Kosov@/Nato 28. Mai 1999

Tragödie und Torheit im Krieg um den Kosovo.

Kein Friede im Kosovo ohne Verständnis für die Staatsräson Jugoslawiens

Theodor Ebert

Überlegungen zu einer gradualistischen Strategie, den Krieg zu beenden und den Vertriebenen die Rückkehr zu ermöglichen Analysieren statt moralisieren

Dr. Wolfgang Huber, der Bischof der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, hat die militärische Intervention der NATO in Jugoslawien als "alleräußerstes Mittel" damit gerechtfertigt, daß sie zu unterlassen bedeutet hätte, "an tausenden Menschen im Kosovo" schuldig zu werden. Der Gebrauch militärischer Mittel wird als das geringere Übel bezeichnet gegenüber der passiven Hinnahme der Unterdrückungs- und Vertreibungspolitik der serbischen Regierung in Belgrad. Es wird darauf hingewiesen, daß Verfolgung, Flucht und Vertreibung der Kosovo-Albaner bereits vor den Luftangriffen der NATO begonnen hätten. Pazifisten könnten ihre Hände nicht in Unschuld waschen. Was auch immer man tue, man werde mehr oder weniger schuldig. So argumentierte auch mein früherer Mitsynodale in der EKD, Dr. Erhard Eppler, auf dem SPD-Parteitag am 12. April in seinem Schlußwort: "Tragisch ist eine Situation, wenn man schuldig wird, ganz gleich, was man tut." Zum Luftkrieg der NATO gegen Jugoslawien meinte er dann: Hierbei habe er das Gefühl habe, "daß wir ein bißchen weniger schuldig werden, als wenn wir es nicht täten." Gerührt spendete der Parteitag der ein bißchen mehr oder weniger Schuldigen ihrem christlichen Vordenker lang anhaltenden Beifall für diesen Schuldspruch, den sie dankbar aufnahmen als sakramentale Absolution für ein Vorgehen, in dem man ohne Tragödienton und ohne religiösen Schmalz mit Barbara Tuchman auch eine weitere "Torheit der Regierenden" in der langen Reihe "von Troja bis Vietnam" sehen kann.

Methodisch gesehen ist der Hauptfehler, daß über den Konflikt moralische Aussagen gemacht werden, ohne ihn zu analysieren. Einer der auffallendsten Aspekte der Verhandlungen mit der jugoslawischen Regierung war, daß der Standpunkt dieser Regierung in unseren Medien nicht in deren eigenen Worten dargestellt wurde, sondern nur der Langmut unserer Regierungen und die Sturheit der Jugoslawen betont wurde. Man stelle sich vor, es hätte in deutschen Fernsehen eine Sendung "Pro und Contra" zur Unterzeichnung des Vertrags von Rambouillet gegeben, in der auf der einen Seite ein deutscher Journalist und auf der anderen Seite ein jugoslawischer Journalist nach bewährtem Muster plädiert und Vertreter ihrer Regierungen und Friedensforscher als ihre Zeugen aufgerufen hätten.

Wenn man sich in einem Konflikt mit einer anderen Regierung befindet, dann ist die wichtigste Frage, die man zu stellen hat: Welches ist die Staatsraison der anderen Seite? Und natürlich ist auch eine wichtige Frage: Welches ist unsere Staatsraison und diejenige der anderen am Konflikt direkt oder indirekt Beteiligten. Erst wenn man diese Fragen beantwortet hat, sollte man sich überlegen, ob es sinnvoll ist, sich in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates intensiv einzumischen. Wenn man nur die Fahne der Menschenrechte schwingt, ist der politische Verstand in der Trompete. Es ist doch auffallend, daß auf Menschenrechtsverletzungen und Autonomiewünsche von den am Konsovo-Krieg beteiligten NATO-Mitgliedern an anderen Orten unserer Erde ganz anders reagiert wurde und wird. Erinnern wir uns doch: Bundeskanzler Kohl hat vor seiner Chinareise nicht etwa den Dalai Lama empfangen und dann Tibet besucht, sondern in China nicht nur Geschäfte angebahnt, sondern sogar dem chinesischen Militär seine Aufwartung gemacht. Die militärischen Aktionen der türkischen Regierung gegenüber den Kurden werden bis zum heutigen Tage nur sehr verhalten von unseren Politikern mißbilligt; im übrigen haben wir Waffen geliefert, die gegen die Kurden eingesetzt werden. Während auf jugoslawische militärische und großindustrielle Anlagen die ersten Bomben fielen, empfing der amerikanische Präsident Clinton den chinesischen Präsidenten Zhu Rongji. Ihm gegenüber zeigte man sich verständnisvoll und verzichtete auf alle Drohgebärden. Man sieht in ihm gar einen Reformer. Einige Presseorgane verstiegen sich zu der Bezeichnung 'Doppel-Gorbi'. Und doch ist dieser Mann an oberster Stelle für die chinesische Tibet-Politik, eine fürchterliche Zahl routinemäßiger Todesurteile und eine Fülle von sonstigen Menschenrechtsverletzungen verantwortlich und er verfügt nachweisbar über eine weit geringere demokratische Legitimation als der Präsident Jugoslawiens. Ich halte das beharrliche Anmahnen von Menschenrechtsverletzungen bei gleichzeitiger wirtschaftlicher Kooperation für eine vernünftige China-Politik. Doch dann muß man auch fragen, warum gegenüber Jugoslawien Boykottmaßnahmen und die Androhung einer militärischen Intervention das richtige und angemessene "alleräußerste Mittel" sein sollen.

