Ende August veröffentlichte das VBS die Ergebnisse der Konsultationen zum Bericht der sicherheitspolitischen Kommission «Brunner». Dem Vernehmen nach ist die Schweiz grosso modo mit allem einvestanden. Aber eben: nur dem Vernehmen nach.
Von Hans Hartmann
Vernehmlassungen sind eine einseitige Angelegenheit: Der Vernehmlasser kann die Vernehmlassenden sich vernehmen lassen diejenigen nicht zu vernehmen, die ihm nicht passen, das wird er sich nicht nehmen lassen. Alles klar?
Das «Kernteam Armee 200X» im Departement Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS), verantwortlich für die Konsultationen zum «Bericht der Studienkommission für strategische Fragen», scheint sich durch eine besonders selektive Wahrnehmung auszuzeichnen. Dies, obwohl der sogenannte Brunner-Bericht selbst eine «grosse öffentliche Debatte» fordert und obwohl es VBS-Chef Ogi doch ein so grosses «Anliegen» ist, alle Partner «die interessierten Organisationen» inklusive «von Beginn weg in die Diskussion miteinzubeziehen» (Begleitbrief vom 26.2.1998).
Laut «Kernteam» haben sich neben Parteien, Kantonsregierungen und anderen Privatpersonen immerhin 70 «interessierte Organisationen und Gruppen» vernehmlassen lassen. Aber Ogi wird toben, sein Kernteam entlassen und die ganze Miteinbeziehungs-Übung wiederholen müssen: Die kritischen Stimmen aus der Friedensbewegung sind nämlich irgendwo im Bundeshaus verlorengegangen. Wie sonst wäre beispielsweise zu erklären, dass in der offiziellen Auswertung der Vernehmlassungsantworten behauptet wird: «die Notwendigkeit einer Verstärkung des internen Sicherheitsdispositives ist unbestritten», wenn es doch in der Stellungnahme der GSoA vom Juni 1998 dazu explizit heisst: «die GSoA lehnt diese schwammige, unbegründete Forderung ab»?
Die VBS-Auswertung der Konsultation zeichnet mit wenigen Ausnahmen ein stereotypes Bild: Eine überwiegende Mehrheit der Antwortenden «identifiziert» sich mit den Kommissions-Empfehlungen, während eine «kleine Minderheit» von Ewiggestrigen krampfhaft am Status quo festhalten will. Friedenspolitischen Bedenken zur neuen Sicherheitsdoktrin stossen im Hause Ogi hingegen auf taube Ohren.
Vielleicht ist ja auch nur die Auffassungsgabe im VBS ein wenig langsam. Geben wir den Ogi-Boys nochmals eine Chance geben und fassen die zehn wichtigsten Kritikpunkte aus der Vernehmlassungsantwort der GSoA zum «Brunner-Bericht» zusammen.
Wie die Studienkommission konstatiert auch die GSoA mit Genugtuung die Herausbildung eines «Sicherheitsraumes» in Europa. Die wachsende wirtschaftliche, politische, institutionelle und gesellschaftliche Verflechtung der europäischen Staaten insbesondere im Westen des Kontinents macht einen künftigen Krieg zwischen diesen unwahrscheinlich, ja undenkbar. Dieser Prozess macht eine massive und letztlich totale Abrüstung dieser Staaten realpolitisch möglich vorausgesetzt der EU-Sicherheitsraum definiert sich nicht als Festung Europa in Abgrenzung zu mit den umliegenden Staaten und der internationalen Gemeinschaft, sondern durch die sicherheitspolitische Kooperation mit diesen.
Es ist unverständlich, warum die Studienkommission trotz gegensätzlicher Lageanalyse am schablonenhaften Verteidigungsdenken festhalten will. Tatsache ist: Die Schweiz ist militärisch nicht bedroht. Statt an der militärischen Abwehr imaginärer Bedrohungen festzuhalten, sollte sie daran arbeiten, dass dies so bleibt. Die Beibehaltung von militärischen «Kernkompetenzen» ist dafür bestenfalls irrelevant und daher aufzugeben. Der Landesverteidgungsgedanke hat endgültig ausgedient.
