Kosov@/Nato 8. Mai 1999

Redemanuskript Elvi Classen

Redemanuskript des Beitrages auf der Friedenskundgebung in Münster/Westf. am 8. Mai 1999. Elvi Classen, Dipl. Soz.-Wiss. (Köln), ist Medienwissenschaftlerin und Verantw. Redakteurin des Mitgliedermagazins der DFG-VK e.V., ZivilCourage (Angaben zur Person im Anhang)

Ein kurzer Rückblick:

"Die Lage im Kosovo ist von zunehmenden Spannungen geprägt. Viele Menschen sind der Überzeugung, dass der Gewaltfreie Widerstand nur noch Monate, nicht mehr Jahre aufrechterhalten werden kann. [Gesucht werden internationale Freiwillige für den Kosovo, die] ... durch ihre Anwesenheit in bedrohten Dörfern, bei Veranstaltungen, in den privaten Schulen einen gewissen Schutz vor Polizeiübergriffen geben. ... Weitere Aufgaben wären u.a.: in Zusammenarbeit mit einheimischen Organisationen Menschenrechtsverletzungen bekanntzumachen, bei Konflikten zu vermitteln und internationale Aufmerksamkeit auf die Situation im Kosovo zu lenken."

Dazu rief der Bund für Soziale Verteidigung, in dem auch meine Organisation, die Deutsche Friedensgesellschaft-Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK), Mitglied ist, zusammen mit internationalen und Friedensorganisationen aus europäischen Ländern auf - im Mai 1993.

10 Jahre lang war Zeit, eine politische Lösung für den Kosov@-Konflikt zu finden - die Chance wurde vertan

Die europäische Friedensbewegung engagiert sich seit Anfang der 90er Jahre in Ex-Jugoslawien. Friedensgruppen leisten bis heute aktive Versöhnungsarbeit in Bosnien. Die Zusammenarbeit und der politische Austausch auf dem Balkan beinhaltet genauso lange schon die Unterstützung derjenigen, die sich mit gewaltfreien Mitteln für die Wiedererlangung der kulturellen und politischen Freiheit im Kosov@ einsetzten, die Freiheit, die ihnen Milosevic 1989 weggenommen hat. Unsere Forderung an die internationale Staatengemeinschaft lautete, sich des Konfliktes im Kosov@ anzunehmen und Strategien politischer Konfliktlösung zu entwickeln.

Aber wen interessierte bis vor wenigen Monaten die immer bedrohlichere Lage im Kosov@? Wen interessierte die Zivilcourage der tapferen Bürgerinnen und Bürger dort, darunter viele Studierende, Schulkinder sogar?

Zehn Jahre lang war Zeit, die Zivilgesellschaft im Krisengebiet politisch zu stŠrken und die serbische Regierung mit diplomatischem Geschick und materiellen Anreizen dazu zu bewegen, einen fŸr alle Seiten ertrŠglichen neuen Vertrag für den Kosov@ auszuhandeln.

Aber zehn Jahre lang sahen die verantwortlichen PolitikerInnen hier oder in anderen Staaten West- und Osteuropas nur zu. Niemand von denen, die über die Mittel verfügt hätten, reagierte auf die Appelle der kosov@-albanischen und serbischen Opposition. So wurde die Chance vertan, eine politische Lösung für den Kosov@-Konflikt zu finden.

Und die Übergriffe der serbischen Polizei- und Militäreinheiten verschärften sich Jahr für Jahr. Stiefeltritt für Stiefeltritt wurde der gewaltfreie Widerstand überwältigt und viele trieb es in die Radikalität.

Jetzt sehen wir mit Trauer und verzweifelter Anteilnahme das Sterben und das Leiden der Menschen, das durch den Krieg der NATO gegen Serbien immer noch schlimmer wird: im Kosov@, in den Flüchtlingslagern, aber auch in Belgrad, Pristina oder Nis.

Jetzt ist Krieg, und deshalb ist das, was wir sehen, auch eine Metapher für ein neuerliches historisches Versagen der Politik.

Dieser Krieg "brach" nicht über uns herein ...

