Ohne Feind zu allem fähig

Die Militärchefs fordern eine europäische Verteidigungsidentität. Damit wollen sie ihre übergrossen Armeen legitimieren und endlich Unabhängigkeit vom grossen Bruder USA erreichen. Wer setzt diesem War-Game ein Ende? ï Von Lühr Henken*

Am 17. März 1998 wird die Westeuropäische Union (WEU) 50 Jahre alt. Frankreich, Grossbritannien und die Benelux-Staaten gründeten diesen Militärpakt 1948 als kollektives Verteidigungsbündnis gegen Deutschland. Als weitere Vollmitglieder sind 1955 Deutschland und Italien, 1989 Spanien und Portugal und 1995 Griechenland hinzugekommen. Die fünf weiteren Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU) Dänemark, Finnland, Irland, Österreich und Schweden sind Ständige Beobachter. Der Kreis der WEU-Staaten erweiterte sich seit 1992 noch um die Assoziierten Mitglieder (die Nato-Staaten Island, Norwegen und Türkei) und seit 1994 um die Assoziierten Partner, die mit der EU ein Europaabkommen haben. Von den insgesamt 28 Staaten sind jedoch nur die zehn Vollmitglieder dem Artikel V des WEU-Vertrages unterworfen, der im Falle eines «bewaffneten Angriffs» auf ein Mitgliedstaat «die anderen» bindet, «alle in ihrer Macht stehende militärische und sonstige Hilfe und Unterstützung (zu) leisten».

EU-Militarisierung

Mit dem Vertrag von Maastricht legte die EU Ende 1991 fest, dass sie als ein wesentliches Element ihrer politischen Union die Entwicklung einer Gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik (GASP) anstrebt. Die GASP umfasst auch «die Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik, (...) die zu einer gemeinsamen Verteidigung führen könnte.» Im Maastrichter Vertrag ersucht die EU die WEU, «die Entscheidungen und Aktionen, die verteidigungspolitische Bezüge haben, auszuarbeiten und durchzuführen». Dies markiert den Auftakt zu einer Militarisierung der EU. Die WEU beschloss ihrerseits in der Petersberg-Erklärung vom 19. Juni 1992, dass militärische Einheiten ihrer Mitgliedsstaaten für «humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, friedenserhaltende Massnahmen sowie für Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung einschliesslich Massnahmen zur Herbeiführung des Friedens» eingesetzt werden können.

Voraussetzung für einen Einsatz sollen sein: Ein einstimmiger WEU-Beschluss, Nato-Kompatibilität und politische Deckung durch Uno oder OSZE. Ob sich ein WEU-Staat an der Durchführung beteiligt, liegt nach wie vor im nationalen Ermessen.

Der USA die Stirn bieten

Ziel der deutschen Regierung ist es, mittels der politischen Union Europas «ein Verhältnis gleichberechtigter Partnerschaft mit Nordamerika» zu entwickeln. Die WEU hat daher für sie «strategischen Rang». In diesen seit 29. November 1992 gültigen Richtlinien des Verteidigungsministeriums heisst es zwar auch, «dass diese Entwicklung in enger Abstimmung mit den nordamerikanischen Bündnispartnern erfolgt». Die Wirklichkeit spricht jedoch eine andere Sprache.

Seit 1993 besteht im spanischen Torrejon ein WEU-Satellitenzentrum, das u.a. Satellitenbilder zur Beobachtung von Krisen auswertet. Seit 1995 nutzen die Generalstäbe Frankreichs, Spaniens und Italiens gemeinsam den Militärsatelliten Helios I. Ab 2002 soll der nachtsichttaugliche Helios II die Erde umkreisen, an dessen Entwicklung sich auch Deutschland beteiligt. Und im Jahr 2005 soll der Radarsatellit Horus ins All geschossen werden. Diese Satelliten bilden ein Gesamtsystem, welches laut der deutschen Regierung eine «weltweite, uneingeschränkte und von der Zustimmung Dritter unabhängige Lagefeststellung» ermöglicht. Damit legt dieses Schlüsselprojekt der deutsch-französischen Rüstungskooperation den Grundstein für eine von den USA unabhängige militärische Interventionsfähigkeit Europas. Ein Angebot des US-Konzerns Lockheed über einen optischen Satelliten weit unter den europäischen Preisen wurde deshalb ausgeschlagen.

Truppenwirrwar sucht Kommandostruktur

Seit der Petersberger Erklärung wurden der WEU verschiedene konventionelle Truppen zugeordnet:

Jedoch verfügte die WEU bis zum Juni 1996 über keine operative Kommandostrukturen. Erst nach langwierigen Verhandlungen mit den USA wurden sie mit dem Konzept der Combined Joint Task Forces (CJTF) Ende 97 festgelegt. Demnach übernimmt für WEU-geführte Einsätze der traditionell aus einem europäischen Land stammende stellvertretende Nato-Oberbefehlshaber Europa das Kommando. Der Nato-Rat (mit den USA) muss den Einsätzen jedoch zustimmen, überwacht sie und kann sie jederzeit verändern. Da die USA die Einsätze (noch) mit Lufttransportmitteln, Kommunikationssystemen und mit Aufklärungsmitteln unterstützt, sind autonome WEU-Einsätze oberhalb einer Grössenordnung von 5í000 bis 6í000 Soldaten derzeit nicht möglich.

