Natrolität
Neutralität und Gewaltfreiheit eine natürliche
Verbindung? In Österreich wird die Neutralität im Gegensatz
zur Schweiz in friedenspolitischen Kreisen intensiv diskutiert. Die
GSoA war an einer Veranstaltung dabei Von Renate Schoch
Österreich und die Schweiz haben auf den ersten Blick manches
gemeinsam: Beide sind kleine Alpenländer, beide sind neutral und
beide haben eine Milizarmee. Doch die Unterschiede sind bedeutend:
Österreich ist in der EU, Österreichs Neutralität ist
viel jünger als die der Schweiz, das österreichische
Bundesheer ist viel kleiner als die Schweizer Armee. Und obwohl
Österreichs «immerwährende Neutralität»
1955 im Staatsvertrag verankert wurde, wollen alle bürgerlichen
und rechten Parteien die Neutralität zugunsten eines
Nato-Beitritts aufgeben.
Bundesrätliche Slalomfahrt
Ist die Neutralität keine valable Haltung mehr für einen
Kleinstaat? Der schweizerische Bundesrat beantwortet diese Frage mit
einem klaren Jein. Zwar will er weiterhin an der aussen- und
sicherheitspolitischen Strategie der Neutralität festhalten
gleichzeitig räumt er aber ein, dass zur «Wahrung der
Schweizer Interessen eine aktive aussenpolitische Haltung der
umfassenden Solidarität, der regionalen und weltweiten
Kooperation und Partizipation notwendig» sei. Daher habe das
Instrument der Neutralität an Effizienz und Wirksamkeit
eingebüsst (Bericht zur Neutralität 1993). Der Bundesrat
verhehlt auch nicht, dass die Neutralität weniger die
ökonomische Integration behindert als vielmehr ein
sicherheitspolitisches Problem aufwirft. Noch vor wenigen Jahren
argumentierte der Bundesrat ganz anders: Laut den völkerrechtlichen
Verträgen von Den Haag zum Land- und Seekriegsrecht von 1907
habe sich die Schweiz nicht nur zur dauernden, sondern auch zur
bewaffneten Neutralität verpflichtet. Um diese Verträge
einhalten zu können, müsse die Schweiz ihre Neutralität
selbständig vor Übergriffen verteidigen können
(Botschaft zur GSoA-Initiative 1988). Folglich müsse ein
neutrales Land eine Armee unterhalten, die stark genug sei, um
Neutralitätsverletzungen abzuwehren. Zu den Pflichten des
neutralen Staates gehöre die Selbstverteidigung, d.h. «die
Aufstellung einer Armee und ein angemessener Rüstungsstand. (
)
Die Abschaffung der Armee würde somit nicht nur unsere
politisch-strategische Glaubwürdigkeit zerstören, sondern
der Preisgabe unserer völkergewohnheitsrechtlich verankerten und
völkervertragsrechtlich anerkannten dauernden Neutralität
gleichkommen.»
«Veränderte Verhältnisse»
Bereits fünf Jahre später meint der Bundesrat: Zwar sei
die Schweiz heute immer noch verpflichtet, Neutralitätsverletzungen
abzuwehren, doch «selbst im Bereich der konventionellen
Kriegsführung wird eine selbständige
Verteidigungsorganisation immer schwieriger und vor allem immer
kostspieliger. (
) Sollte es soweit kommen, dass die Schweiz
sich gegen neue Waffensysteme oder neue Bedrohungsformen nicht mehr
ausreichend schützen kann, dann müsste ihre bisherige
Sicherheits- und Verteidigungspolitik den veränderten
Verhältnissen angepasst werden. (
) Die Neutralität
soll die Sicherheit des Landes fördern, nicht die
Verteidigungsfähigkeit schmälern.» (Bericht zur
Neutralität 1993). Ein paar Zeilen weiter unten erklärt der
Bundesrat, primäres Ziel der Sicherheitspolitik müsse die
Wahrung der Handlungsfreiheit sein. Diese hänge nicht nur von
der militärtechnischen Entwicklung, sondern vor allem vom
politischen Willen der Schweiz ab, «angemessene eigene
Anstrengungen für die Erhaltung einer selbständigen
Landesverteidigung zu erbringen.» Im Klartext: autonome
Verteidigung ist nicht nur viel zu teuer, sondern auch illusorisch,
aber wir organisieren sie trotzdem.
