Kosov@/Nato 15. Mai 1999

Der Spiegel, 15. Mai 1999

PUBLICRELATIONS

Dr. Jekyll und Mister Hyde

Die Nato kämpft nicht nur im Kosovo. In Brüssel warten die Weltmedien jeden Tag auf neue Nachrichten. Wenn es nichts zu melden gibt, müssen neuerdings "Spin Doctors" ran, die das Nichts so lange drehen können, bis es wenigstens subtile Propaganda wird.

Zum Jubiläum kam die Wahrheit mit Verspätung. Am vergangenen Mittwoch begann der 50. Tag des Kosovo-Krieges, aber dieses Mal wartete der Journalistentross im Pressesaal "Joseph Luns" der Brüsseler Nato-Zentrale fast eine halbe Stunde vergebens auf die Morgenbotschaften. Die Wahrheit sieht müde aus, als sie endlich hereinweht, ausgelaugt, angeschlagen. "Ladies and Gentleman, good morning", schnauft Nato-Sprecher Jamie Shea und berichtet vom vergangenen Kampftag, der so erfolgreich wie kaum ein anderer gewesen sei. Der Brite rattert das Programm herunter wie einen Bus-Fahrplan, weil er weiss, dass zerstörte Panzer und Flugzeuge, Brücken und Raffinerien wieder nicht reichen werden. Er hat wieder keine genauen Zahlen. Und natürlich weiss er wieder nicht, wie lange dieser Krieg noch dauern wird, den er nicht Krieg nennt, sondern Feldzug. Höchstens. Die Journalisten mögen ihn trotzdem. Shea ist aufregend unaufgeregt. Er scherzt gern, neigt zu sanftem Zynismus und duzt jede Patricia von CNN und jeden Mark von BBC. Jamie gilt als ebenso jovial wie ehrlich. Das wird langsam zum Problem, nicht nur für ihn.

Eine neue Truppe von Meinungsmachern um Alastair Campbell, Sprecher des britischen Premiers Tony Blair, bastelt in Sheas Nachbarschaft eifrig am "revamping" des vermeintlich schlappen Nachrichten-Verkaufs der Nato. In Zukunft soll neu strukturiert und aufgemotzt werden, was bislang als eher erfolglose Chronik daherkommt. Eine neuinstallierte Geheimzelle plant "Media Operations", was im englischen Sprachgebrauch durchaus als Propaganda missverstanden werden darf.

Shea ist dafür nicht zu haben. Der promovierte Oxford-Historiker arbeitet seit 20 Jahren bei der Nato, seit sechs Jahren als Sprecher des Generalsekretärs. Manchmal fragt er sich neuerdings, ob das nicht schon ein bisschen zu lange ist. Normalerweise organisiert sein Büro höchstens die Landung von Touristentruppen. Shea ist im Ausnahmezustand. Shea ist überfordert.

Und das liegt weniger an ihm, als an den dauernden Flops, die es immer häufiger zu erklären gilt: vom schlechten Wetter über dem Kosovo bis zum trüber werdenden öffentlichen Grossklima über dem gesamten Kommando, von dummen Vorpreschern der Militärs bis zu glatten Falschmeldungen und Bomben-Irrtümern.

Ganz schlimm kam es für Shea, als der italienische Brigadegeneral Giuseppe Marani, dessen Englisch nur für eine Taxifahrt durch New Yorks Little Italy ausreicht, am 15. April den Beschuss eines Flüchtlingskonvois erklären musste. Marani murmelte von "Umständen, so wie wir sie verstehen". Tags zuvor hatte das serbische Fernsehen Bilder gestreut, die Leichen mit blutverschmierten Köpfen und abgerissenen Gliedmassen zeigten. Die westlichen Militärs dementierten zunächst, räumten dann doch Nato-Fehler ein, um sie schliesslich wieder in Frage zu stellen.

Kurz nach dem Desaster meldete sich erstmals Alastair Campbell lautstark zu Wort, obwohl er in Brüssel keinerlei Amt innehat. Der rüde schottische Hüne ist nicht nur Sprachrohr des britischen Premierministers. Er ist auch "Blairs Rasputin" ("Times"), seine "Bulldogge" ("Frankfurter Allgemeine Zeitung"), die jeden wegbeisst, der ihm in die Quere kommt.

