"Alte und Behinderte wurden getötet"
Erläuterungen zu unserer Dokumentation von Zeugenaussagen
Chronik des Terrors
"Alte und Behinderte wurden getötet"
Kosovo-Albaner aus den Flüchtlingscamps berichten von der Vertreibung aus ihren
Dörfern, von Verwundeten und Toten, von Demütigungen und Beleidigungen, vom
Regen, Hunger und der Kälte und von ihrer tagelangen Flucht
Ein 15jähriges Mädchen aus Rezald schildert:
"Am 12. April wurde das Dorf von der Polizei umstellt. Wir waren zu Hause.
Überall waren Soldaten, bis zum Wald hin. Eine Handgranate wurde auf unser Haus
geworfen und landete direkt vor mir. Meine Hand wurde verwundet, und ich verlor
viel Blut. Es gelang uns, am Fluß entlang zu fliehen, durch den Wald und dann
an der Straße entlang. An der Straße standen alle zehn Meter Soldaten. Als wir
die Grenze überquert hatten, wurde ich zum italienischen Lager gebracht. Meine
Papiere wurden an der Grenze eingezogen."
Eine Frau aus einem Dorf in der Nähe von Klina:
"Am 25. März, gegen 14 Uhr, kamen die Serben und warfen uns aus unserem Dorf.
Sieben Polizisten kamen in den Garten, umstellten das Haus und befahlen uns,
sofort zu gehen. Mein Ehemann befand sich etwas weiter weg vom Haus und konnte
fliehen. Seit der Zeit habe ich nichts mehr von ihm gehört. Die Polizei stellte
sieben Familien aus unserem Dorf (etwa 70 Menschen) in einer Gruppe zusammen.
Wir mußten uns auf die Erde legen, und es wurde mehrfach gefeuert. Fünf
Menschen wurden getroffen, unter anderem drei meiner eigenen Kinder. Die Serben
befahlen uns, 24 Stunden auf dem Boden liegenzubleiben, und ließen uns dann
aufstehen und gehen. An der Grenze nahmen sie uns unsere Ausweise weg."
Eine 35jährige Frau aus Padalista:
"Seit einem Jahr konnten wir nun schon nicht mehr richtig schlafen. Wir hatten
Angst, daß sie kommen und uns umbringen würden. Am Montag morgen, dem 12.
April, griffen die Serben unser Dorf mit Granaten an. Gemeinsam mit etwa
tausend anderen Menschen aus Kladernica mußten wir fliehen. Später erfuhr ich,
daß die Hälfte der Männer fliehen konnte. Es gibt auch Gerüchte, wonach die
Männer nach Serbien gebracht worden seien. Am Mittwoch erreichten wir Prizren
und sahen auf der Straße viele Verwundete und Tote, in Fetzen gerissene Körper.
Die Leute am Anfang des Konvois riefen uns zu, nicht weiterzugehen, da vorne
Granaten auf uns geworfen würden. Und tatsächlich befanden sich diejenigen, die
verletzt oder getötet worden waren, nur knapp einen Kilometer vor uns. Zehn
Minuten nach dem Feuer kam die Polizei, um die Verwundeten wegzubringen. Ich
hörte, daß fünfzehn Menschen getötet und etwa dieselbe Zahl verwundet worden
war. Überall war Blut, enthauptete Menschen, Körper; manche sogar ohne Arme und
Füße. Die Verletzten schrien vor Schmerzen, als sie weggebracht wurden. Es war
grauenhaft. Ein Dutzend serbischer Polizisten sammelte sie ein. Sie sagten uns
lediglich, daß sie sie zunächst ins Krankenhaus von Prizren und, wenn sich ihr
Zustand gebessert habe, zur Grenze bringen würden. Wir sollten nach Albanien
gehen. Auf der Straße von Prizren waren wieder Soldaten. Sie streckten drei
Finger in die Höhe, um uns zu beleidigen, und forderten uns auf, das gleiche zu
tun und ,Serbien, Serbien!' zu rufen. Wir senkten unsere Köpfe. Nur einer von
ihnen war vermummt. Wir wollten kurz anhalten, um uns auszuruhen, aber sie
schossen in die Luft und zwangen uns damit zum Weitergehen. Ich sah, wie zwei
sieben bis acht Monate alte Babys in einem unbeobachteten Moment in aller Eile
von ihren Eltern beerdigt wurden. Noch nicht einmal ein Jahr alt, gestorben an
Erschöpfung und Austrocknung. Es regnete die ganze Nacht. Verlassene Fahrzeuge
lagen überall auf der Straße. Als wir in Prizren ankamen, wurden wir zur Grenze
gebracht (...)."
