Wahrheit und Gerechtigkeit

Der Kampf um eine gemeinsame Erinnerung ist Voraussetzung für Gerechtigkeit und Frieden. Können Täter und Opfer zugleich in diesen Prozess einbezogen werden? Die Kommission für Wahrheit und Versöhnung in Südafrika leistet Pionierarbeit ï Von Hlengwiwe Mkhize*

Die Kommission für Wahrheit und Versöhnung (TRC) gleicht einer Zugfahrt in die Wildnis: Seit die TRC im Dezember 1995 gegründet wurde, hat sie die SüdafrikanerInnen zu entlegenen staatlichen Farmen und Sportanlagen geführt, wo FreiheitskämpferInnen gefoltert, ermordet, verbrannt und verscharrt wurden. ZeugInnen, Überlebende und Opfer bezeugten, wie sämtliche Institutionen und Organe der Gesellschaft, die Rechtssprechung, das Gesundheitswesen, die Polizei, die Armee, der Ausbildungssektor, die Wirtschaft, die Vereine, die Medien und sogar Glaubensgemeinschaften gröbste Menschenrechtsverletzungen begangen haben. Diese Reise durch Südafrika enthüllte den Schrecken des Apartheid-Regimes. Die Ära der Apartheid zeigte sich als trauriger Höhepunkt von Jahrhunderten kolonialer und rassischer Herrschaft.

Zwei verschiedene Geschichten

Die TRC hat eine Debatte um die Begriffe «Wahrheit» und «Gerechtigkeit» ausgelöst. Erwartungsgemäss gibt es in einer Gesellschaft, die jahrelang geteilt war, unterschiedliche Wahrnehmungen von Tatsachen der Vergangenheit. Zwar wird allgemein anerkannt, dass die Vergangenheit Südafrikas schrecklich war, weil der Staat gemordet und gefoltert hat, weil er jene verschwinden liess, die als Bedrohung des «Friedens» und der Stabilität eingestuft wurden ñ doch dass dahinter eine systematische Politik stand, wird verleugnet. Abstreiten ist auch eine Verteidigungsstrategie: Zu Fällen, in denen die Politik Leute von der Staatssicherheit dazu ermuntert hatte, BürgerInnen, die als TerroristInnen wahrgenommen wurden, zu eliminieren, sagten später Angehörige des Apartheid-Regimes vor der TRC aus, «eliminieren» heisse nicht töten.

Versöhnung versus Gerechtigkeit

Die Hauptrollen im Drama der TRC spielen die Opfer und die TäterInnen. Werden ZeugInnen als Opfer anerkannt, formuliert ein Reparationskomitee zuhanden der Regierung eine Empfehlung über die angemessene Form der Wiedergutmachung. Die Arbeit des Komitees ist ein Versuch, die Schmerzen der Vergangenheit zur Sprache zu bringen und nach symbolischen Wegen zu suchen, die Wunden zu heilen und die begangenen Ungerechtigkeiten auszugleichen. Das der Arbeit der Kommission zugrunde liegende Gesetz enthält aber auch eine Amnestie-Klausel. Sie erlaubt den TäterInnen, die Geschichte ihrer Menschenrechtsverletzungen dem Amnestie-Komitee zu eröffnen. Das Komitee entscheidet dann von Fall zu Fall, ob ihnen Amnestie zu gewähren sei.

Die Frage bleibt, ob ein solcher Prozess TäterInnen und Opfern Gerechtigkeit bringen kann. Es gibt Angehörige von Opfern, die eine Amnestierung des Täters als Verhöhnung der Gerechtigkeit empfinden würden. Auch für die TäterInnen ist die Veröffentlichung der Ereignisse nicht einfach, insbesondere weil ihre Angehörige oft nichts von diesen Aktivitäten wussten. Die TäterInnen argumentieren, sie seien vom Staat veranlasst worden, die Verbrechen zu begehen; sämtliche Institutionen hätten eine permissive Haltung an den Tag gelegt und das soziale Umfeld der Zeit habe ihr Denken und ihr Gewissen so beeinflusst, dass sie ihre Handlungen nur als Umsetzung der dominanten Politik beurteilt hätten.

Gesichter statt Zahlen

Die Arbeit des Komitees erlaubt keine simplen Antworten auf diese Probleme. Der nun 18 Monate dauernde Prozess mag juristische Mängel aufweisen, hat aber doch wenigstens das Schweigen gebrochen. Er hat jenen eine Stimme und ein Gesicht gegeben, die bisher nur Chiffren einer Statistik waren.

Rehabilitation und Wiedergutmachung ist ein langjähriger Prozess. Die ganze südafrikanische Gesellschaft muss daran teilnehmen. Unsere Hearings haben gezeigt, dass die Nichtregierungsorganisationen (NGOs) die Hauptlast der Arbeit tragen. Von ihnen wird auch die Rehabilitationspolitik vorangetrieben werden. Sie leiden aber unter ständigem Geldmangel und brauchen die Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft und die Anerkennung durch den Staat

Es bleibt zu hoffen, dass die Wiedergutmachung den Bedürfnissen von Überlebenden und Opfern entspricht. Wir sind uns bewusst, dass weder materielle Wiedergutmachung noch Rehabilitation die physischen und psychischen Verletzungen des Apartheidsystems ungeschehen machen kann. Sie sind vor allem als symbolische Gesten der Anerkennung des durch den Staat verursachten Leidens zu sehen.

Wir wollen Frieden von unten aufbauen und dazu alle Beteiligten miteinbeziehen. Während des Kampfes gegen die Apartheid haben sich ‹Graswurzel-Strukturen› entwickelt. Wir hoffen, dass der Rehabilitationsprozess diese Strukturen reaktiviert und so auch die arme und ländliche Bevölkerung daran teilnehmen lässt. Schon heute hat die Arbeit der TRC in Südafrika einen Raum eröffnet, in dem sich einstige FeindInnen angstfrei gegenübertreten können. Daraus kann ein gemeinsames Verständnis der Vergangenheit und hoffentlich eine gemeinsame Zukunft entstehen.

*Hlengwiwe Mkhize ist die Vorsitzende des Komitees for Reparation and Rehabilitation der Truth and Reconciliation Commission (TRC) in Südafrika. Wir präsentieren die gekürzte Fassung eines Vortrages, den sie Ende Okotber 1997 an einem von der GSoA mitorganisierten Seminar in Trogen (AR) hielt.