Kosov@/Nato 20. Mai 1999

Süddeutsche Zeitung vom 20.05.1999

Ungarn: Gestrandete des Kosovo-Konflikts

Die Fliehkraft der eigenen Fahne Sie wollen Milosevics Vertreibungskrieg nicht mitkämpfen – nun sitzen serbische Deserteure mit denen in einem Lager, die ihre Feinde sein sollten

Von Stefan Ulrich

Bekescsaba, im Mai – Was er getan hat im Kosovo, läßt sich nicht einmal vermuten. Sein Bericht ist emotionslos, knapp, vage. Die dunklen, glanzlosen Augen verraten nichts. "Ja, ich bin desertiert", murmelt der Mann in der brüchigen schwarzen Lederjacke, "King of Pop: Michael Jackson" steht auf der Rückseite. Vielleicht 50 Jahre ist er alt, seinen Namen will er nicht nennen. Nur so viel: Er sei Reservist gewesen, nach Ausbruch des Krieges einberufen und in den Kosovo geschickt worden. Nun ist er hier, im Flüchtlingslager Bekescsaba, im Süden Ungarns. Duschen, in denen Kot liegt, Schlafsäle für einige Dutzend Menschen, überall Mauern, Zäune, Gitter und am Eingang ein schweres Eisentor – das ist vorerst sein Zuhause.

Die wochenlangen Nato-Attacken haben möglicherweise ihre Auswirkung auf die Moral der Truppe gehabt. In der Stadt Krusevac in Zentralserbien demonstrierten diese Woche Angehörige von Soldaten gegen den Einsatz der Männer und forderten deren Rückkehr aus dem Kosovo. Und es stehlen sich mehr und mehr Soldaten davon. Sie schleichen sich die Bahngleise entlang oder hindurch zwischen Patrouillen und Wachtürmen. Die grüne Grenze ist 174 Kilometer lang, sie trennt Jugoslawien von Ungarn, Krieg von Frieden.

"Ich kann nie wieder heim"

"Die jugoslawischen Soldaten werden alle mit Gewalt in den Kosovo verfrachtet", sagt der Mann mit den glanzlosen Augen. "Keiner ist freiwillig dort. Aber untereinander halten sie zusammen." Das gilt auch für die Deserteure. Sie bilden eine Schicksalsgemeinschaft, die naturgemäß kein Interesse hat, sich Journalisten zu öffnen – sie sind geprägt von Scham, Entsetzen und der Angst, die zurückgebliebene Verwandtschaft könnte drangsaliert werden. Den Mann in der Michael-Jackson-Jacke machen Nachfragen über seinen Kriegsdienst geradezu nervös. Er reibt mit dem Fuß über den Teerboden. Nach drei Monaten habe er es im Kosovo nicht mehr ausgehalten, sagt er. "Ich wollte keinen Krieg. Ich habe meine Uniform weggeworfen und bin nachts in Zivil geflohen." Durch ganz Serbien habe er sich schlagen müssen, schließlich sei er durch den Wald nach Ungarn gelangt. Grund, erleichtert zu sein, hat er aber nicht wirklich: Frau und Kinder blieben zu Hause in Serbien zurück. Er konnte ein paar Mal telephonieren. "Für sie ist es ein großes Problem, daß ich desertiert bin. Ständig kommt die Polizei und fragt, wo ist der Mann?"

Die Behörden in Serbien sind nervös geworden. Deuten Desertionen auf den Beginn eines Machtverfalls hin? In Krusevac hat das örtliche Armeekommando erklärt, die Demonstrationen seien "Verrat", ja, eine "Untergrabung" der Landesverteidigung. Sie bedeuteten eine direkte Zusammenarbeit mit dem Feind – lauter Vokabeln also, die Teilnehmern und Organisatoren nichts Gutes verheißen. Offiziell haben die ungarischen Behörden seit Kriegsausbruch Ende Mai mehrere hundert Deserteure registriert. Nach Angaben von Ungarn aus dem Grenzgebiet dürften es aber bereits Tausende sein. In Lagern wie Bekescsaba hat sich eine merkwürdige Gemeinschaft der Gestrandeten des Krieges gebildet. Jugoslawen albanischer, serbischer und ungarischer Herkunft leben beieinander, in Schlafsälen zusammengepfercht. Für 250 Menschen wurde das Camp angelegt, 365 leben derzeit hier, sagt Lagerleiter Bela Szekely. 180 Bewohner seien Ungarn aus der zu Serbien gehörenden Vojvodina, 30 seien Serben. "Der Rest sind Kosovo-Albaner." Probleme gebe es nicht, sagt Szekely.

Auf dem Hof stehen Albaner, Serben und Ungarn beieinander. Ein junger Mann läßt sich nach vorne schieben. Rotblondes Gesicht, Serbe deutscher Abstammung, Boris-Becker-Typ. 25 Jahre ist er alt, und als er den Einberufungsbescheid zur Armee bekam, sagt er, war er geschockt, für Stunden paralysiert. Dann tat er sich mit zwei Freunden zusammen, lief fort, schaffte es hierher, nach Ungarn. "Alle lieben ihr Vaterland und Volk", sagt er. "Aber alle wollen doch auch leben. Keiner will den Krieg." So hat er sich zur Flucht entschlossen, einem Schritt, den er auf absehbare Zeit nicht mehr rückgängig machen kann. "Als Deserteur kann ich nie wieder nach Serbien zurück", sagt er.