Ein 38jähriger Mann aus Velika Krusa:
"Um sieben Uhr morgens begannen Polizisten, unser Haus zu beschießen. Sie waren
maskiert. Zwei gepanzerte Fahrzeuge standen in der Nähe unserer Häuser. Sieben
Polizisten kamen ins Haus. Im Haus waren wir zu 13. Sie haben mich geschlagen.
Meine 65jährige Mutter und weitere fünf Mitglieder meiner Familie, von sieben
bis 53 Jahren, haben sie mit einer automatischen Waffe getötet. Meine Kinder
haben geschrien und geweint. Alle haben versucht, aus dem Haus zu entkommen.
Die Kinder sind durch die Fenster geflohen. Bevor meine Frau die Zeit hatte,
herauszukommen, schlug eine Granate ein. Sie wurde verletzt, ebenso meine
Schwester und Schwägerin. Es gelang uns, auf dem Traktor aus dem Dorf zu
fliehen bis nach Zur, von wo aus wir zu Fuß weiterflüchten mußten. Bis zur
Grenze haben wir zwei Stunden gebraucht. (...)
Soldaten haben mir auf die Beine
geschlagen. Ich fiel neben einen Traktor und konnte mich, halb darunter
liegend, gerade noch in Sicherheit bringen. Doch sie haben mir weiter auf die
Beine und die Genitalien geschlagen, bis sie müde wurden. Das hat vielleicht
eine Stunde gedauert. Dann sind sie gegangen und haben sich andere, die hinter
uns in der Kolonne waren, vorgenommen. Ich konnte mich zu Fuß bis zur Grenze
schleppen.
Ich wurde ins Krankenhaus gebracht, wo ich operiert wurde. Seit fünf Tagen kann
ich mein Bein nicht mehr bewegen. Die Ärzte warten ab, bis das Ödem am Knöchel
verschwunden ist, damit sie einen Gipsverband anlegen können."
Ein 14jähriges Mädchen aus Salagradj:
"Unser Dorf wurde von Polizisten und Paramilitärs umzingelt. Sie fingen an,
Granaten zu werfen. Mein Vater und mein Onkel sind sofort geflohen. Wir wissen
nicht, wo sie sind. Die Polizisten wiesen uns an, fortzugehen. Wir hatten nur
noch Zeit, ein paar Sachen zusammenzusuchen und sie auf dem Traktor zu
verstauen, aber später haben die Serben sie uns weggenommen. Drei Tage und
Nächte haben wir in der Kolonne auf der Straße verbracht. Es gab viele
Paramilitärs, Militärs und Polizisten auf der Strecke, alle waren maskiert. Der
Konvoi kam sehr langsam voran: Alle 50 Meter hielten die Serben uns an und
forderten Geld, den Schmuck der Frauen, oder sie fragten uns, wohin wir
wollten. Sie demütigten und beleidigten uns."
Eine 21 Jahre alte Frau aus Padalista:
"Am 27. März vormittags haben die Polizei, Paramilitärs und die jugoslawische
Armee unser Dorf mit Jeeps, Lastwagen und Panzern überfallen. Es waren ungefähr
300 Leute, von denen einige maskiert waren. Eine Stunde lang gab es
Dauerbeschuß, was uns gehindert hat, das Haus zu verlassen. Dann hat einer ein
Fenster eingeschlagen und ist ins Haus gekommen. Es war der Sohn meines
Nachbarn. Er trug einen schwarzen Schal auf dem Kopf. Er kam herein und sagte:
,Wir sind jetzt keine Nachbarn mehr.' Die Polizei befahl uns, das Haus zu
verlassen. Drei Mitglieder meiner Familie gingen hinaus. Kaum waren sie
draußen, wurden sie von der jugoslawischen Armee beschossen. Dem Rest der
Familie gelang es zu fliehen. Wir haben uns in der Umgebung versteckt. Während
wir uns versteckt hielten, wurde ich Zeuge mehrerer ähnlicher Morde,
einschließlich des Mordes an einem zweijährigen Kind."
