Ex-Jugoslawien: Wie aus militaristischer Mythologie Krieg wurde

Eine Volksarmee gegen ihr Volk

Im ehemaligen Jugoslawien hat eine sogenannte Volksarmee ihr eigenes Volk angegriffen. Heute, nach fünf Kriegsjahren und nach dem Dayton-Abkommen, sind drei hochgerüstete Armeen zu Hauptakteuren im immer noch bestehenden Konfliktfeld geworden.

Von Nena Skopljanac

Die Jugoslawische Volksarmee (JNA) trat 1951 die Nachfolge der «Volksbefreiungsarmee» (PLA) an, also der Partisaneneinheiten, die seit 1941 für die Befreiung des Landes von der faschistischen Besatzung kämpften. Die JNA erbte die Aura der Mythen, welche die PLA aus der Zeit dieses Krieges umgab. Sorgfältig ausgewählte Ereignisse aus dem Zweiten Weltkrieg wurden in die kommunistische Ideologie aufgenommen, mythologisiert und zusammen mit emotional aufgeladenen Begriffen zu einer auch vom Volk akzeptierten «Wahrheit» verwoben.

Mythen und Tabus

Unzählige Lieder, Gedichte, Kurzgeschichten, Romane, Memoiren und Tagebücher von Partisanen, Fernsehserien, Spielfilme und selbst Zeichentrickfilme verankerten diese Mythen im Wertesystem der Gesellschaft. Sie waren Teil des jugoslawischen Sozialisationsprozesses und begleiteten die Menschen von der frühesten Kindheit durch die ganze Schulzeit bis in den Arbeitsalltag.
Die folgenden, zwischen 1945 und 1990 in Dokumenten von Partei, Staat oder Armee beziehungsweise in massenkulturellen Erzeugnissen publizierten Phrasen vermitteln einen Überblick über die wichtigsten Leitsätze dieser Mythologie.
1. Der Mythos vom aufständischen Volk. Das Volk kam an die Massenveranstaltungen der Kommunistischen Partei Jugoslawiens und «sprach sein historisches Nein!». Es verweigerte dem Anschluss an die Achsenmächte seine Zustimmung und erliess «eine klare und entschiedene Botschaft: … besser im Grab als ein Sklave, lieber Krieg als einen Pakt.» Das Volk äusserte so seinen Willen, «das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen und bis zum Ende zu kämpfen – bereit, das eigene Leben für die Freiheit zu opfern».
2. Der Mythos der glorreichen Armee. «Der König flüchtete mit seiner Clique feig aus dem Land und überliess das Volk der Gnade der Nazis … Das unbewaffnete Volk schloss sich massenhaft den Partisaneneinheiten unter Führung der Kommunistischen Partei an (und) leistete dem verhassten Besatzer erbitterten Widerstand … Aus der Asche des besetzten Vaterlandes erstand die neue Armee, die Volksbefreiungsarmee, (die) durch glorreiche Schlachten den Feind besiegte (und) die Freiheit brachte.
3. Der Mythos von der Einheit von Volk und Armee. Die Armee «wurde vom und für das Volk geschaffen, (um) die Bevölkerung vor fremder Besatzung und einheimischen Verrätern zu schützen». Das Volk nährte die Armee, gab ihr Obdach, heilte ihre Wunden, gab ihren Angehörigen warme Winterkleider, und nach jeder Niederlage des Feindes «begrüsste das Volk seine Befreier euphorisch in den Strassen, umarmte und küsste sie».
4. Der ewige Eid. «Die bittere Erfahrung des Bruderkrieges darf sich nie mehr wiederholen.» Diesem Motto folgte die immer wieder eingetrichterte Aussage, die Kommunistische Partei und die Armee würden mit der vollen Unterstützung des jugoslawischen Volkes «für Brüderlichkeit und Einheit sorgen, als ob es das eigene Augenlicht sei».
Diese Mythen waren tabu. Die Kommunistische Partei entschied über Gegenmassnahmen im Falle von Zweifel oder Widerspruch. Die Armee war der Machtfaktor, der zur Wahrnehmung dieser Rolle jederzeit eingesetzt werden konnte.