Denn dieser Krieg, gegen den wir heute hier in Münster, aber auch in Berlin, Bonn, Stuttgart und in vielen anderen deutschen und europäischen Städten demonstrieren, brach wahrlich nicht wie eine Naturkatastrophe über Europa herein, wie ein Vulkanausbruch oder ein Erdbeben ...

Krieg ist nicht die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Er ist der zivilisatorische Abgrund, der sich auftut, wenn die Politik versagt, wenn Politikerinnen und Politiker an der Aufgabe scheitern, dem Frieden zu dienen, sei es aus politischem Unvermšgen, falsch verstandener Bündnistreue oder aus Machtgeilheit.

Dieser Krieg ist ein weiterer Beweis, dass Menschenrechte nicht herbei gebombt werden können. Krieg ist niemals ein humanitärer Akt. Denn im Krieg werden Soldaten zu Mördern. Und Mord, das vorsätzliche Töten von Menschen, ist das Gegenteil von Humanität. Krieg ist unmenschlich.

Krieg ist auch keine kühl kalkulierte Operation, bei der das Ermorden von ZivilistInnen in Flüchtlingstrecks, Wohnhäusern, Zügen oder Bussen als "Missgeschick" deklariert werden kann. Menschen zu verschütten, zu verbrennen und zu zerfetzen ist Mord. Wer dies tut oder in Kauf nimmt, macht sich schuldig.

Und deshalb ist der Krieg auch niemals das "letzte Mittel der Vernunft", die "ultima ratio". Krieg ist immer das Gegenteil von Vernunft. Krieg ist eine menschliche, politische und kulturelle Katastrophe.

Kriegspropaganda: die Macht über die Interpretation der Beweggründe, des Verlaufs und der Ziele des Krieges

Aber die PolitikerInnen und Militärs, und auch die Medien, die ihnen ein Forum bieten, wollen uns glauben machen, dass das, was sie tun, die "ultima ratio" ist, nachdem alle politischen Konzepte gescheitert sind. Und sie verbreiten ihre Kriegspropaganda mit einer professionellen, alles überlagernden öffentlichen Präsenz. Die weitgehend Minuten-aktuelle oder Live-Berichterstattung über Politiker auf Pressekonferenzen, militärische Briefings, Bombardierungs-Statistiken und Flüchtlings-Quoten im Fernsehen prägen das öffentliche Bild dieses Krieges. Für differenziertere Fragen bleibt kaum Raum:

  • nach den Ursachen des Konfliktes im Kosov@
  • nach den politischen Fehlern und Machtansprüchen, die zu seiner Eskalation führten
  • nach den politischen Perspektiven dieses Krieges.
  • oder auch nach dem Zusammenhang zwischen diesem Waffengang und den längerfristigen Ambitionen der NATO und ihrer Mitgliedsstaaten.

An der Heimatfront findet der Krieg in den Massenmedien statt. Und er wird darum geführt, die Kontrolle zu gewinnen und zu behalten über die Interpretation der Beweggründe, des Verlaufs und der Ziele dieses Krieges. In der Bevölkerung soll ein breiter Konsens über die Legitimität des NATO-Waffenganges gegen Serbien hergestellt werden. Die Plazierung und Umdeutung von Begriffen oder gesellschaftlichen Werten sind Teil der Kriegsführung, ebenso wie die Bomben auf Serbien.