Die Politik verfährt gegenüber der türkischen und der chinesischen Regierung bei Menschenrechtsverletzungen anders als gegenüber Jugoslawien, weil es ganz offensichtlich inopportun wäre, auf einen NATO-Partner oder eine Großmacht massiven wirtschaftlichen oder gar militärischen Druck ausüben zu wollen. Gegenüber Jugoslawien meinte man jedoch, sich eine big stick policy leisten zu können. Gegenüber Luftschlägen ist Jugoslawien so hilflos wie ein ungezogenes Kind gegenüber den Prügeln seiner Eltern, welche diese austeilen, weil sie nicht verstehen, warum ihr Kind seine jüngeren Geschwister quält. So meinte man, Jugoslawien zum Akzeptieren der von der NATO ausgedachten Lösung des Kosovo-Problems zwingen zu können. Menschenrechtspädagogik nach der Parole: Entweder du parierst oder ich schlag dich zum Krüppel!

Da die NATO kein materielles Interesse am Kosovo hat, gewissermaßen selbstlos und nur im Interesse der unterdrückten und von Vertreibung bedrohten Kosovo-Albaner zu handeln scheint, ist es der Bevölkerung in den meisten Mitgliedstaaten der NATO unverständlich, daß die jugoslawische Regierung sich diesem wohlwollenden und ausdauernd vorgetragenen Diktat demokratischer Regierungen nicht beugt, sondern die eigene Bevölkerung zur wehrlosen Hinnahme von Bombenangriffen verurteilt. Das kann eigentlich nur an der Bosheit und Machtbesessenheit des schrecklichen Diktators Slobodan Milosevic liegen. Zur Rechtfertigung der Strafaktion wird auf dessen zahlreichen Vertragsbrüche und seine direkte, persönliche Verantwortung für 'ethnische Säuberungen' und Massaker verwiesen. Er wird mit Hitler verglichen, es wird an Auschwitz erinnert und in deutschen Gazetten wird im Feuilleton über den Tyrannenmord räsoniert.

Darüber wurde und wird versäumt, nach dem serbischen Verständnis dieses Konfliktes zu fragen. Es gab in der deutschen Öffentlichkeit vor Beginn des Luftkrieges kein audiatur et altera pars. Unser Verteidigungsminister, der in der NATO nicht viel zu melden hat und dem auch nicht alles gemeldet wird, mutierte in seiner faktischen Bedeutungslosigkeit über Nacht zum Propagandaminister, der uns von angeblich sogar Gras fressenden Flüchtlingen berichtet, statt aufzuklären, was die UCK im Kosovo treibt und was aus den Männern geworden ist, die von ihren Frauen und Kindern getrennt wurden. Die Verhinderung eines neuen Auschwitz ist für mich - anders als für Außenminister Fischer - keine Alternative zum Pazifismus, sondern immer auch die Mahnung an den Umstand, daß im Zweiten Weltkrieg den Allierten die Vernichtung deutscher Städte wichtiger war als das Unterbinden der Vernichtungstransporte in die Gaskammern. Nun fängt man an, darüber zu spekulieren, was aus den kosovo-albanischen Männern, die von ihren Familien getrennt wurden, wohl geworden ist. Die amerikanische Regierung hält es für möglich, daß bis zu hunderttausend von ihnen ermordet wurden. Gibt es denn etwas Wichtigeres als dies aufzuklären?