Eine Partei-Armee

«Die Armee der Sozialistischen Volksrepublik Jugoslawien schützt die Unabhängigkeit, Souveränität, territoriale Integrität und das verfassungsmässig festgelegte soziale System», hiess es in der jugoslawischen Verfassung. Die Verteidigung gegen äussere Angriffe wurde also vom Auftrag der Verteidigung der Partei und ihrer Werte gegen innen überlagert. Die JNA war in ihrem Selbstverständnis eine Partei-Armee. Sie sei «ein integraler Bestandteil der Kommunistischen Partei, … Bewacherin der Reinheit der sozialistischen Idee und der Errungenschaften des sozialistischen Systems», sagten ranghohe Armeeangehörige immer wieder.
Die Partei verfügte über die vollständige Kontrolle der Verteidigung. Durch die «Komitees zur totalen Volksverteidigung» kontrollierte sie die gesellschaftlichen Körper ausserhalb der Armee und durch die Strukturen der Partei innerhalb der Armee kontrollierte sie deren Planung, Entscheidungsfindung und Alltag. Diese Strukturen waren mehr als 100000 Mann stark, verfügten über eine vollständige Autonomie in der Partei und bildeten so eine kommunistisch-militärische Parteieinheit.
Ideologische Kriterien waren für das Funktionieren der Armee wichtiger als professionelle. Der Zustand der Armee wurde beurteilt nach ihrer Treue gegenüber den grundlegenden Werten des Systems: verfassungsmässige Ordnung, Selbstverwaltung, Brüderlichkeit, Einheit und die Gleichheit der Völker, führende Rolle der Kommunistischen Partei und blockfreie Aussenpolitik. Mit anderen Worten: Die wichtigste Aufgabe der Armee war nicht die Verteidigung des Landes gegen äussere Angreifer, sondern die Verteidigung des Regimes und seiner Ideologie gegen die Gesellschaft. Diesen Freiraum, auch die inneren Angelegenheiten als die ihren zu betrachten, nützte die Armee mit Interventionen 1981 gegen die albanische Bevölkerung in Kosovo und 1991 gegen protestierende BürgerInnen Belgrads aus.

Militärisch-industrieller Komplex

Die Armee war ein wirtschaftlich und bezüglich des Status privilegierter Teil der Gesellschaft. Rüstung und militärische Stärke waren ihre wichtigste Machtressource. Gemäss US-amerikanischen Quellen investierten die USA von 1948 bis Anfang der 70er Jahre rund 25 Milliarden Dollar in die jugoslawische Verteidigung und wirtschaftliche Entwicklung, zum grössten Teil in Form nicht rückzahlbarer Darlehen. Daneben wurde eine eigene Rüstungsindustrie aufgebaut: Mitte der 60er Jahre zählte Jugoslawien zu den zehn grössten Waffenexporteuren. In den 80er Jahren wurde die JNA zur viertgrössten Armee Europas. Die Entwicklung der Rüstungswirtschaft verschaffte der Armee eine Unabhängigkeit, die den Korpsgeist innerhalb der Armee und eigenständige Armeeinteressen stärkte. 1990 umfasste die Rüstungsindustrie 53 Unternehmen mit 80’000 Angestellten und mehr als 1000 Zulieferbetrieben.
Zusätzlich wurden in allen lokalen Gemeinden und in allen Betrieben spezielle Abteilungen für zivile Verteidigung gebildet. Das Bildungssystem beinhaltete von der Primarschule bis zu den Universitäten auch militärische Übungen. Soziologische Untersuchungen zeigen, dass die Armee eines der Zentren gesellschaftlicher Macht bildete. Die Kontrolle über diese mächtige Militärmaschinerie lag bei Tito persönlich. Armeeangelegenheiten wurden in einem kleinen Kreis vertrauenswürdiger Parteikader diskutiert. Parlament und Regierung waren nur formale Entscheidungsträger. Nach Titos Tod, einer zehn Jahre dauernden sozialen Krise und dem Zerfall der Institutionen von Staat und Gesellschaft begann diese Armee, unabhängig von politischer Kontrolle eigene Vorstellungen über die Zukunft der Gesellschaft zu entwickeln.