  • Die Fernsehbilder mit den Vorher-Nachher-Aufnahmen durch die Zielerkennung der NATO-Raketen sollen uns suggerieren, es handele sich bei den Bombardierungen um ein präzises und pragmatisch kalkuliertes Ausschalten militärischer Einrichtungen des Gegners.
  • Geschosse, die nicht im postulierten Ziel landen, sondern z.B. in Bulgarien, werden "Einschlagsirrtümer" - "impact errors" - genannt.
  • Die Folgen der "impact errors" sind dann "Begleitschäden", collateral damages, so wie gestern in Nis oder als die Bomben auf die chinesische Botschaft fielen. Das gibt die NATO zu, aber oft erst nach dem Versuch, diese neuerlichen Katastrophen als "Propagandalüge der Serben" abzutun.
  • In Interviews verbieten sich die Sprecher der Militärs den Begriff Krieg und beharren auf Euphemismen wie "Friedenserzwingung" oder "Wiederherstellung der Menschenrechte".
  • Wenn Journalistinnen und Journalisten kritische Fragen stellen, werden sie vor laufenden Kameras zurechtgewiesen, sogar als Helfershelfer der Feindpropaganda diffamiert.
  • Und viel zu viele Nachrichtenredaktionen übernehmen die NATO-Sprachregelungen und NATO-Interpretationen des Krieges. Sie reflektieren die Informationspolitik der Militärs und politisch Verantwortlichen nicht, sei es aus politischer Unkenntnis, aus Zeitnot oder weil man noch spektakulärere Meldungen oder Bilder als die Konkurrenzsender bringen will.

Die Instrumentalisierung der Barbarei des Faschismus, um den Krieg im Kosov@ zu rechtfertigen, ist ein Skandal!

Ist die Kriegsmaschine angelaufen, bilden Politik, Militär und Medien ein sich selbst verstärkendes System von Deutungen, Begriffen und Bildern, die weit über die Zeit des Krieges hinaus wirken.

Dies gilt auch für unsere Gesellschaft, die seit Ende des Kalten Krieges von Bundeswehrstrategen bisher immer wieder abwertend als "kriegsarm" bezeichnet wurde und die man Schritt für Schritt an die neue Rolle des Militärs heranführen müsse.

Heute, am 8. Mai, 54 Jahre nach der Zerschlagung des Faschismus und fast 50 Jahre nach Verabschiedung des Grundgesetzes, müssen wir feststellen: Sozialdemokratische und grüne PolitikerInnen haben das wichtigste Versprechen gebrochen, das dieses Land nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges geben konnte: Von deutschem Boden soll nie wieder Krieg ausgehen. Und mehr noch: sie instrumentalisieren die Barbarei des Faschismus, um ihren eigenen Krieg zu rechtfertigen: Den ersten Besuch einer Abordnung der Bundeswehr in Auschwitz (in Uniform - was für ein Zynismus), diesem Ort des Gedenkens an den millionenfachen Mord, hat Verteidigungsminister Rudolf Scharping Anfang des Jahres dazu benutzt, um zu begründen: "Darum ist die Bundeswehr in Bosnien", und dass sie darum "wohl auch in den Kosovo gehen" wird. Der Vergleich mit der unfassbaren Tragödie des Holocaust ist ein skandalöser Missbrauch der Trauer, der Erinnerung und der Scham. Er soll die Gegner disziplinieren bzw. diskreditieren, die es wagen, Bedenken zu äussern, ob das Anzetteln eines Angriffskrieges die richtige Vorgehensweise ist, um den Mord und die Menschenrechtsverletzungen im Kosov@ zu beenden.

Scharpings in Auschwitz inszenierter Auftritt und die inzwischen immer wieder von ihm, Josef Fischer und anderen bemühte Argumentation sind ein Schlag ins Gesicht der Opfer des Faschismus und ihrer Angehörigen. Es ist ein Skandal. Der Versuch, ein Bild vom Krieg als Akt der Menschlichkeit und Solidarität zu erzeugen, als legitimer Kampf des Guten gegen das Böse, ist das Grundmuster militärisch-politischer Propaganda: Noch 1994 warnte selbst Josef Fischer davor, dass "humanitäre" Begründungen, zum Türöffner für die weltweite Interventionsfähigkeit der Bundeswehr werden könnten.

Die menschliche, politische und kulturelle Tragödie: Krieg ist zum ersten Mal seit 1945 wieder Teil der Alltagsrealität in Europa Jetzt, nach fünf Wochen Dauerbombardement durch die NATO, werden in der Öffentlichkeit die Zweifel am Sinn des Krieges gegen Serbien lauter. Die Lage der kosov@-albanischen Flüchtlinge wird immer verzweifelter. Und auch angesichts der wachsenden Zahl ziviler Opfer durch NATO-Bomben und der systematischen Zerstörung der zivilen Infrastruktur, der Verseuchung ganzer Regionen durch die gezielte Bombardierung von Raffinierien, Chemiefabriken usw. wird es immer schwieriger, das Bild vom "humanitären Akt" aufrecht zu erhalten.