Statt sich über Dynamik von Guerilla- und Anti-Guerillakampf zu informieren und sich mit den psychischen Folgen von Bombenangriffen für die Be- und tatsächlich Getroffenen zu befassen, erinnert man sich in deutschen Zeitungen, wenn es um die Erklärung serbischen Verhaltens geht, nur an die sentimentalische Bindung der Serben an das Amselfeld und an den Anfang des verhängnisvollen Prozesses im Kosovo, der 1989 mit der Aberkennung der weitgehenden kulturellen Autonomie des Kosovo durch die großserbischen Bestrebungen von Milosevic begann. Doch man unterläßt es, die Entwicklung innerhalb des Kosovo in den letzten zehn Jahren zu untersuchen. Hätte man dies getan, dann wäre den jetzt gegen Jugoslawien kriegführenden Staaten aufgefallen, daß sie es versäumt hatten, den Kosovo-Albanern in ihrem gewaltlosen Kampf auch nur einen winzigen Bruchteil der Unterstützung zukommen zu lassen, den sie nun in militärische Mittel investieren und die sie nun notgedrungen aufbringen müssen, um mit der Flüchtlingsbewegung der Kosovo-Albaner zurande zu kommen.

Bereits zur Zeit der Gründung des Bundes für Soziale Verteidigung im Jahre 1989 haben wir - und ich war damals zusammen mit Petra Kelly der Gründungsvorsitzende dieses Dachverbandes von gewaltfreien Organisationen der Friedensbewegung - darüber nachgedacht, wie wir die damals noch gewaltlose Autonomie-Bewegung im Kosovo unterstützen könnten. Wir fühlten uns mit den Kosovo-Albanern solidarisch und verglichen ihre Bestrebungen mit denen der Inder unter der Leitung Gandhis. Es gab Erkundungsfahrten und Gespräche mit Vertretern der gewaltlosen Strategie im Kosovo. Doch dieses Land war für die meisten von uns - auch für mich - weit weg, und wir mußten feststellen, daß wir auch mit keinen Aufenthaltsgenehmigungen für ein längerfristiges Engagement rechnen konnten. Uns fehlten die finanziellen Mittel und die Sprachkenntnisse. Doch die beiden letzteren Hindernisse hätten sich vielleicht überwinden lassen, wenn wir das Gefahrenpotential richtig eingeschätzt hätten.

Ich halte es im Rückblick für einen verhängnisvollen Irrtum, darauf vertraut zu haben, daß die Kosovo-Albaner aus Einsicht in die Folgen bewaffneter Aktionen bei ihrer gewaltlosen Strategie bleiben würden und dann im Windschatten der anderen gewalttätigen Auseiandersetzungen auf dem Balkan mit ihrer gewaltlosen Strategie früher oder später zu ihrem Ziel einer weitgehenden kulturellen und politischen Autonomie kommen würden. Wir Pazifisten unterschätzten die Ansteckungsgefahr, die von den bewaffneten Kämpfen im übrigen Jugoslawien ausging und wir beachteten zu wenig die Verrohung, die mit den 'ethnischen Säuberungen' und Massakern in anderen Teilen des ehemaligen Jugoslawien einhergegangen war und sich auch im Kosovo auswirken konnte. Wir ahnten vielleicht, aber bedachten nicht ausdrücklich, wie grauenhaft die Gewalttätigkeit sofort auch im Kosovo durchschlagen würde, falls es dort zu bewaffnetem Widerstand gegen die serbischen kulturellen Hegemoniebestrebungen kommen sollte.