Armee oder Neutralität
Zwischen den Zeilen des bundesrätlichen Berichts
zur Neutralität steht zu lesen, dass die einzige Rettung der Schweizer
Armee (als Milizheer oder als Profi-Armee) ihre Integration in ein militärisches
Bündnis sprich in die Nato ist, was wiederum bedeutet,
dass die Legitimation der Armee nur zum Preis der Neutralität zu
haben ist. Vor die Wahl zwischen Neutralität und Armee gestellt,
hat sich der Bundesrat für letztere entschieden. Nur darf man das
nicht so offen sagen, denn Neutralität ist Opium für das Volk.
In Volkes Seele repräsentiert Neutralität nämlich all das,
was das Leben in diesem Land so angenehm macht: Wohlstand und Ruhe. Im
Mythos der Neutralität garantiert diese Chiffre das bürgerliche
Glück, wie es hierzulande immer noch erstrebenswert erscheint. Diffus
schwingen 150 Jahre Geschichte des Bundesstaates Schweiz mit. Neutralität
als Bewahrerin vor der Zerreissprobe im Europa der Grossmächte des
19. Jahrhunderts (siehe Artikel von Peter Hug in der GSoA-Zitig Nr. 78),
Neutralität als Bewahrerin vor der Hölle zweier Weltkriege,
Neutraliät als «Phantasma des Unversehrten» (Ursula Amrein
in der NZZ vom 19./ 20.9.98).
Neutralität über Bord!
Kein Wunder also, wenn 79 Prozent der SchweizerInnen an der
Neutralität festhalten wollen (Haltiner-Studie 1998).
Gleichzeitig spricht sich eine deutliche Mehrheit für ein
verstärktes internationales Engagement der Schweiz aus. Die
Frage ist also: Um welche Neutralität geht es? Wahrscheinlich
nicht um die Neutralität à la SVP, die «Einmischung
in fremde Händel» vermeiden will. Für die SP ist
diese Frage an sich schon überflüssig: «Die Linke
muss sich eingestehen, dass ihre Versuche, den Begriff Neutralität
auch in der Schweiz mit fortschrittlichen Inhalten zu füllen,
gescheitert sind», hält sie in ihrem Grundlagenpapier zur
Friedens- und Sicherheitspolitik (1998) fest. Neutralität sei
heute auf dem Weg zur Öffnung der Schweiz und zu einer
solidarischen Aussen- und Friedenspolitik zu einem Hindernis
geworden. Die Diskussion über eine verstärkte Beteiligung
der Schweiz an einer internationalen Sicherheitspolitik ist heute so
heftig wie nie zuvor. Lautet nun die linke Forderung also, die
Neutralität als Vorleistung für die europapolitische
Öffnung über Bord zu werfen?
«Aktive Neutralität»
Ganz anders verläuft die Diskussion in Österreich: Dort
diskutieren Linke, Grüne und Friedensbewegte intensiv über
Strategien einer «aktiven Neutralität» in der
Tradition von Bruno Kreisky, Bundeskanzler von 1970 bis 1983. Ihm war
es gelungen, Bewegung in den Nahost-Friedensprozess zu bringen, indem
er Yassir Arafat «salonfähig» machte.
Die einzige Möglichkeit für Österreich, 1955 von
den Siegermächten des zweiten Weltkriegs in die Unabhängigkeit
entlassen zu werden, bestand darin, sich für immerwährend
neutral zu erklären. Doch Österreich orientierte sich nicht
am Vorbild Schweiz, sondern entwickelte rasch ein eigenes, aktives
Neutralitätsverständnis. Bereits 1955 trat Österreich
der Uno bei und beteiligt sich seit 1961 mit Blauhelm-Soldaten an
UN-Operationen, vor allem im Nahen Osten.
Die Frage der bewaffneten Beteiligung war jedoch umstritten. Der
Gedanke der unbewaffneten Neutralität wurde in den 60er Jahren
von SPÖ-Aussenpolitiker Hans Thirring vertreten und seither in
Neutralität ist nicht an sich gut oder schlecht. Es
kommt darauf an, ob sie eine solidarische Politik eher fördert
oder behindert. |
Friedensorganisationen weiterentwickelt («Österreich
ohne Heer»). Die österreichischen Grünen
beispielsweise haben einen Optionenbericht «Sicher ohne Nato»
veröffentlicht. Darin sprechen sie sich für die Neutralität
als Grundlage einer friedlichen und solidarischen Aussenpolitik aus.