Artikel IV des WEU-Vertrages schreibt eine enge Zusammenarbeit mit der Nato vor und erklärt den Aufbau paralleler militärischer Stäbe der WEU für «unerwünscht». Allerdings legte sich die WEU im Mai 97 einen Militärausschuss zu, der aus den Generalstabschefs der zehn WEU-Vollmitglieder besteht.

Im Vorfeld der Diskussion um den Amsterdamer Vertrag vom 17. Juni 97 (Maastricht II) brachten die deutsche und die französische Regierung einen gemeinsamen Drei-Stufen-Plan ein. Binnen 9 Jahren sollte die WEU in die EU überführt und die militärische Beistandsverpflichtung nach Artikel V Inhalt des EU-Vertrages werden: Der Angriff auf ein EU-Land müsste von den anderen EU-Ländern als Angriff auf alle behandelt werden. Dieser Vorschlag wurde von Italien, Spanien, Belgien und Luxemburg unterstützt, scheiterte aber am Widerstand von Grossbritannien, das die Nato-Funktion für Europa nicht ausgehöhlt sehen will. Auch Dänemark und die Neutralen Schweden, Finnland und Österreich waren dagegen.

Verzahnung total

Dennoch hält der Amsterdamer Vertrag an der Integration von WEU und EU fest: Neu können die Regierungschefs der EU-Staaten Leitlinien für die WEU in Angelegenheiten festlegen, für welche die EU die WEU in Anspruch nimmt. Neu und brisant ist vor allem die Eingliederung der Petersberg-Aufgaben in den EU-Vertrag, wobei die WEU für deren Ausarbeitung und Durchführung sorgen soll. Zudem wurde die Schaffung einer Strategie- und Frühwarneinheit beschlossen, deren Personal u.a. aus dem EU-Generalsekretariat, der Europäischen Kommission und der WEU herangezogen wird. Dabei darf diese auf WEU-Einrichtungen wie die Planungszelle, das Lage- und das Satellitenzentrum zurückgreifen.

Demokratie Null

Unter dem Gesichtspunkt der Demokratie bleibt die GASP der EU eine geschlossene Veranstaltung. Weder auf nationaler noch auf europäischer Ebene gibt es Kontrollmechanismen. Das Europäische Parlament hat nach wie vor nur eingeschränkte Informations- und Anhörungsrechte.

Beharrlich wird an der militärischen Interventionsfähigkeit der EU gearbeitet. Zunächst verschafft sich die Nato damit mehr Flexibilität. Begünstigt durch den WEU-Vertrag, der ñ anders als der Nato-Vertrag ñ geographisch unbegrenzt gilt, sollen künftig Militärinterventionen auch ohne US-Truppen möglich sein. Angepeilt wird eine unabhängige europäische Rüstungsproduktion und eine unabhängige europäische Armee. Allmählich beginnt auch schon die Debatte über eine europäische Atomstreitmacht. Im ‹Gemeinsamen deutsch-französischen Sicherheits- und Verteidigungskonzept› vereinbarten Kohl und Chirac am 9. Dezember 1996 «einen Dialog über die Rolle der nuklearen Abschreckung im Kontext der Europäischen Verteidigungspolitik.»

Raus aus der WEU

Dieser langsame aber stetige Prozess der Militarisierung Europas wird bisher von einer breiteren Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Dabei wären die Forderungen nach der Auflösung der WEU und der Nato ebenso aktuell wie die nach dem Stopp der Militarisierung der EU, der Verschrottung der Atomwaffen und der Auflösung der Armeen. Der Zeitpunkt für einen Austritt aus der WEU wäre derzeit günstig. Am 17. März 1998 läuft die Bindungsfrist ab. Es gibt für Friedensbewegte noch einiges zu tun.

Für die Schweiz würde ein EU-Beitritt früher oder später bei Beibehaltung der Schweizer Armee auch Beteiligung an einer gemeinsamen Sicherheitspolitik bedeuten. Von Neutralität bliebe nicht mehr viel übrig. Andererseits würde bei einer Schweizer EU-Mitgliedschaft ohne Schweizer Armee all dies wegfallen und die Schweizer Friedensgruppen einen gewichtigen Beitrag gegen die Militarisierung der EU-Politik leisten können. Und das wäre sehr erfreulich.

*Lühr Henken ist Mitglied der ‹Bundesarbeitsgemeinschaft Frieden› im Fachbereich Aussenpolitik von Bündnis 90/Die Grünen und lebt in Hamburg

Unbehelligt von demokratischen Kontrollmechanismen macht sich EU-Europa für die militärischen Verteilungskämpfe des 21. Jahrhunderts fit. Wo bleibt die Kritik der Friedensbewegung?