Es war nicht nur so, daß die westlichen Demokratien die gewaltlosen Kampagnen im Kosovo nicht unterstützt haben; auch die gewaltfreien Bewegungen und Organisationen in Europa haben fast nichts unternommen, um den gewaltfreien Kampf im Kosovo zu fördern. Es gibt wenige rühmliche Ausnahmen. Ich denke an das Balkan Peace Team und an die War Resisters International. Doch es gibt daneben noch viel mehr Versager. Ich habe es zum Beispiel als Schriftleiter der Zeitschrift "Gewaltfreie Aktion" versäumt, in zehn Jahren auch nur einen einzigen Bericht über den gewaltlosen Kampf im Kosovo anzuregen und zu veröffentlichen. Erst als die UCK sich bereits durchgesetzt hatte, hat Christian Büttner, mein Nachfolger in der Schriftleitung, eine ausführliche Darstellung dieses Kampfes aus der Feder des amerikanischen Friedensforschers Howard Clark in der Übersetzung von Christine Schweitzer veröffentlicht. Meine Aufmerksamkeit und diejenige anderer Mitglieder in der Friedensbewegung konzentrierte sich auf den Aufbau eines Zivilen Friedensdienstes als Alternative zum Militär und im Blick auf den Balkan fast ausschließlich auf die Vorgänge in Kroatien und Bosnien und letzten Endes dann auf die Entsendung von ersten Mitgliedern eines Zivilen Friedensdienstes in diese Länder. Ich empfand es als eine rührende Geste und auch als Verpflichtung, daß beim ersten interkonfessionellen Berliner Friedensgebet am 18. April 1999 dennoch die Kollekte für den Bund für Soziale Verteidigung bestimmt wurde. Ut desint vires, tamen est laudanda voluntas. Ich bin gar nicht sicher, daß wir dies 'verdient' haben. Es ist so schwierig, die geringen Kräfte, die Friedensorganisationen zur Verfügung stehen, optimal zu plazieren.

Wenn wir geahnt hätten, daß der gewaltfreie Aufstand im Kosovo in einen Guerillakrieg umschlagen könnte, hätten wir wahrscheinlich anders disponiert. Wahrscheinlich hätten wir aber von außen mit einigen wenigen Kontaktpersonen und Informanten den verhängnisvollen Prozeß auch nicht aufzuhalten vermocht, aber wir hätten zumindest mehr unternommen. Gandhi hat immer betont, daß für den Erfolg gewaltfreier Kampagnen die einheimischen Kräfte verantwortlich sind und internationale Aufmerksamkeit nur ein unterstützender Faktor sein kann.

Der gewaltfreie Kampf Indiens wurde 1930 an den Salzpfannen und in den Gefängnissen ausgefochten und nicht in den Zeitungen Europas und Amerikas, so wichtig der Bericht eines Webb Miller über den Angriff auf die Dharasana-Salzpfannen auch gewesen ist. Leider war der gewaltfreie Kampf im Kosovo nicht so druckvoll wie der indische und Rugova nicht derselbe "Dämon an Tatkraft" (J. Nehru) wie das politische Genie Gandhi, der merkwürdigerweise immer wieder die Initiative an sich gerissen, die politische Phantasie der Inder in seinen Bann gezogen und sich offensiv und ohne jedes Zugeständnis mit den Vertretern des bewaffneten Kampfes, die auch in Indien sehr populär waren, auseinandergesetzt hat.

Aus der Distanz ist es sehr schwer zu beurteilen, welche Faktoren insgesamt zusammenwirkten, um der gewaltfreien Strategie im Kosovo ihren bestimmenden Einfluß zu nehmen. Zwei Ereignisse, welche die gewaltfreien Akteure nicht zu verantworten hatten, spielten den Befürwortern des bewaffneten Unabhängigkeitskampfes in die Hände. Erstens suggerierte das Dayton-Abkommen und das vorangehende militärische Engagement seiner Betreiber, daß mit militärischen Mitteln innerhalb kurzer Zeit von außen interne Konflikte geschlichtet, jedenfalls die weitere Verfolgung und Vertreibung von Ethnien verhindert werden könnten. Zweitens hatte der unvorhersehbare, zeitweise Verlust des staatlichen Gewaltmonopols im Nachbarstaat Albanien zur Folge, daß die Kosovo-Albaner sich kostenlos bewaffnen und die UCK aufbauen konnten. Im übrigen hatte die UCK Grund zur Annahme, daß sie die NATO für sich instrumentalisieren könne, wenn sie durch ihren Kampf die serbische Regierung durch ihren Kampf zu den Maßnahmen provozieren könne, die ihrem Image in Europa entsprachen.

Vom gewaltfreien Aufstand zum Sezessionskrieg

Das Auftreten der UCK als bewaffnete Befreiungsarmee mit den Anspruch auf einen selbständigen Staat Kosovo bzw. auf ein größeres Albanien hat die Lage für die jugoslawische Regierung im Kosovo grundlegend verändert. Zwar waren die Ziele der gewaltlosen Autonomiebewegung auch nicht ganz klar und waren in den Köpfen einiger über den Status quo ante 1989 hinausgegangen, aber solange im Kosovo mit gewaltlosen Mitteln gekämpft wurde, war es wahrscheinlich, daß es deutlich unterhalb der Sezession des Kosovo als selbständigem Staat zu einem Arrangement zwischen den Serben und den Kosovo-Albanern kommen könnte.