Eine 44jährige Frau aus Istok:
"Am Samstag, 27. März, ist die Polizei bei uns erschienen und hat uns befohlen,
unser Zuhause zu verlassen: ,Wenn ihr nicht erschossen werden wollt, dann müßt
ihr gehen.' Ich bin ins Stadtzentrum gegangen. (...)
Dann bin ich im Regen in
die Berge geflüchtet. Ich bin ungefähr zehn Stunden gegangen, bei mir waren
Kinder - das jüngste war einen Monat alt - und Behinderte. Drei Tage haben wir
in den Bergen verbracht und hatten nichts: weder Nahrung noch Kleidung zum
Wechseln, noch Geld. Dann sind wir in die Stadt zurück. Die Polizei erwartete
uns. Wir, ungefähr 5.000 Menschen, wurden an der Bushaltestelle
zusammengeführt. Wir wurden geschlagen und bedroht. Alte und Behinderte wurden
getötet."
Eine Frau aus Pritina:
"Wir wurden gezwungen, Pritina am 29. März zu verlassen. Maskierte Männer sind
in unser Haus eingedrungen und haben uns gezwungen, fortzugehen. Wir mußten in
Kolonnen zum Bahnhof laufen. Auf dem Weg dorthin hat mich ein Polizist
angehalten und mich mit der Waffe in der Hand gezwungen, ihm Geld zu geben. Auf
dem ganzen Weg wurden wir von Polizisten und Militärs in serbischer Uniform
beleidigt und bedroht. Einige von ihnen sprachen Russisch. Als wir am Bahnhof
ankamen, mußten wir in einen Zug steigen. In der Warteschlange durchsuchten uns
die Serben nach Ausweispapieren und nach Geld. Wenn sie Ausweise fanden,
zerrissen sie sie. Wir haben es geschafft, unsere Sachen zu verstecken. Die
Fahrt dauerte zwei Stunden. Eineinhalb Stunden mußten wir an der Grenze warten.
Danach mußten wir auf den Schienen gehen, weil man uns sagte, daß die
Straßenränder vermint wären. Von makedonischer Seite gab es keinerlei Schutz.
Dann kamen wir in Blace in Makedonien, einem toten Ort, an, ohne Wasser, ohne
Nahrung, im Regen. Dort haben wir fünf Tage gewartet."
Ein 90 Jahre alter Mann aus Blac Dragas:
"Ich bin verjagt worden aus meinem Dorf, das die Serben am 31. März in Brand
gesetzt haben, nachdem sie all unser Geld genommen und das Vieh getötet hatten.
Ich konnte mit meiner Familie im Traktor fliehen und habe mich zu Freunden ins
Dorf Bresan geflüchtet; dort bin ich zwölf Tage geblieben, während der Rest
meiner Familie nach Albanien ging. Am 13. April sind motorisierte Militärs
gekommen, die mich und sechs andere ältere Personen holten, die allein in
Bresan geblieben waren, weil sie nicht mehr weiter konnten. Sie haben uns an
die Grenze transportiert. Unterwegs habe ich viel Militär gesehen. Zwischen Zur
und der Grenze legten Soldaten Minen."
Eine 35jährige Frau aus Batusa:
"Am 13. April kamen sie in unsere Häuser in Batusa und steckten sie alle in
Brand, nachdem sie all unser Geld genommen hatten. Sie waren nicht maskiert,
aber es waren viele. Mein Sohn wurde auf ein Feld gebracht, nicht weit vom
Haus. Dort wurde er verprügelt und gezwungen, ihnen sein Geld zu geben.
Anschließend ließen sie ihn allein, und wir konnten zusammen fliehen. Einige
Kilometer vor Prizren flog ein Flugzeug über uns. Es flog sehr tief und schnell
und konnte uns deutlich sehen. Zwei oder drei Stunden lang war kein Soldat mehr
bei uns. Das Flugzeug warf Bomben auf beide Seiten der Straße. Jeder versuchte
sich auf den Boden zu werfen, um sich selbst zu schützen. Keiner wurde
verletzt, und so kam das Flugzeug wieder zurück und bombardierte die Mitte
unseres Konvois. Zwei Fahrzeuge vor uns wurden getroffen. Alle in diesen beiden
Traktoren wurden getötet, etwa zehn Leute. Wir waren in dem dritten Traktor.