Aber die Militärs haben in ihrem Sinne zugleich schon viel erreicht:

  • Das ehemalige Verteidigungsbündnis NATO konnte seine neue Rolle als unerbittlicher Vollstrecker politischer Machtinteressen jenseits völkerrechtlicher Kontrollen demonstrieren.
  • Und das deutsche Militär beweist sich als ebenso loyal wie kampfbereit: Bundeswehrsoldaten führen - im Verein mit US-amerikanischen und Soldaten aus anderen europŠischen Staaten - jenseits aller völker- und verfassungsrechtlichen Beschränkungen Krieg gegen einen souveränen Staat. Die letzten, historisch begründeten Schamgrenzen der Bundesrepublik Deutschland werden weggebombt.

Wie auch immer dieser Krieg ausgehen wird. Er ist der Beginn einer neuen Phase weltpolitischer Destabilisierung. Nicht mehr die Androhung militärischer Gewalt, sondern ihre Anwendung - Krieg - ist zum ersten Mal seit 1945 wieder zum Teil der Alltagsrealität in Europa geworden.

Wir müssen diese verhängnisvolle Entwicklung stoppen: Schluss mit der Bombardierung! Rückkehr an den Verhandlungstisch! Verweigert jeden Kriegsdienst! Krieg ist ein Verbrechen an der Menscheit!

Wir müssen diese verhängnisvolle Entwicklung stoppen. Wir müssen den PolitikerInnen einen Strich durch die Rechnung machen, die glauben, sie könnten die Menschen in diesem Land zu einer "kriegsbereiten Gesellschaft" formen. Wir dürfen es nicht unwidersprochen hinnehmen, da§ deutsches MilitŠr wieder mitmordet (und ermordet wird) in aller Welt. Denn genau das ist es, was wir den Menschen im Kosov@ und in allen anderen Krisen- und Kriegsgebieten schuldig sind: Da§ wir genug politischen Druck entwickeln, der die KriegstreiberInnen zwingt, den Krieg als "Mittel der Politik" für immer zu ächten; politischen Druck, der sie zwingt, ihr Handeln auf ausschliesslich eine "ultima ratio" zu beschränken: Frieden schaffen ohne Waffen!

Nachtrag: Zitat aus der Stellungnahme der DFG-VK zum 8. Mai 1999 "Die DFG-VK fordert von der NATO den sofortigen Stopp der Angriffe und die Einleitung ergebnisoffener Verhandlungen zu einer friedlichen und gerechten Lösung des Konflikts.

Wir verlangen von der Bundesregierung, sofort jede militärische, finanzielle und politische Unterstützung für den NATO-Einsatz zu beenden. Statt dessen sollen alle Mittel, Menschen und Materialien für die Flüchtlingshilfe, den Einsatz ziviler OSZE-Vermittler und den Wiederaufbau zerstörter Häuser und Dörfer zur Verfügung gestellt werden.

Alle Soldaten der Bundeswehr, besonders die direkt im Krieg eingesetzten, fordern wir auf, den Kriegsdienst und alle Befehle unter Berufung auf die Rechtswidrigkeit des Jugoslawien-Einsatzes zu verweigern. Ihre Familien, Freundinnen und Freunde bitten wir darum, die Soldaten zu dieser Entscheidung zu ermutigen und dabei zu unterstützen.

Wir rufen alle Menschen zu Demonstrationen, Veranstaltungen und Aktionen gewaltfreien Widerstands gegen den Krieg auf. Die Friedensbewegung muss sich jetzt ausserparlamentarisch neu vernetzen und den Protest in allen Städten und Regionen auf die Strasse tragen!"

Dipl. Soz.-Wiss. Elvira Classen

25. Mai 1999/uh,
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