Sie schlagen vor, dass die neutralen und allianzfreien Staaten
Europas «weisse Zonen» bilden könnten. In diesen
Zonen werden keine Atomkraftwerke, keine Atomwaffen und keine
«offensiven militärischen Kräfte» geduldet.
Damit soll eine militärische Ausdünnung in den Randstaaten
und eine weitere Abrüstung in ganz Europa eingeleitet werden.
Europa einen Schritt voraus war Österreich auch bei der
Einführung Ziviler Friedensdienste. 1988 wurden die
«Österreichischen Friedensdienste» von kirchlichen
und friedenspolitischen Organisationen gegründet, seit 5 Jahren
finden Einsätze statt, die neuerdings auch als Wehrersatzdienst
angerechnet werden.
Intensiv geführt wird die Diskussion um eine aktive
Neutralität vor allem in den österreichischen Sektionen der
internationalen Friedensorganisationen Versöhnungsbund und Pax
Christi. Der Versöhnungsbund führte seine Jahresversammlung
im Oktober zum Thema «aktive Neutralität» durch und
lud neben dem Berliner Politologen Ekkehard Krippendorff auch
VertreterInnen von Pax Christi und der GSoA nach Linz ein.
Was heisst denn hier neutral?
In der Diskussion kamen die Hoffnungen und die Skepsis, die die Friedensbewegten
mit Neutralität verbinden, zur Sprache. Neutralität beinhaltet
zuerst einmal eine gewisse Distanz zu staatlicher Machtpolitik: Neutralität
und Krieg sind Gegensätze. Neutralität kann die Bedingung der
Zivilisierung von Aussenpolitik sein und Freiräume für eine
andere Form der Aussenpolitik eröffnen, beispielsweise das Verhandeln
mit nichtstaatlichen Akteuren in einem Konflikt. Neutralität kann
eine Grundlage für die Kritik am grassierenden Interventionsmus bilden,
sie kann staatliches Handeln aus der militärischen Logik herausheben
und auch konkret weitere Aufrüstung und Kostensteigerungen beim Militär
infolge Beitritt zu einem Bündnis verhindern helfen. Dieser letzte
Punkt gilt vor allem für Österreich, das, verglichen mit der
Schweiz, eine kleine und «billige» Armee hat. Neutralität
ist aber nicht prinzipiell gut oder schlecht, sie gewinnt ihre Legitimität
durch die Umstände: Sie muss friedenspolitisch genutzt werden. Man
muss sich also die Frage stellen, ob Neutralität eine solidarische
Politik eher fördert oder behindert. Ein neutrales Land muss sein
Engagement in internationalen Organisationen wie der Uno oder der OSZE
unter Beweis stellen. Severin Renoldner, Vizepräsident von Pax Christi
Österreich, schlug Zivilen Friedensdienst als Markenzeichen der Sicherheitspolitik
neutraler Länder vor. DiskussionsteilnehmerInnen betonten jedoch
auch, dass die Friedensbewegten in neutralen Ländern ihr «Heil»
nicht in einer Konzentration auf die Neutralität suchen dürften.
Auch von nicht neutralen Ländern gehen wichtige Impulse aus: Man
denke etwa an die Rolle des Nato-Landes Norwegen im Friedenprozess im
Nahen Osten oder an die Vorreiterrolle Deutschlands in der Entwicklung
Ziviler Friedensdienste.
Zentral für eine glaubwürdige Friedenspolitik ist eine
solidarische Aussenpolitik, die diesen Namen verdient. Dass dabei
militärische Bündnisfreiheit von Vorteil ist, liegt auf der
Hand. Friedensorganisationen in neutralen Ländern sollten jedoch
eine gewaltfreie Friedenspolitik von unten zum Angelpunkt ihrer
Aktivitäten machen und sich nicht in der Verteidigung
staatspolitischer Konzepte verstricken, deren Verknüpfung mit
ihren Zielen momentan geboten sein kann, die aber nicht den Kern
friedenspolitischer Arbeit ausmacht.
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