Campbell begann wie Shea einst brav das Studium an einer Elite-Universität. Doch damit enden die Gemeinsamkeiten auch schon, denn Campbell übte sich in Cambridge vor allem im Kampftrinken und Football-Gucken. Seine ersten Honorare verdiente er sich unter der Überschrift "Riviera Gigolo" mit dem Verfassen kruder Softpornos der Sorte: "Wir machten Liebe und kamen fast sofort zum Höhepunkt." So wurde er Journalist, soff nach eigenem Bekunden noch mehr, bekam einen Nervenzusammenbruch und fing wieder von vorn an, bis er als Politikchef des labour-freundlichen "Mirror" in Blairs Entourage landete.

Heute massregelt er Minister wie Schulkinder, redigiert nicht nur Blairs Reden, sondern dessen gesamtes Auftreten, beschimpft missliebige Schreiber als "Wichser" und verschafft sogar rechter Krawallpresse mitunter schöne Neuigkeiten.

Campbell antichambriert und droht, tadelt und trickst. Er gilt als effizient, organisationsstark und politisch versiert bis weit in die parteipolitischen Verästelungen der europäischen Nachbarländer. Er ist in der Lage, aus dem reinen Nichts wundervolle Schlagzeilen zu zaubern und vermeintlich böse Meldungen in freundliche umzudrehen.

Obwohl er sich nie einer Wahl stellen musste, hat der "Spin Doctor" Campbell heute mehr Einfluss auf die Regierungspolitik als mancher Minister. Der Schotte ist so entsetzlich gut, dass er selbst von US-Präsident Bill Clinton bereits ein Job-Angebot erhielt, das natürlich seinen Weg in die Öffentlichkeit fand. Irgendwie.

Wenn Shea ein analytischer Dr. Jekyll ist, der jeden Tag mit der nahenden Katastrophe hadern muss, dann wird Campbell allmählich sein Mister Hyde ­ ein Schattenwesen, das im Brüsseler Hintergrund anfängt, neue Scheinwerfer aufzustellen.

Bereits am 17. April verabredete die "Media Strategy Group", in der neben Campbell auch die Elysée-Sprecherin Catherine Colonna, der Bonner Regierungssprecher Uwe-Karsten Heye und Joe Lockhart vom Weissen Haus sitzen, die Einrichtung eines "Media Operations Centre" (MOC) in Brüssel. Laut internem Organigramm ist das MOC nun zuständig für "Präsentationsstrategien und die Grundlinie des Nato-Sprechers". Offiziell sollte der Trupp den überforderten Shea unterstützen. "Er bleibt das Aushängeschild. Er muss funktionieren", heisst es aus dem Stab. Inoffiziell sollten so endlich alle Informationen gefiltert, geglättet und kanalisiert werden. Nebeneffekt: Shea ist faktisch entmachtet und mit ihm auch der Sprecher des Nato-Oberbefehlshabers Wesley Clark, der deutsche Oberst Konrad Freytag.

Die Nato, das sind 19 Regierungschefs, 19 Aussenminister, 19 Verteidigungsminister und Hunderte von Militärs jeder Couleur, die im allgemeinen Schlachtgetümmel bislang wild durcheinanderplapperten. Dieser Nato dämmert langsam, dass die Informationsfront mit jedem Tag brüchiger wird. Und dass die Kosovo-Krise noch eine Weile dauern kann. Nun soll der Hobby-Dudelsackbläser Campbell wenigstens die eigene Public Relations marschmässiger orchestrieren. Taktgefühl erwünscht, aber nicht Voraussetzung. Im Hauptquartier liess er flugs eine Wand durchbrechen und verwandelte zwei Konferenzsäle in einen "War Room", von dem viele Nato-Leute bis heute nicht wissen, was dort passiert. Binnen weniger Tage standen dort drei Dutzend Schreibtische, PC und Meinungsmacher bereit.

Das MOC arbeitet in mehreren Zellen: Eine wertet Zeitungen, TV-Sendungen und Tikkermeldungen aus, eine hält Kontakt zu den Militärs, eine andere feilt an den Stellungnahmen der hochrangigen Soldaten aus dem Nato-Hauptquartier in Mons bei Brüssel.

Das Herzstück des War-Room ist die "Planning and Coordination Unit", wo die "Mastermessages" für die täglichen Briefings ausgearbeitet werden. Leute wie der Clinton-Berater Jonathan Prince und der ehemalige "Financial Times"-Journalist Bernard Gray geben in diesem Stimmungslabor den Ton an. Unruhig werden die MOC-Profis bereits, wenn der britische "Economist" in einem Leitartikel den "verpfuschten Krieg" geisselt. Nervös werden sie angesichts der wenig schmeichelhaften Kriegschronik in "Le Monde". Und alarmiert sind sie, wenn selbst ein deutsches Kabinettsmitglied mittlerweile schimpft: "Die Militärs haben phantastisch versagt." Briten und Amerikaner dominieren das MOC. Inzwischen wurden fünf deutsche Spezialisten aus Verteidigungsministerium, Bundespresseamt und Aussenministerium abbeordert ­ auch, um allzu blumige Schlachtenlyrik Campbells und der zu martialischen Grundtönen neigenden Regierungschefs in Washington und London zu verhindern. "Die Deutschen machen da keine Schnitte", gibt ein Insider zu.