Obwohl die UCK am Anfang nur über eine geringe militärische Schlagkraft verfügte, veränderte ihr bloßes Auftreten die Lage für die jugoslawische Regierung doch grundlegend. Eine Regierung muß das Gewaltmonopol innerhalb der Grenzen ihres Staates unbedingt ausüben. Sie darf es nicht zulassen, daß eine bewaffnete Organisation wie die UCK in Teilen des Landes die Kontrolle ausübt und zum Beispiel auch Steuern eintreibt und ihr mißliebige Personen bestraft, Geiseln nimmt und politische Gegner tötet. Die jugoslawische Regierung sprach im Blick auf die UCK von Terroristen, ähnlich wie die deutsche Regierung dies im Blick auf die RAF getan hat.

Durch das Auftreten der UCK und ihren Anspruch auf eine nationale Unabhängigkeit des Kosovo bzw. auf ein größeres Albanien wurde aus einem gewaltfreien Aufstand, für den auch die Person Rugovas stand und vielleicht auch noch steht, ein Sezessionskrieg. Die Qualität dieser Veränderung in der Konfliktlage kann man sich als Nachkriegsdeutscher vielleicht am besten klar machen, wenn man sich an das Auftauchen der Roten Armee Fraktion zu APO-Zeiten erinnert. Selbstverständlich mußte die Bundesregierung auf die RAF anders reagieren als auf eine unbewaffnete APO-Demonstration, auf der einige Hitzköpfe mit dem Begriff der Revolution bramarbasierten und rote Fahnen schwenkten. Heinrich Böll empfand einstens die deutsche Reaktion auf die wenigen bewaffneten Mitglieder der RAF einigermaßen hysterisch und er versuchte mit einem Artikel im "Spiegel" frühzeitig zu deeskalieren. Ohne jeden Erfolg. Wehe dem, der in den Ruf geriet, ein Sympathisant von Terroristen zu sein!

In Bürgerkriegen werden Menschen zu Hyänen

Wenn schon die deutsche Bundesregierung sehr heftig, doch einigermaßen rechtsstaatlich auf die RAF reagierte und anläßlich der Schleyer-Entführung meinte, auch um den Preis der wahrscheinlichen Ermordung Schleyers und trotz des Abscheus der Deutschen vor den Methoden der RAF nicht nachgeben zu dürfen, wie sollte da eine in ethnischen Säuberungen blutrünstig ertüchtigte Regierung Milosevic auf die UCK und ihre zahlreichen Sympathisanten und aktiven Unterstützer nachgiebig reagieren? Die jugoslawische Regierung - und ich meine, daß man an diesem Punkt auch von der Person Milosevic absehen kann - mußte annehmen, daß die UCK sich in der albanischen Bevölkerung des Kosovo bewegen könne "wie Fische im Wasser", um Maos Bild der Guerilla-Strategie zu gebrauchen.

Diese Einsicht in die serbische Interpretation der Konfliktlage habe ich bei den meisten deutschen Kommentaren zum Krieg im Kosovo vermißt. Zwar fordert der deutsche Außenminister Joschka Fischer in seinem Friedensplan neben dem vollständigen Abzug der regulären Truppen, der serbischen Polizei und den irregulären und besonders brutalen serbischen Milizen auch die Entwaffnung der UCK, aber diese Forderung ist weniger kontrollierbar als der Abzug einer regulären Armee und Polizei. Die jugoslawische Regierung hatte zur Zeit der Überwachung des Kosovo durch die OSZE-Beobachter, die ihre geringe Sollstärke von 2000 Personen nie erreichte, um die Jahreswende 1998/99 die Erfahrung gemacht, daß die UCK ihre Kontrolle auf große Teile des Landes ausdehnte und dort auch militärisch bzw. terroristisch agierte. Man muß davon ausgehen, daß die jugoslawische Regierung aus dieser Erfahrung die Schlußfolgerung gezogen hat, nur noch durch militärische Dauerpräsenz die Sezession des Kosovo vermeiden zu können.