Die Studienkommission beschwört die Gefahr von terroristischen Raketenangriffen. Zur Zeit verfügt kein als potentiell bedrohlich bezeichnetes Regime über Raketen, die die Schweiz erreichen könnten. Die Schweiz sollte daher ihre Anstrengungen darauf konzentrieren, die Verbreitung entsprechender Technologien unterbinden zu helfen.
Davon abgesehen, dass Terroristen Anschläge mit einfacheren und billigeren Mitteln durchführen können, unterlässt es die Studienkommission, sich über deren politische Plausibilität Gedanken zu machen. Wozu sollte die Schweiz denn eigentlich erpresst werden? Was wären die politischen Kosten für einen allfälligen Erpresser? Würde nicht gerade die Abrüstung der Schweiz diese politischen Kosten in die Höhe treiben?
Dass solche Fragen von der Studienkommission nicht einmal gestellt wurden, weist darauf hin, dass die Terror-Rakete eher ins Reich der Hollywood-Phantasien als zu einer verantwortungsvollen Aussenpolitik gehört. Dasselbe gilt für die von der Studienkommission vage in Aussicht gestellten «Störungen im Informatikbereich».
Die Komission hält angesichts der angeblichen «Gefahr schwerwiegender terroristischer Aktionen» die Aufstellung eines speziellen militärischen «Einsatzkorps» für angezeigt. Der Einsatz der Armee für polizeiliche Aufgaben ist aber nicht nur rechtsstaatlich bedenklich; er ist zudem selbst nach Einschätzung anerkannter Polizei-Experten völlig unnötig. In der Schweiz sind 14000 voll ausgebildete Polizeibeamte tätig; davon können 7500 für den Ordnungsdienst und 800 als Antiterrorspezialisten eingesetzt werden doppelt so viel wie in Österreich und halb so viel wie in Deutschland.
Aus denselben Gründen ist auch der Einsatz der Armee zur Repression von Migrationsbewegungen, wie ihn die Kommission ins Auge fasst, kategorisch abzulehnen. Die GSoA unterstützt hingegen die Kommissionsempfehlung, «primär die Ursachen der Migration durch internationale Bemühungen im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit und humanitären Hilfe, der Katastrophenhilfe, der Förderung der Menschenrechte und mit Stabilisierungsmassnahmen anzugehen». Zusätzlich fordert die GSoA die Unterstützung der vielfältigen Ansätze gewaltfreier Konfliktbearbeitung, welche die politische Lösung gewaltträchtiger Auseinandersetzungen begünstigen.
Der von der Kommission geforderte Einsatz eines Solidaritätskorps zu «Rettungseinsätzen» reiht sich ein in die Bemühungen der Armee, sich als Katastrophenhilfeorganisation zu profilieren. Katastrophenhilfe kann jedoch von speziell dafür konzipierten zivilen Organisationen viel effizienter gewährleistet werden.
Die GSoA lehnt eine «Erweiterung der Aufgaben und Strukturen der Nachrichtendienste» ab. Der militärische Nachrichtendienst ist statt dessen aufzugeben. Nur vorbehaltlose Transparenz in militärischen Angelegenheiten trägt zur weiteren Entspannung in Europa bei.
Ebenso lehnt die GSoA die Schaffung eines «verwaltungsunabhängigen Sicherheitsrates» ab. Sicherheit ist nicht in erster Linie eine Frage des administrativen «Krisenmanagements», sondern das Resultat einer gesellschaftlich abgestüzten Konfliktkultur. Statt mehr Sicherheits-Technokratie braucht die Schweiz eine möglichst breite Debatte über die Definition von Sicherheit und über die politischen Prioritätensetzungen, mit denen mehr Sicherheit erreicht werden soll.
Die GSoA unterstützt die Forderung der Kommission Brunner nach einem aktiveren internationalen Engagement der Schweiz. Die GSoA lehnt aber die Einschätzung, die bilaterale und multilaterale Zusammenarbeit habe «vor allem auf den Gebieten der sicherheitspolitischen und militärischen Ausbildung und Technologie» zu geschehen, aus zwei Gründen ab: Erstens sind zivile Formen der Zusammenarbeit für die Vorbeugung, Deeskalation und langfristige Überwindung gewaltförmiger Konflikte von ungleich grösserer Bedeutung. Zweitens ist die gegenwärtig praktizierte Form militärischer Zusammenarbeit gefährlich, weil sie entweder dem Blockdenken des Kalten Krieges folgt oder aber die Bildung neuer machtpolitischer Konfliktlinien begünstigt.