Mein Bruder, der fuhr, verlor seinen Arm. Viele Menschen wurden verletzt. Zehn
Minuten nach der Bombardierung kam die Polizei mit einem Lkw, um die Verletzten
und die Toten abzutransportieren. Mein Mann half, die Leichen in den Lkw zu
tragen. Er zählte 18 Leichen. Die Polizisten sagten, sie würden die Verletzten
in das Krankenhaus von Prizren bringen. Unsere Ausweispapiere wurden uns an der
Grenze weggenommen."
taz Nr. 5832 vom 11.5.1999 Seite 7 Tagesthema 337 Zeilen
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Erläuterungen zu unserer Dokumentation von Zeugenaussagen
Im Kosovo werden von der serbischen Armee, Polizei und paramilitärischen
Verbänden in schwerwiegendster Form die Menschenrechte verletzt -
Hunderttausende wurden aus ihren Häusern vertrieben, eine unbekannte Zahl von
Menschen wurde getötet. Seit dem Beginn der Nato-Luftangriffe haben sich diese
Verbrechen noch auf dramatische Weise verstärkt. Doch anders als vor Beginn des
Krieges gibt es keine unabhängigen Augenzeugen mehr. Die Beobachtermission der
Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die im Auftrag
der Vereinten Nationen seit Oktober 1998 mit 1.400 Mitarbeitern im Kosovo
stationiert war, wurde am 20. März abgezogen, als die Luftangriffe der Nato
unmittelbar bevorstanden. Doch die OSZE-Beobachter setzten ihre Arbeit in
Makedonien und Albanien fort und stellen gegenwärtig weiter Berichte über die
Menschenrechtssituation zusammen. Diese werden alle zwei Wochen den Regierungen
der 53 OSZE-Mitgliedstaaten übergeben, bislang allerdings nicht veröffentlicht.
Wie ein OSZE-Sprecher der taz erläuterte, geschieht dies deshalb nicht, weil
die Berichte sich auf Schilderungen von Zeugen sowie auf Berichte anderer
Medien und Organisationen stützt, die im einzelnen für die OSZE selbst nicht
überprüfbar sind. Doch nach mehreren hundert Interviews mit Flüchtlingen in
Albanien, die die OSZE-Beobachter nach Beginn des Krieges führten, stellt sich
ein klares Bild der serbischen Vertreibungs- und Völkermordpolitik her:
"Die Lage im Kosovo ist von extremer Gewalttätigkeit und Brutalität gezeichnet,
Menschenrechte gelten wenig. Flüchtlinge werden von serbischen und
jugoslawischen Kräften mit unterschiedsloser, gewalttätiger Härte aus ihren
Häusern vertrieben. Viele der Vertriebenen berichteten über Massenmorde,
außergesetzliche Tötungen sowie Plünderungen und die Zerstörung ihres Besitzes.
Flüchtlinge berichten, daß sie aus ihren Häusern vertrieben und als
'menschliche Schutzschilde' in der Umgebung militärischer Einrichtungen
festgehalten wurden", schreiben die OSZE-Beobachter.
Die taz veröffentlicht hier die wesentlichen Passagen des Berichts der
OSZE-"Kosovo Verification Mission" (KVM) in Tirana für den Zeitraum vom 2. bis
15. April. Für die Übersetzung des englischsprachigen Originals danken wir der
Heinrich-Böll-Stiftung.
Zusätzlich dokumentieren wir die Aussagen von einigen der 1.537 Flüchtlinge,
die von der Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" im Lager Rozaje in
Montenegro befragt wurden. Diese Aussagen wurden vergangene Woche von der
Organisation in Bonn veröffentlicht (Kontakt: 02 28-55 95 00, die englische und
französische Fassung findet man im Internet unter
www.msf.org/projects/yugoslavia/kosovo/index.htm (3.4.2003: link ungültig, www.msf.org existiert noch) "Das wichtigste
Ergebnis dieser Studie lautet, daß annähernd die Hälfte der Befragten ihre
Heimat zwangsweise aufgrund von unmittelbarer, persönlicher Bedrohung verlassen
haben", heißt es darin. "Fast 46 Prozent der Kosovaren kamen ohne
Ausweispapiere in Montenegro an."