Aus der Sicht der jugoslawischen Regierung war es eine notwendige Maßnahme der Konterguerilla-Strategie, daß sie zu Beginn des Jahres 1999 wieder mit starken Militär- und Polizeikräften in den Konsovo einrückte und die von der UCK zeitweise kontrollierten Gebiete zurückeroberte. Sie hat dabei Dörfer beschossen und zerstört, die sie in der Hand der UCK glaubte. Das ist dasselbe Verfahren, das in Vietnam auch angewandt wurde und zum Beispiel zu dem Massaker von Mylai führte. Da es sich bei der Guerilla um eine irreguläre Kriegführung handelt, bei der zwischen Kombattanten und Zivilbevölkerung nicht klar unterschieden werden kann, besteht immer die Tendenz, alle diejenigen, die sich im Einflußbereich der Guerilla befunden haben, des Parteigängertums und potentiell der aktiven Unterstützung der Guerilla zu verdächtigen. Der Antiguerillakampf ist ein grausames Verfahren. Wer einen Guerillakrieg beginnt, muß nach den vorliegenden Erfahrungen damit rechnen, daß etwa zehn bis zwanzig Prozent der Bevölkerung im Laufe der Kriegshandlungen getötet werden.

Bei meinen Studien über die Strategie des gewaltfreien Aufstandes habe ich mich mit den einschlägigen Lehrbüchern des Guerillakrieges und der Konterguerilla befaßt und Erfahrungsberichte gelesen. Bei diesen Kämpfen sind Kriegsverbrechen an der Tagesordnung - und zwar auf allen Seiten. Allen denjenigen, die sich hier noch Illusionen machen, sei die Lektüre der Interviews des Amerikaners David Mark Mantell mit Green Berets, die in Vietnam gedient haben, empfohlen. Sie finden sich in seiner im Rahmen der Max Planck Gesellschaft angefertigten psychologischen Studie "Familie und Agression", in der er den Lebensweg und die Erfahrungen von amerikanischen Kriegsdienstverweigerern und Kriegsfreiwilligen intensiv miteinander vergleicht. Was dort - aus wissenschaftlichen Gründen - anonym berichtet wird, ist glaubwürdig und hätte mit Namen und Adresse versehen allemal für die Anklage vor einem Kriegsverbrechertribunal ausgereicht. Die Aussagen der amerikanischen Soldaten sind sogar besonders glaubwürdig, weil sie im Rahmen der wissenschaftlichen Untersuchung nichts zu befürchten hatten und die Befragungen mit Billigung ihrer Vorgesetzten erfolgten, die im übrigen keineswegs entsetzt auf diese Aussagen reagierten, sondern sogar noch stolz waren auf ihre Soldaten.

Von der Aufklärung über Kriegsverbrechen

Ich habe darum auch kaum Zweifel daran, daß die jugoslawische Regierung mit brutaler Konsequenz die Sezession durch die Vertreibung derjenigen zu bekämpfen sucht, in denen sie Sympathisanten der UCK vermutet. Ich fürchte, daß auch eine größere Zahl von Personen erschossen wurde, die verdächtigt wurden, zur UCK zu gehören oder ihr zuzuarbeiten. Meines Erachtens sollten alle diejenigen, die mit der jugoslawischen Regierung noch sprechen können, alle diplomatischen Register ziehen, um diese davon zu überzeugen, daß solche willkürlichen Erschießungen von Partisanen nicht verborgen bleiben und das Ansehen Jugoslawiens in der Völkergemeinschaft enorm beschädigen. Wenn solche Verbrechen bekannt werden - und sie zweifelsfrei nachzuweisen, ist in der psychologischen Strategie eine vorrangige Aufgabe -, müßte es das oberste Ziel der Auseinandersetzung mit dem Regime in Belgrad sein, die serbische Bevölkerung über diese Taten zu informieren.

Diese Aufklärung der Serben über Tatsachen - und darunter ist etwas ganz anderes zu verstehen als die täglichen Propagandasprüche unseres angeblichen 'Verteidigungsministers' Rudolf Scharping - wäre wahrscheinlich dann am wirksamsten, wenn anstelle von Bomben nun wirkliche Informationen nach Jugoslawien gelangten. Glaubwürdig wären in den Augen der serbischen Bevölkerung dann vor allem diejenigen, welche die Bombenangriffe der NATO von vornherein abgelehnt haben. Die kritischen Informationen sollten von Menschen verantwortet würden, welche sich zuvor gegenüber der NATO-Propaganda als resistent erwiesen und sich mit der serbischen und der kosovo-albanischen Zivilbevölkerung solidarisiert haben. Wenn es um die Aufklärung der Serben über Kriegsverbrechen ihrer eigenen Regierung geht, ist die Unterschrift eines orthodoxen Bischofs glaubwürdiger als die eines evangelischen, bzw. wäre die eines Peter Handke frappierender als die eines André Glucksmann. Die Serben werden eher geneigt sein, denjenigen zu glauben, die den Bombenkrieg kategorisch abgelehnt haben, als denjenigen, die ihn zwar als Tragödie bezeichnet, aber dann eben doch gebilligt haben.