Andere wünschten, sie hätten nur dieses Problem. "Der hat leicht reden, der hat keine Familie", fährt ihm einer, der vielleicht 30 Jahre ist, dazwischen. "Täglich telephoniere ich mit meinen Leuten. Es geht ihnen schlecht. Kein Geld, kein Benzin, kein Zucker – weil Krieg ist." Die Nato-Bombardements seien eine Schweinerei. "Denn wir sind auch eine Zivilisation in Europa. Das Volk kann nichts für Milosevic." Beifälliges Gemurmel der anderen. So wenig die Deserteure von sich preisgeben, so sehr wird doch deutlich: Es handelt sich bei ihnen keinesfalls um künftige Widerstandskämpfer. Es sind eher Menschen, für die Politik in ihrem Leben nie ein Thema war. Deshalb sehen sie den Krieg, den ihr Präsident riskiert hat, vor allem als Bedrohung des eigenen Lebens und des Lebens ihrer Familie. Daher ist es kein Widerspruch, vor Milosevic davonzulaufen und zugleich die Nato zu verfluchen – im Gegenteil: Beides ist ihre Art, Hilflosigkeit auszudrücken. Niemand muß sich wundern, daß ihnen für die Kosovaren jegliches Mitgefühl abgeht. Die Antipathie zu Milosevic schafft noch keine Sympathie zu seinen Opfern, nicht in einer Region, in der sich die Spannungen über Jahrhunderte aufgebaut haben. Nur, daß die Spannungen nicht jedem Mord und Krieg wert sind.

"Kein Kosovo-Albaner wird vertrieben", sagt einer der Deserteure, so weit folgt er sogar der serbischen Propaganda. "Die hauen nur ab, weil sie eine bessere wirtschaftliche Lage wollen." Ein anderer läßt Dampf ab, indem er gegen ein verrottetes Kinderbett auf dem Hof kickt, dann ruft er herüber: "Wieso werden die Albaner nach Westeuropa und in die USA ausgeflogen, und wir vegetieren hier vor uns hin?" – "Das stimmt!" ruft einer. "Eine Frechheit!" ein anderer. Nur auf die Kosovaren im Lager läßt man nichts kommen. "Wir haben keinen Zoff mit ihnen", das sagen alle. Funktioniert hier, was in Jugoslawien nicht mehr funktioniert hat? Daß Menschen nur nebeneinander leben müssen, um festzustellen, daß die anderen keine Monster sind?

"Wir sind doch alle Flüchtlinge", sagt Arton, ein blasser Junge von vielleicht 16 Jahren. Er ist seit zwei Monaten hier. Alleine. "Ich bin ohne Paß gekommen. Über Serbien. Durch den Wald." Warum er geflohen ist? Ein unsicherer Blick auf die Serben – er fühlt sich noch nicht so wohl in ihrer Gemeinschaft. "Sie wissen doch, daß im Kosovo Krieg ist. Wir hatten Probleme – mit Polizei und Militär." Bloß nicht Verfolgung und Vertreibung offen ansprechen. Wie er mit den Serben hier auskommt? "Die normalen Serben hasse ich", sagt Arton. "Aber die hier, die Deserteure, die sind in Ordnung."

In Bekescsaba sind freilich nicht nur Deserteure und albanische Flüchtlinge untergekommen, sondern auch Menschen, die man als Kriegsgewinnler bezeichnen kann – obwohl ihr Profit, der Aufenthalt in diesem Lager, so lausig ist. Nino ist ungarischer Jugoslawe aus der Vojvodina. "Ich habe zu Hause eine Kneipe verwüstet und wurde von der Polizei gesucht", sagt er. "Ich war mehrmals im Gefängnis. Für mich war der Krieg die Chance, in den Westen zu kommen." Er gab einem Schlepper 400 Mark. "Sie führten mich in der Nacht an die Grenze. Es war derart einfach rüberzukommen, daß das Geld rausgeschmissen war." Den ungarischen Grenzern habe er sich als Deserteur ausgegeben. Ob er unser Handy haben könne? Er wolle seinen Kumpels erzählen, wie leicht es sei, hierher zu kommen.

Das einst gelobte Land

Bekescsaba ist für Flüchtlinge jedoch erstens eine Sackgasse und zweitens eine ohne Wendemöglichkeit. Sie werden nicht weiter nach Westen vorgelassen – Ungarn achtet auf seine Verpflichtungen bei der EU. Der Rückweg in die Heimat ist ihnen abgeschnitten, und auf ein Bleiberecht in Ungarn können sie nicht hoffen. "98 Prozent der Anträge werden zurückgewiesen", sagt Lagerleiter Szekely. "Ungarn ist nicht gut", resümiert ein Kosovo-Albaner. "Kein Geld, keine Zigaretten, das Essen ist schlecht. Dabei war Ungarn für uns im Kosovo so etwas wie Amerika."

Er ist ein abgemagerter Mann mit feinen Gesichtszügen, der auffällt in der Gruppe einfacher Männer. Er führt durch die Quarantäne-Station, in der Neuankömmlinge die ersten Wochen verbringen müssen. Ein Raum voller Stockbetten, verschimmelte Schaumstoff-Matratzen auf einem Haufen, zwischen den Bettgestellen schmutzige Laken gespannt, die ein wenig Privatsphäre schaffen sollen. "120 Leute schlafen hier, manchmal drei in einem Bett", sagt der Albaner. In der Heimat besaß er ein Bau-Unternehmen. "Wir kommen gesund hier herein und halb tot wieder heraus." Im Kosovo sei er Millionär gewesen, sagt er, "und nun sitze ich hier in der Scheiße. Ich bin gesund. Ich will hier raus. Ich will nach Deutschland. Gar nichts anderes." Das Paradies ist immer dort, wohin man es noch nicht geschafft hat.

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25. Mai 1999/uh,
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