"Ärzte ohne Grenzen" schließen aus den gesammelten Aussagen, daß "die
Vertreibungen Bestandteil einer systematischen Politik sind, die im voraus
geplant war" und ist der Überzeugung, daß "die begangenen Taten
Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen".
Chronik des Terrors
Tag für Tag, Dorf für Dorf schilderten aus dem Kosovo Vertriebene gegenüber
Beobachtern der OSZE, was ihnen widerfahren ist
Die nachfolgenden Punkte werden von den Flüchtlingen vielfach wiederholt:
-
Männern werden von ihren Frauen getrennt, wobei die Männer entweder mit
unbekanntem Schicksal fortgeschafft oder getötet werden.
-
Es gibt Fälle der Ermordung ganzer Familien.
-
Leichen von Zivilisten liegen an Landstraßen, in Straßengräben und auf
städtischen Straßen.
-
Flüchtlinge, die auf Verlangen kein Geld vorweisen können oder die bei ihrem
Exodus zu langsam sind, werden willkürlich getötet.
-
Dörfer werden systematisch und mit Gewalt geräumt und sodann geplündert und
niedergebrannt.
-
Kosovo-Albaner werden aus städtischen Gebieten mit Zügen, Lastwagen und
Bussen zur Grenze getrieben.
-
Ausweispapiere, Geld, Autos und Wertgegenstände werden von
serbischen/jugoslawischen Streitkräften an der Grenze gewaltsam geraubt.
-
Serbische Zivilisten greifen in städtischen Gebieten zu den Waffen.
-
OSZE-Angestellte geraten in das Visier der Polizei.
-
OSZE-Einrichtungen werden zerstört.
-
Wohnungen von Mitarbeitern internationaler Organisationen werden geplündert
und zerstört.
-
Alle interviewten Flüchtlinge verleihen ihrem Wunsch Ausdruck, in das
Kosovo
zurückkehren zu können. Sehr wenige nannten den Wunsch, Asyl beantragen oder in
das westliche Ausland emigrieren zu wollen.
Die Methoden der Vertreibungen
Die Mehrheit der Flüchtlinge, die in Albanien eintreffen, stammen aus dem
westlichen Kosovo und insbesondere aus Suva Reka, Prizren, Pec, Djakovica,
Mitrovica und den umliegenden Dörfern. [...]
Flüchtlinge aus Pec, Prizren und Djakovica erzählen, wie sie gezwungen wurden,
ihre Häuser zu verlassen, ohne daß ihnen die Zeit gegeben wurde, ihre Habe
zusammenzupacken, und daß sie dann auf Busse verladen wurden oder zur
albanischen Grenze laufen mußten. Wer in Autos unterwegs war, wurde manchmal
gezwungen, vor der albanischen Grenze die Fahrzeuge zurückzulassen.
In den städtischen Gebieten beschreiben Flüchtlinge die systematische
Abriegelung von Stadtteilen, die sodann von Menschen geräumt, geplündert und in
Brand gesteckt wurden. Dasselbe Muster wurde in den umliegenden Dörfern
verfolgt. Dorfbewohner wurden gezwungen, schnell und ohne ihre Habe
aufzubrechen. Das Dorf wurde dann geplündert und niedergebrannt, während die
Dorfbewohner zur nächsten Siedlung getrieben wurden.
Berichte über Hinrichtungen und Ermordungen
Celina, 23. März
Ungefähr 200 Paramilitärs und Armeeangehörige kamen mit Panzern und Lastwagen
in das Dorf. Panzer wurden zur Zerstörung von Häusern benutzt, 90 Prozent von
Celina wurde zerstört. Dorfbewohner versteckten sich in den Kellern. Serben
gossen Benzin in die Keller und töteten Frauen, Kinder und Männer, die sich
dort versteckten. Menschen, die versuchten zu fliehen, wurden erschossen.
Djakovica, ohne Datum
Zwischen dem 20. und dem 24. März wurden 10 bis 15 junge männliche
Kosovo-Albaner erschossen vorihren Häusern aufgefunden. Der Onkel des
Flüchtlings wurde vor den Augen seiner Familie erschossen. Paramilitärische
Kräfte (MUP) teilten denjenigen, die sich in Djakovica befanden, mit, daß sie
anfangen würden, die Kosovaren zu töten, sobald die Nato-Luftangriffe begännen.