Wieweit die jugoslawische Regierung in ihrer Abwehr der Sezession des Kosovo und der Anti-Guerilla zu gehen bereit ist, läßt sich im Moment noch nicht genau sagen. Die extremste Form der Anti-Guerilla wäre es, alle Albaner aus dem Kosovo zu vertreiben und die potentiellen UCK-Kämpfer zu ermorden. Es könnte sein, daß bei einer Fortsetzung der Luftschläge über weitere Wochen diese Strategie sich durchsetzt bzw. ungebremst ihren verhängnisvollen Lauf nimmt. Wenn die Luftschläge eingestellt werden und zu einer psychologischen Auseinandersetzung mit der jugoslawischen Regierung übergegangen wird, scheint mir diese äußerste Konsequenz noch vermeidbar zu sein. Wenn die UCK so vernünftig wäre, was ich jedoch für unwahrscheinlich halte, ihre militärischen Aktivitäten sofort und demonstrativ einzustellen, würde wahrscheinlich auch ein Teil der Binnenflüchtlinge wieder in ihre Wohnorte zurückkehren. Es ist vorstellbar, daß die Repression und auch teilweise Vertreibung der Kosovo-Albaner sich auch bei einer Einstellung der Luftschläge und UCK-Aktivitäten noch einige Wochen fortsetzen würden, aber es ist doch wahrscheinlich, daß der Terror der Regierungstruppen und der irregulären Milizen nach einem Ende der Bombenangriffe auf einem niedrigeren Niveau erfolgen würde als zur Zeit. Solange die Bombenangriffe anhalten, scheint sich die Zügellosigkeit gegenüber den Kosovo-Albanern bei allen beteiligten bewaffneten Serben nur noch zu steigern.

Daß die Vertreibung der Kosovo-Albaner und die Zerstörung ihrer Wohnsitze und das Ausplündern der Flüchtlinge das gegenwärtige Ausmaß angenommen hat, ist mit einer Anti-Guerilla-Strategie allein nicht zu erklären. Hier gibt es einen Überschuß an Grausamkeit, der Züge ethnischer Verfolgung aufweist. Das ist die spezifische Schuld der Regierung Milosevic: Sie ist für dieses Ubermaß an Grausamkeit im Antiguerillakampf verantwortlich. Statt den Terror im Antiguerillakampf zu unterbinden und auf Disziplin zu achten, hat sie den übelsten Typen freie Hand gelassen. Dennoch scheint mir der völkerrechtlich definierte Begriff des "Völkermords", der eine entsprechende Absicht der Regierenden, wie zum Beispiel die Wannseekonferenz im Blick auf die Völkermord an den Juden zeigt, auf die Situation im Kosovo nicht zu passen.

Es ist anzunehmen, daß die Vertreibungen schon vor dem Beginn des Luftkrieges der NATO erwogen wurden und im Zuge des Antiguerillakampfes auch vor den Luftschlägen der NATO bereits angelaufen waren. Doch die Vertreibungs- und irregulären lokalen Vernichtungsaktionen waren leichter durchzusetzen, sobald und solange die Aufmerksamkeit der serbischen Bevölkerung sich auf die persönliche Bedrohung durch die Bomben der NATO konzentrierte.

Ich frage mich, was in Deutschland 1943 geschehen wäre, wenn die Allierten ihre Bombardements deutscher Städte demonstrativ wochenlang ausgesetzt und nur noch Flugblätter über den Völkermord an den Juden und Zigeunern über Deutschland abgeworfen hätten. Ich kann mir vorstellen, daß dies wirksamer gewesen wäre als eine Atombombe. Ich erinnere mich noch lebhaft daran, was ich im Stuttgarter Westen (in der Nachbarschaft der Firma Bosch) im Luftschutzkeller empfunden habe und wie entsetzt ich war, als ich - dem Bombenhagel durch die Evakuierung auf die Schwäbische Alb entkommen - unmittelbar nach dem Kriege in den Schaufenstern eines Münsinger Kaufhauses die Photos von Leichenbergen in Konzentrationslagern der Nazis sah. Solange auf serbische Städte Bomben fallen, denken die bedrohten Menschen nur an sich und nicht an die Flüchtlinge in Mazedonien und Albanien.