Kein Wunder: Regierungssprecher Heye lässt sich bei den täglichen Schaltkonferenzen mit London, Paris und Washington gern und häufig von untergeordneten Beamten vertreten. Nach den Deutschen stiessen Franzosen und Holländer in den verschwiegenen Zirkel. Nicht integriert: Italien, das momentan den Flugzeugträger der Nato spielen muss.

Rein "reaktive Öffentlichkeitsarbeit" reiche nicht mehr, heisst es unisono. Immerhin sitze mit Milosevic auf der Gegenseite ein "Meister der Manipulation", auch wenn man sich auf dessen Instrumentarium natürlich nicht einlassen will.

Pannen passieren zwar auch weiterhin: So zählten die Nato-Militärs in ihrer Presseinformation Nr. 99-05-02 akribisch genau ihre Erfolge auf, bedauerten aber erst im Schlusssatz lapidar, dass sie irrtümlich die chinesische Botschaft in Belgrad getroffen hätten.

Doch wohin die neue "Informations"-Offensive führen könnte, deutet sich bereits an. Laut der vertraulichen Zusammenfassung der MOC-Hauptstadtkonferenz vom 11. Mai sprach Elysée-Sprecherin Colonna die "wachsenden Zweifel" der französischen Öffentlichkeit am Luftkrieg an und fragte: "Kann das MOC mit Artikeln helfen, um sie in französischen Medien zu plazieren?" Im Mittelpunkt der Berichterstattung sollten künftig vor allem "Flüchtlinge, echte Militärerfolge und Greueltaten der Serben" stehen. Sheas 15-Uhr-Briefing am darauffolgenden Tag wurde prompt mit einer Live-Schaltung nach Skopje garniert, wo der schwitzende Nato-Generalsekretär Javier Solana von seinen bedrückenden Besuchen in Flüchtlingscamps erzählte. Danach nannte der deutsche Zwei-Sterne-General Walter Jertz alle Ziele, die tags zuvor attackiert wurden. Jertz hatte zwar immer noch keine aussagekräftigen Statistiken, aber eine Menge bunter Archivbilder von waffenstarrenden Jets parat.

Verteidigungsminister Rudolf Scharping hatte Jertz mit dem Anspruch nach Brüssel geschickt, eine offene und ehrliche Informationspolitik zu betreiben. Und immerhin hatte der Hardthöhen-Chef vorher den Amerikanern das Versprechen abgetrotzt, dass Jertz auch Zugang zu deren internen Unterlagen ("US eyes only") bekommt. Klappe das nicht, könne Jertz sofort die Brocken hinwerfen. "Sie dürfen dann", so Scharping zu seinem Soldaten, "sofort gehen."

Noch hält er die Stellung. Doch Jertz weiss, dass es einfacher ist, einen Krieg anzuzetteln, als ihn zu beenden. Kameraden des Karlsruher Luftwaffendivisionskommandeurs sagen: "Er schwitzt jeden Tag Blut und Wasser", wenn er auf den öffentlichen Grill der Pressekonferenz muss, um von Campbells Leuten redigierte Texte zu verlesen.

Zivilist Shea steht eher mitleidig daneben. Er kann Jertz bei den gemeinsamen Auftritten immer weniger helfen, weil er nun auch noch PR in eigener Sache betreiben muss. Campbells Brüsseler Meinungsmacher faxen derweil jeden Morgen an die Hauptstädte eine "Morning Message", die gelegentlich mit der Ansage beginnt: "Heute morgen sollte klar sein ..." Shea behauptet tapfer, dass er seine Skripte nach wie vor selbst schreibt. Er stehe für wahre und genaue Informationen. Aber er weiss auch, wie ermüdend und langweilig das nach 50 Tagen Bombardement bereits draussen ankommt. Und so schleichen sich in seine Briefings neuerdings zwischen all die Durchhalteparolen Sätze ein wie "Es wird schwerer und schwerer". Nicht nur für die Jet-Piloten.

SYLVIA SCHREIBER, ALEXANDER SZANDAR, THOMAS TUMA

1. Juni 1999/uh,
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