Das schweizerische Neutralitätskonzept ist spätestens seit einem halben Jahrhundert überholt. Es sollte endlich fallengelassen werden allerdings nicht, wie von der Studienkommission angedeutet, zugunsten einer stärkeren Blockbindung an die Nato, sondern im Interesse einer wirklich solidarischen Kooperationspolitik mit allen friedensorientierten Kräften.
Dazu werden in Zukunft neben den globalen und regionalen Körperschaften (Uno, OSZE) vor allem zivilgesellschaftliche Akteure (Nichtregierungsorganisationen) gehören, die über nationale Grenzen hinweg die Annäherung verschiedener Gesellschaften unterstützen. Zu diesem sicherheitsrelevanten Zukunftsthema hat sich die Studienkommission nicht einmal ansatzweise Überlegungen gemacht.
Die GSoA unterstützt eine stärkere Beteiligung der Schweiz an internationalen Friedensbemühungen. Demgegenüber lehnt sie die Bewaffnung der Gelb- und Blaumützen sowie die Schaffung eines bewaffneten «Solidaritätskorps» zum jetzigen Zeitpunkt klar ab. Aus mindestens drei Gründen sollte sich unser Land auf absehbare Zeit auf zivile Massnahmen konzentrieren:
Nur gewaltfreie Konfliktbearbeitung kann die gewalttätige Eskalation von Konflikten dauerhaft vermeiden, Konfliktkonstellationen aufweichen sowie den Wiederaufbau und die soziale Erholung gewaltgeschädigter Gesellschaften fördern. Weltweit besteht ein riesiger Bedarf für solidarische, gewaltfreie Konfliktintervention. Gerade eine Schweiz ohne Armee könnte hierzu einen wichtigen Beitrag leisten.
Unbewaffnete Akteure können in Konflikten viel eher eine vermittelnde und deeskalierende Rolle spielen als bewaffnete Truppen. Dies trifft sogar für Militärpersonal zu das belegen etwa die vielfältigen Erfahrungen schweizerischer Militärbeobachter in UN- bzw. OSZE-Missionen. Dass die Studienkommission die «Würde» unseres Landes von der Bewaffnung schweizerischer Gelb- und Blaumützen abhängig macht, muss vor diesem Hintergrund als ein erschreckend unreflektierter Rückfall in veraltete Krieger- und Heldenmythologie verurteilt werden.
Bewaffnete Interventionen können gewalttätige Konflikte bestenfalls einfrieren und so Zeit für die Erarbeitung politischer Auswege verschaffen. Voraussetzungen dafür ist allerdings, dass die Intervention nicht den Machtinteressen der intervenierenden Mächte folgt, sondern auf international anerkannten Rechtsprinzipien beruht. Zudem müssen bewaffnete Interventionen, sollen sie nicht im Desaster enden (wie in Somalia), in ein politisches Konzept eingebettet sein, das konsequent auf die friedenswilligen Kräfte aller beteiligten Parteien setzt.
Die Schweiz täte gut daran, die dafür unabdingbaren Instrumente der internationalen Gemeinschaft (Völkerrecht, Demokratisierung der Uno) zu stärken, statt dem machtpolitischen Interventionskalkül von Blockorganisationen (Nato) zu folgen. Dies ist um so leichter möglich, als heute ein Überangebot an interventionswilligen Truppen besteht.
Die Beteiligung an Kriegen, aus welchen Beweggründen auch immer, ist eine äusserst ernsthafte Angelegenheit. Die Frustration über den blockierten Öffnungsprozess in der Schweizer Aussenpolitik darf nicht zu Kurzschlussentscheiden führen. Die Forderung der Studienkommission, ein bewaffnetes «Solidaritätskorps» zu schaffen, ist ein solcher zu wenig durchdachter Reflex. Statt einer sachlichen Analyse der Vor- und Nachteile dieser Massnahme steht einmal mehr die Legitimation der Armee um jeden Preis im Vordergrund.