Nachdem die Bombardements begonnen hatten, versteckte sich der Flüchtling
zusammen mit 45 anderen Menschen mehr als eine Woche lang in einem
Kellergeschoß. Jeden Tag ging er kurz hinaus, um Essen und Wasser mitzubringen.
Dabei sah der Flüchtling Bulldozer mit Leichen, die mit Decken verhüllt waren.
Arme und Beine hingen heraus, und Blut tropfte von dem Bulldozer herunter. Die
MUP brachten den Bulldozer zum Friedhof und kippten den Inhalt in eine große
Grube. Der Flüchtling gab an, daß die Toten in den Bulldozern "Intellektuelle"
aus Djakovica, hauptsächlich Männer, gewesen seien. Der Flüchtling glaubte, daß
bis zu 70 von ihnen von den serbischen Streitkräften in einer Tulbe (einem
muslimischen Ort zum Gebet) massakriert worden seien.
Als die Flüchtlinge zu fliehen versuchten, befahlen die MUP ihnen zu bleiben,
weil "sie nichts Falsches getan hätten". An Kontrollpunkten der Polizei wurden
ihnen alle Dokumente, ihr Geld und ihre Wertgegenstände abgenommen. An einem
Kontrollpunkt wurden die Wertgegenstände auf einen Haufen geworfen, mit Benzin
übergossen und angezündet.
Djakovica. 3. April
Die Polizei forderte alle Stadtbewohner auf, die Stadt zu verlassen. Der
Flüchtling begrub zehn Männer, die von der serbischen Polizei exekutiert
wurden, weil sie verdächtigt wurden, UÇK-Sympathisanten zu sein. Bevor sie nach
Albanien kamen, wurde der Flüchtling gezwungen, der serbischen Polizei sein
gesamtes Geld und sein Auto zu geben.
Suva Reka, 27. März
Zwei Militärlastwagen fuhren vor der Schule in Suva Reka vor. Ein Lastwagen
hatte 50 bis 60 Tote, der andere Lastwagen 50 bis 60 Männer geladen. Die Körper
wurden abgeladen und mit Reifen zugedeckt. Der Haufen wurde dann zusammen in
Brand gesetzt, die noch lebenden Männer wurden ins Feuer gestoßen. Der
Flüchtling sah auch vier MUP, die das OSZE-Büro in Suva Reka verließen, bevor
dieses in Flammen aufging.
Suva Reka, 28. März
Serben begannen, Suva Reka und umliegende Dörfer unter Beschuß zu nehmen.
Flüchtlinge waren Zeugen, wie zwei Menschen durch die von "Arkan"
befehligtenParamilitärs in dem Dorf Vlashe mit Messern getötet wurden. Sie
stahlen ihre gesamten Besitztümer, Geld und Ausweispapiere, bevor sie flohen.
Flüchtlinge sagten, daß Serben in Mushtis 20 Menschen töteten; 30 Menschen in
Trnje; 20 Menschen in Lesha; 11 Menschen in Supi und eine Familie, bestehend
aus 12 Familienmitgliedern, in Vranes. Die meisten Opfer wurden erschossen.
Suva Reka, 1. bis 3. April
Serbische Militärkräfte zwangen Dorfbewohner aus ihren Häusern, indem sie sie
mit Gewehren bedrohten und begannen, die Gebäude in Brand zu stecken. Die
serbische Polizei fragte, wo die früheren OSZE-Mitarbeiter seien. Die
Flüchtlinge beobachteten, wie das OSZE-Büro in Suva Reka von der serbischen
Polizei in Brand gesetzt wurde. Die Familie, die hinter dem OSZE-Büro wohnte,
wurde getötet. Die Polizei überfuhr ein Kind mit einem Militärfahrzeug und
schnitt mindestens einem Kind die Ohren ab.
Suva Reka, ohne Datum
Ein Flüchtling sah Lastwagen voller toter Körper, die mit Plastikplanen bedeckt
waren und sodann mit alten Reifen und Benzin bedeckt wurden. Die Lastwagen
wurden ausgekippt und ihr Inhalt in Brand gesetzt. Ein anderer Flüchtling
berichtet, mehrere hundert Körper auf den Straßen von Suva Reka gesehen zu
haben und Zeuge der Hinrichtung von acht seiner Nachbarn gewesen zu sein.
Nishor bei Suva Reka, 1. April
Das Dorf wurde unter Beschuß genommen und angegriffen. Serbische Streitkräfte
kamen in das Dorf und trieben alle Einwohner zusammen. Sie gingen in einem
Konvoi, bestehend aus allen auffindbaren Fahrzeugen und zu Fuß, nach Belanica,
wo sie auf Dorfbewohner aus acht anderen Dörfern trafen. Die Menschen wurden
von den serbischen Streitkräften beraubt . Der Sohn des Flüchtlings wurde vom
Traktor geholt und erschossen, weil er kein Geld hatte, das er den serbischen
Soldaten hätte geben können. Er wurde vor den Augen seiner Familie getötet.
Kralan bei Malisevo, o. D.
Dorfbewohner aus Lapceve, Septen und Klina wurden in Kralan versammelt. Die
serbischen Streitkräfte organisierten einen Konvoi aus Traktoren und trennten
Männer - etwa 360 - und Frauen. Die Männer wurden gezwungen, sich zu
entkleiden, und fortgebracht. Frauen und Kinder wurden nach Albanien geschickt.
Zwei alte Frauen waren nicht in der Lage, auf einen Traktor zu steigen, und
wurden von den Serben erschossen. Sie luden deren Leichen auf den Traktor und
setzten diesen in Brand.
Pec, 27. März
Serbische Streitkräfte kamen und forderten die Zivilisten auf, das Gebiet zu
verlassen. Der Flüchtling glaubt, daß bis zu 30.000 Bewohner aus Pec vertrieben
und mehrere Tage lang zusammen festgehalten wurden. Sie wurden von
Militärkräften umringt. Der Flüchtling wurde zusammen mit 500 anderen Männern
von diesen getrennt und als "menschliches Schutzschild" zum Schutz von Panzern
benutzt. Mehrere Tage später wurden die meisten Männer freigelassen, 80 wurden
jedoch weiterhin festgehalten. Der Flüchtling hörte, wie Gewehrschüsse auf die
80 Männer abgegeben wurden, als er floh. Das Massaker ereignete sich in der
Gegend von Klina.
Dragobil, o. D.
Ein Flüchtling wurde gezwungen, zusammen mit anderen Dorfbewohnern das Dorf zu
verlassen. Er beobachtete, wie ein 16 Jahre alter Junge von der serbischen
Polizei erstochen wurde und wie ein anderer serbischer Polizist mehrere hundert
Mark verlangte, um die Vergewaltigung einer jungen Frau zu verhindern. Der
Flüchtling wurde gezwungen alle seine Kleider abzulegen und 1.000 Mark zu
bezahlen, ansonsten würde er erschossen. Andere Flüchtlinge zahlten, um ihren
Tod zu verhindern.
Rogovo, 25. März
Die Serben begannen, Rogovo unter Beschuß zu nehmen. Nach fünf Tagen kehrten
die Flüchtlinge nach Rogovo zurück. Armee, Polizei und Paramilitärs (graue
Uniformen, rote und weiße Streifen auf den Schultern) begannen erneut mit
Angriffen. Den Flüchtlingen wurde gesagt, sie müßten sofort die Stadt
verlassen. Ihnen wurde nicht gestattet, das Zentrum von Prizren zu durchqueren,
ein Flüchtling sah keinerlei Menschen in Prizren, nur, daß viele Gebäude
zerstört waren. Serbische Militärs drohten, einer Familie ihr Kind wegzunehmen,
wenn diese ihnen nicht 1.000 Mark gäbe. 50 Menschen versuchten, einen Fluß zu
überqueren, Soldaten eröffneten das Feuer auf die Flüchtlinge. Er glaubt, daß
bis auf zwei alle Flüchtlinge getötet wurden.
Pec, 25. März
Panzer fuhren in die Innenstadt und beschossen die albanischen Stadtteile.
Während der folgenden zwei Tage wurden albanische Geschäfte von serbischen
Zivilisten, Polizei und Männern, die militärische Uniformen trugen, geplündert.
taz Nr. 5832 vom 11.5.1999 Seite 6-7 Tagesthema 320 Zeilen
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