Selbstverteidigung des Systems

Um 1990 erreichte die Krise ihren Höhepunkt. Der Staat hatte sich aufgelöst, die gesellschaftlichen Werte wurden in Frage gestellt. Die herrschende Ideologie verlor ihre Glaubwürdigkeit, die Partei ihre Einheit. Nach den ersten freien Wahlen war sie nicht mehr die einzige legale politische Kraft. Die Armeeführung interpretierte alle sozialen Veränderungen und Forderungen nach einer Umgestaltung Jugoslawiens als Angriff auf ihre Privilegien, auf ihre unbegrenzte Machtfülle und schliesslich auf ihre Existenz. Eine Umverteilung der Macht an die Republiken bedrohte ihre Interessen, ein Mehrparteien-System implizierte ihre Entpolitisierung.
Die Armee war deshalb die entschiedenste Gegnerin der Parteienvielfalt, und sie war gegen das einzige Jugoslawien, das hätte überleben können: ein dezentralisiertes, wirtschaftlich reformiertes und pluralistisches Jugoslawien, ein Jugoslawien, das nicht von den Kommunisten beherrscht wurde. Am 25. Januar 1991 verteilte das Verteidigungsministerium «Informationen über die aktuelle Weltlage und unser Land» an alle Kasernen. Darin hiess es: «Der Sozialismus in Jugoslawien ist nicht am Ende. Jugoslawien hat der ersten Welle der antikommunistischen Hysterie widerstanden. Es gibt weiterhin realistische Aussichten darauf, das Land als sozialistische Föderation aufrechtzuerhalten.» Die territoriale Integrität des Landes trat endgültig hinter die Aufrechterhaltung des Sozialismus um jeden Preis zurück.

Von der Befreiungs- zur Angriffsarmee

Die Armee fand ihren Verbündeten in Milosevic und seinem Regime. Dieses Bündnis entstand aber nicht einfach, weil die Mehrheit der höheren Offiziere serbischer Nationalität waren, sondern aus ideologischen Gründen: Bis zum Beginn des Krieges bewiesen sie sich immer wieder ihre ideologische Nähe, von der Einstellung zu Sozialismus, Mehrparteien-System und sozialer Krise bis zur Verschwörungstheorie über den Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus und das Entstehen der Neuen Weltordnung. Ihre Gemeinsamkeit lag im Festhalten an einem föderalistischen Jugoslawien, ihrem Widerstand gegen Reformen und in der Bereitschaft, die eigenen Interessen um jeden Preis und mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen.
Der für den Ausbruch des Krieges mitverantwortliche jugoslawische Verteidigungsminister V. Kadijevic fasste die Ziele dieses Bündnisses in einem 1993 erschienenen Aufsatz – mit dem bezeichnenden Titel: «Armee ohne Staat» – folgendermassen zusammen: Die Armee wolle die Territorialverteidigungseinheiten in den serbischen Teilen Kroatiens und Bosnien-Herzegowinas für gemeinsame militärische Operationen nutzen und in den übrigen Landesteilen lahmlegen. Die kroatischen Behörden müssten aus den Gebieten mit mehrheitlich serbischer Bevölkerung vertrieben werden. Besonders habe die JNA darauf zu achten, dass die serbische Bevölkerung in Bosnien-Herzegowina eine entscheidende Rolle für die Zukunft des ganzen serbischen Volkes spielen werde. Sie müsse die militärischen Voraussetzungen «für angemessene politische Lösungen schaffen, die ihren nationalen Interessen gerecht werden». Zu diesem Zweck hinterliess die JNA der Armee der bosnischen Serben enorme Mengen an Waffen, von Munition bis Raketen und Kampfflugzeugen.