Von der Notwendigkeit des Strategiewechsels

Der Verzicht auf kriegerische Mittel aus humanitären Gründen ist keine Blamage, sondern bedeutet einen Wechsel der Strategie. Meines Erachtens war es von vornherein ein schwerer politischer Fehler, daß die NATO in diesem Sezessionskonflikt mit ihrem militärischen Eingreifen drohte und sich damit faktisch auf die Seite der UCK stellte, ohne im übrigen deren Sezessionsziel zu billigen. Die serbische Regierung mußte jedoch annehmen, daß eine NATO-Präsenz im Kosovo nach einiger Zeit faktisch die Sezession des Kosovo zur Folge hätte. Das Zusatzabkommen zum Vertrag von Rambouillet zeigt - zumindest in seiner Tendenz - deutlich, welchen Souveränitätsverlust die NATO-Präsenz für Jugoslawien bedeutet hätte. Meines Erachtens war es von vornherein nicht zu erwarten, daß eine jugoslawische Regierung ein solches Abkommen, das doch einem Diktat gleichkam, kampflos akzeptiert. Mag sein, daß einige europäische NATO-Mitglieder dies geahnt haben, aber bis auf Griechenland hat keines gewagt, der amerikanischen Weltmacht zu widersprechen. England und Frankreich haben ihre kolonialistischen Manieren immer noch nicht abgelegt und ihnen stehen in ihren Berufsarmeen willfährige Instrumente zur Verfügung. Und wo sich dann moralisches Überlegenheitsgefühl mit der Arroganz der Macht paart, ist das Ergebnis politische Torheit.

Kennzeichnend für die Friedens- bzw. Siegespläne der NATO - auch in der Variante des deutschen Außenministers Joschka Fischer, der wenigstens Rußland und die UN einbeziehen will - ist nach wie vor der vollständige Abzug der jugoslawischen Streitkräfte (Armee, Polizei und Milizen) aus dem Kosovo. Diesen vollständigen Abzug hat die jugoslawische Regierung bisher immer abgelehnt, was auch nicht verwundern dürfte, denn aus jugoslawischer Sicht ist dies gleichzusetzen mit dem Verlust des Kosovo als jugoslawischem Staatsgebiet. Diese extreme Forderung der NATO wird allenfalls auf dem Wege der weitgehenden Zerstörung Jugoslawiens aus der Luft und bei entsprechend hohen Opfern unter der Zivilbevölkerung durchgesetzt werden können. Bleibt die NATO bei dieser Strategie, die jugoslawische Regierung in die Kapitulation zu bomben - und dies könnte noch Monate dauern -, dann werden aus den angeblich chirurgischen Schlägen gegen militärische Ziele mit der Zeit ausgewachsene Kriegsverbrechen. Der Zeitpunkt wird kommen, an dem die Zahl der von der NATO getöten Zivilisten und Soldaten größer sein wird als die Zahl der von den serbischen Streitkräften getöteten Kosovo-Albaner.

Eine Strategie der gradualistischen Konfliktbearbeitung

Das Humanste und Klügste wäre es, die Luftangriffe sofort einzustellen und in wechselseitigen, doch zunächst einseitigen Schritten und vertrauensbildenden Maßnahmen - wie dies nun mal zur Strategie der gradualistischen Konfliktbearbeitung gehört - einen Kompromiß anzustreben. Ein solcher Kompromiß muß einerseits die territoriale Integrität und Souveränität Jugoslawiens wahren und andererseits den vertriebenen und geflüchteten Kosovo-Albanern die sichere Rückkehr in ihre Heimat gestatten. Um letzteres zu gewährleisten, wird Jugoslawien eine ausländische Überwachung dieser sicheren Rückkehr zulassen und eine Einschränkung des Einsatzes seiner Militär- und Polizeikräfte zulassen müssen.

Einseitige Schritte der jugoslawischen Regierung könnten sein: Unterstützung von Untersuchungsmissionen der UN und von Aktivitäten des Internationalen Roten Kreuzes im Kosovo, insbesondere Hilfeleistungen für die Binnenflüchtlinge. