Die gegenwärtig in Europa bestehenden Verteidigungsbündnisse bilden kein verlässliches Sicherheitssystem. Das «Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg» hat einen Gegenentwurf erarbeitet, der die bestehenden Mängel beheben will. Hans-Joachim Giessmann, Politologe und Mitautor der Studie, stellte das Modell am GSoA-Seminar in Le Bémont vor.
Von Hans-Joachim Giessmann
Wer unmittelbar nach dem Ende des Ost-West-Konflikts erwartet hatte, das Zeitalter bewaffneter Konflikte neige sich in Europa endlich dem
Ende zu, sieht sich wenige Jahre später bitter enttäuscht. Anstelle einer höheren Berechenbarkeit der sicherheitspolitischen Stabilität, welche
sich auf die in der Pariser Charta der KSZE entwickelte Vision eines Europa «whole and free» gründen sollte, ist das Gegenteil eingetreten:
Unsicherheit darüber, ob, wo und in welchen Formen die veränderte Konfliktgeographie in Europa in den kommenden Jahren zu neuen
Krisen und Gewaltausbrüchen führt.
Gewiss kann eine stabile Friedensordnung in Europa nicht einfach ausgehend vom Reissbrett auf die Wirklichkeit übertragen werden. Die in
Angriff genommene Vollendung der Europäischen Union annähernd vierzig Jahre nach den Römischen Verträgen aus dem Jahre 1957 gilt
heute als das Symbol einer solchen Friedensordnung. Jedenfalls sind bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen ihren Mitgliedern mittlerweile
nur schon deshalb unwahrscheinlich, weil keine Seite aus einem solchen Konflikt unabhängig von dessen Verlauf und Dimension Nutzen
ziehen könnte. Angesichts des langen Weges von Rom nach Maastricht wird deutlich, dass mit einer solchen Ordnung nicht über Nacht für
ganz Europa gerechnet werden kann.
Über die Prinzipien eines Sicherheitssystems, das (wenigstens) militärische Gewalt zuverlässig zu vermeiden vermag, muss bereits am Anfang
Übereinstimmung erzielt werden. Wie soll anders eine Friedensordnung wachsen können, wenn nicht unter allen Beteiligten Sicherheit vor
bewaffneten Überfällen besteht? Wie aber kann andererseits ein Sicherheitssystem konstruiert werden, das zwar im Ansatz davon ausgehen
kann, dass von keiner Seite konkrete militärische Bedrohungen oder Feinde zu benennen sind, das aber zugleich verbreitete Besorgnisse
seiner Parteien zu berücksichtigen hat, dass unbestimmte Risiken oder politische Entwicklungen nicht künftig zu Konflikten innerhalb des
Systems führen?
Zur Zeit existiert ein Sicherheitssystem, das aus mehreren regionalen Subsystemen besteht (NATO, WEU, GUS), überwölbt durch ein loses
Dach gemeinsamer Prinzipien ohne Rechtsbindung (UNO und OSZE) und begrenzte übergreifende Regelungen etwa zur Rüstungskontrolle
und Abrüstung. Die Nachteile dieses Systems sind bereits deutlich geworden:
1. Subsysteme umschliessen immer nur einen Teil des europäischen Sicherheitsraumes. Probleme ausserhalb ihrer Grenzen können sie nicht
effektiv, schon gar nicht präventiv bearbeiten (Beispiel: Jugoslawienkonflikt).
2. Bündnisse kollektiver Verteidigung, d.h. Systeme, deren Prinzip auf wechselseitigen Beistand gegen von aussen gegen die Mitglieder des
Systems gerichtete Gefährdungen gründen, sind weder geschaffen noch strukturell imstande, auf Konfliktsituationen zwischen den Mitgliedern
konsequent zu reagieren (Inselstreit zwischen Griechenland und der Türkei).
3. Bündnisse kollektiver Verteidigung sind weder geschaffen noch strukturell geeignet, potentiell die Allianz destabilisierende Entwicklungen
innerhalb der Mitgliedstaaten verlässlich abzuwehren (türkisch-kurdischer Konflikt)
4. Bündnisse kollektiver Verteidigung sind immer eine Quelle für Bedrohungs- und Isolierungsängste auf seiten der von einer Teilhabe
ausgeschlossenen Staaten (Auseinandersetzung Russland-NATO).
5. Die Bildung von Subsystemen hinterlässt, soweit sie nicht unmittelbar aneinander grenzen, geographische und strategische
«Zwischenräume», die sehr leicht zum Spielball rivalisierender einflusspolitischer Überlegungen dieser Systeme werden können (Bulgarien,
Rumänien, baltischen Staaten und Ukraine).
6. Die fehlende Integration der Regeln, Strukturen und Prozeduren der Subsysteme erschwert, ganz abgesehen vom wechselseitigen
Ausschluss von Mitspracherechten, ein konzertiertes Handeln der Staaten und Bündnisse in einer Krisensituation und macht eine erfolgreiche
gemeinsame Krisenprävention wenig wahrscheinlich (Balkankonflikt, Tschetschenien).
Mit der Idee einer «Europäischen Sicherheitsgemeinschaft» (ESG) liegt ein diskussionsfähiger Gegenentwurf zur Gestaltung der europäischen
Sicherheit vor. Grundanliegen der ESG ist das Prinzip des Einstehens der Gemeinschaft für die Sicherheit jedes einzelnen ihrer Mitglieder,
gleichviel ob potentielle Bedrohungen durch die Mitglieder ausserhalb oder innerhalb der Gemeinschaft verortet werden. D.h. grosse wie
kleine Staaten stehen unter gleichem Recht, erhalten gleiche Sicherheit, übernehmen gleiche Verpflichtungen. Die Gewaltoption als
letztmögliche Zuflucht des Rechts auf Sicherheit und auf Bestrafung von Rechtsbruch wird aus der Verfügung der Einzelstaaten in die Obhut
der internationalen Rechtsgemeinschaft überführt. Dies meint die Ablösung des Rechts des Stärkeren durch die Stärke des Rechts.
Die Zuständigkeit der Sicherheitsgemeinschaft sollte sich auf alle Fälle erstrecken, in denen eine Friedensgefährdung, eine Friedensbedrohung,
ein Friedensbruch oder eine Aggression in oder gegen Europa vorliegt. Im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen Mitglieder der
Gemeinschaft wären die Gemeinschaft (und ihre Mitglieder) verlässlich, d.h. automatisch zum Beistand verpflichtet. Im Unterschied zur
Gegenwart sollte sich die Gemeinschaft auch mit innergesellschaftlichen Konflikten befassen, allerdings nur insoweit diese Konflikte sich
internationalisieren oder sich zum Gegenstand internationaler Streitigkeiten zu entwickeln drohen.
Hauptsächlicher Organisationszweck der Gemeinschaft wäre die friedliche Beilegung aller denkbaren Streitfälle. Dazu dient ihr ein breites
Spektrum ziviler Mittel, angefangen von einer obligatorischen (Schieds-)Gerichtsbarkeit (wobei Aggressor in einem bewaffneten Konflikt ist,
wer sich dem Schiedsverfahren entzieht) bis hin zur Verhängung bestimmter Sanktionen.
Der Einsatz bewaffneter Mittel wird auf dreierlei Weise erschwert. Erstens bildet die Gemeinschaft einen sicherheitspolitischen Rahmen, der
die Schaffung einer gemeinsamen Friedensordnung fördert. Zweitens verfügt die Gemeinschaft über vielfältige Verfahren, einen entstehenden
Konflikt bereits frühzeitig zu erkennen und geeignete Therapien sowohl gegen seine Eskalation als auch für seine Beilegung anzuwenden.
Drittens sollten die militärischen Strukturen der Gemeinschaft und ihrer Teilnehmerstaaten, einen individuellen Zugriff auf grössere
angriffsfähige Potentiale praktisch ausschliessen. Sollte dennoch zu Zwangsmassnahmen gegriffen werden müssen, so stünden hierfür auch
systemeigene Verbände zur Verfügung und der Einsatz sämtlicher Streitkräfte unterläge der ausschliesslichen Verantwortung der
Gemeinschaft. Anders formuliert tritt das Ordnungsrecht der Gemeinschaft an die Stelle des Interventionsrechtes der Staaten und Bündnisse.
Dieses Modell würde theoretisch die Nachteile der gegenwärtigen Situation beheben und der verringerte Bedarf an nationaler
Sicherheitsvorsorge könnte einen gewichtigen Impuls für radikale Abrüstung bieten. Allerdings dürfen auch die Probleme der vorgeschlagenen
Alternative nicht verschwiegen werden:
1. Die «Europäische Sicherheitsgemeinschaft» bedeutet unweigerlich den teilweisen Abschied vom gewohnten Prinzip uneingeschränkter
Souveränität des Staates.
2. Die Bereitschaft von Staaten, für allgemeine Normen und Ziele kollektiver Sicherheit einzutreten, wenn nicht unmittelbar eigene Interessen
tangiert werden, ist nicht gerade hoch zu veranschlagen, insbesondere wenn für den Einsatz Opfer zu erbringen wären.
3. Die Gemeinschaft basiert auf der Idee eines Systems kollektiver Sicherheit, wie es zwar in der Charta der Vereinten Nationen vorgesehen
war, dessen Umsetzung jedoch später bekanntlich gescheitert ist. Als Ergebnis dieses Scheiterns weist die Praxis der UNO Bündnissen
kollektiver Verteidigung heute grössere Befugnisse in der Anwendung militärischer Gewalt zu als den regionalen Abmachungen kollektiver
Sicherheit, wie sie die ESG wäre. Automatischer militärischer Beistand wäre daher nur möglich, wenn sich die ESG zugleich als ein System
kollektiver Selbstverteidigung konstituieren würde.
4. Das Problem des Kernwaffenbesitzes ist globaler Natur; seine Lösung kann nicht von einer regionalen Sicherheitsgemeinschaft erwartet
werden.
Entscheidend ist aber die die Hinwendung zum geringeren Risiko mit Blick auf die tatsächlichen, die wahrscheinlichen und die möglichen
Krisen und Konfliktfiguren in Europa. Hier sprechen die Vorzüge deutlich zugunsten der ESG.
Das Modell der ESG geht davon aus, dass sich das Sicherheitssystem aus den Strukturen und im geographischen Raum der OSZE entfalten
sollte. Das Ziel kollektiver Sicherheit könnte insofern auf den Gleisen einer Reform der OSZE verfolgt werden. Die Philosophie der Bündnisse
kollektiver Verteidigung - wie der NATO unterscheidet sich dagegen grundlegend von jener eines kollektiven Sicherheitssystems.
Andererseits ist zu berücksichtigen, daß die Einführung der ESG eine längere Zeitspanne umfassen dürfte, in der insbesondere die Mitglieder
der Bündnisse möglicherweise ihre Sicherheit in den herkömmlichen Strukturen (noch) besser aufgehoben sehen. Voraussetzung für ein länger
befristetes Nebeneinander wäre die Anerkennung des Prinzips «OSCE first» (oder auch «ESG zuerst»). Insbesondere entfiele damit jegliche
Form der Beistandspflicht gegen einen Staat, der wegen Rechtsbruch von der OSZE (ESG) mit Sanktionen belegt worden ist.
Die Europäische Sicherheitsgemeinschaft ist und bleibt in erster Linie eine politische Organisation, d.h. sie verfolgt hauptsächlich das Ziel,
jegliche Formen bewaffnete Konfliktaustragung zu verhindern. Die wichtigste kreative Aufgabe besteht folglich in der Effektivierung der
verfügbaren Präventionsmechanismen. Dazu gehören u.a. die Einrichtung einer effektiv arbeitenden Agentur zur Sammlung und Auswertung
sicherheitspolitisch relevanter Informationen, die Schaffung obligatorischer Schlichtungs- und Schiedsmechanismen, der Ausbau des
Internationalen Gerichtshofes zur Verfolgung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die Ausweitung
gemeinschaftlicher Informationsnetze, die Ausarbeitung eines nach berechenbaren Kriterien funktionierenden Mechanismus positiver und
negativer Sanktionen, der Ausbau von Langzeit-Missionen in potentiellen Krisengebieten, die Rekrutierung von internationalem
Militärpersonal (unter ESG-Führung) zur Prävention möglicher Konflikte (nach dem Muster Makedoniens).
Die vornehmliche Aufgabe der Prävention kann den gewaltsamen Rechtsbruch zwar unwahrscheinlich machen, jedoch nicht völlig
ausschliessen. Nach dem Modell der ESG würde sich der militärische Teil der europäischen Sicherheitsstruktur wie folgt darstellen:
Spezialisierung und Arbeitsteilung der Staaten im Dienste des Systems, die einerseits strukturell Aggressionshandlungen von Einzelstaaten
undurchführbar macht, zugleich dem System einen effektiven Einsatz aller notwendigen Mittel ermöglicht; Umrüstung der national verfügbaren
Streitkräfte gemäss territorialer Verteidigungsaufgaben; Aufstellung multinational geführter und zusammengesetzter Eingreifverbände nach dem
Muster des Eurokorps; Bildung supranationaler Verfügungskräfte in Verantwortung des Generalsekretärs der ESG bzw. OSZE.
Manch frustrierter Zeitgenosse mag glauben, dass Politik nur aus Katastrophen, die bereits stattgefunden haben, Lehren zieht. Hat es der
Kalte Krieg wider Erwarten nicht vermocht, dies zu bewerkstelligen, sollte wenigstens der Zerfall Jugoslawiens Mahnung genug sein, dass die
überkommene Sicherheitsstruktur den Krisen und Konflikten der Gegenwart und Zukunft nicht genügt. Das Modell der ESG versteht sich
insofern als eine Einladung zu ergebnisorientierter Diskussion.
Die Europäische Sicherheitsgemeinschaft. Das Sicherheitsmodell für das 21. Jahrhundert, Bonn 1995, 360 S. Der Vortrag wurde für die GSoA-Zitig gekürzt und redaktionell bearbeitet.
GSoA-Zitig, September 1996, Nr. 66