Nichts gelernt?

Die Jugoslawische Armee wurde seit den 50er bis in die 90er Jahre von Ost und West aufgerüstet. Die Waffenarsenale erleichterten den Griff zu Gewalt und lokalen Interessenkriegen bei Konflikten nach dem Kalten Krieg. Trotz internationalem Waffenembargo ging die Aufrüstung nach Kriegsausbruch weiter und heute verfügen alle Seiten über genügend militärische Stärke zur Kriegsführung. Zudem haben die Armeen von Bosnien-Herzegowina, Kroatien und der Bundesrepublik Jugoslawien identische Züge, die sie von der JNA übernommen haben: die Aura von Sieg und Ruhm, die Rolle als Verteidigerinnen ihres Volkes und enge Beziehungen zur Ideologie der herrschenden Partei.
Die einzigen Bestimmungen des Dayton-Abkommens, die konsequent umgesetzt werden, sind diejenigen für ein «militärisches Gleichgewicht». Mit dem Programm «Ausrüstung und Ausbildung» werden grosse internationale Kredite an die bosnische Armee vergeben, und ohne Zweifel wird auch die serbische Republik ihre Aufrüstung mit internationaler Hilfe durchführen. Die Gelder für den zivilen Teil des Friedens fehlen dagegen. In Bosnien-Herzegowina wird es daher noch lange keinen normalen Staat und keine normale Gesellschaft geben. Demokratie, Versöhnung und ein Zusammenleben von Menschen verschiedener Nationalität kann ohne zivile Hilfe nicht erreicht werden.
Die Öffentlichkeit hat das Abkommen von Dayton begrüsst. Bei seiner Umsetzung kümmert es kaum jemanden, dass Konzepte des Abschreckungsgleichgewichts aus dem Kalten Krieg angewandt werden, welche unweigerlich zu einem Rüstungswettlauf und zu noch mehr Misstrauen führen werden.
Die militärische «Lösung» des Konfliktes in Bosnien brachte vor allem zusätzliche militärische «Logik» ins Land. Die heutige Situation gleicht erschreckend derjenigen von 1991, als der Krieg begann. Wer hat ein Interesse daran, auf die militärische Karte zu setzen? Die Bevölkerung in Bosnien-Herzegowina wohl kaum. Für sie ist Frieden nur gegen die militärische Logik zu erringen.

Waffen für Bosnien?

Das Abkommen von Dayton hat für Bosnien Frieden deklariert – und damit die Aufhebung des Waffenembargos ermöglicht. Das ehemalige Jugoslawien ist heute ein Eldorado für legale und illegale Waffenhändler der ganzen Welt. Eine der Firmen, die dicke im Geschäft ist, ist die amerikanische Lockheed Martin. Unser Faksimile dokumentiert einen internen Brief der Lockheed, in dem von einem Treffen der Lockheed-Verkaufsabteilung mit dem bosnischen Aussenminister (verantwortlich auch für Waffenkäufe), dem bosnischen Botschafter in den USA und dem bosnischen Verteidigungsattaché bei Lockheed berichtet wird. Man spricht von «enger Zusammenarbeit» und kommt im Bericht an die Lockheed-Chefetage zum freudigen Schluss: «In short, they need everything, including our advice on what they need.» Bleibt noch zu erwähnen, dass Lockheed eine Beraterfunktion für die friedenserhaltenden Massnahmen der Nato wahrnimmt.

Verwendete Literatur

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Ciric, A.: From Partisans to Security Service: The Short and Inglorious History of the Yugoslav People’s Army, in: Warreport Nr. 17/1993.
Ciric, A. & Vasovic, M.: No Way Out: The JNA and the Yugoslav Wars, in: Warreport Nr. 17/1993.
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Vasic, M.: The Pattern of Aggression: Two Against One in Bosnia, in: Warreport Nr. 17/1993.


GSoA-Zitig, September 1996, Nr. 66