unberührt geblieben war, die aber auch kein Friedenscamp hat. Nachdem sich die Militärs versichert hatten, dass keine AusländerInnen im Dorf anwesend waren, begannen sie, die Bevölkerung zu misshandeln und Scheinexekutionen durchzuführen.

Das zeigt wie wichtig eine dauerhafte Präsenz solcher BeobachterInnen ist. Auch in der Gegend von Acteal, wo das Massaker stattfand, gab es bisher kein Friedenscamp. Das soll sich jetzt ändern. Es braucht mehr Friedenscamps und mehr gut vorbereitete internationale BeobachterInnen, um zu verhindern, dass die Armee ihre Strategie der Provokation und Spaltung ungehindert weitertreiben kann.

Jean-Daniel S., 32, ist Sozialwissenschafter in Lausanne. Er war von November 1997 bis Januar 1998 in verschiedenen chiapanekischen Friedenscamps im Einsatz.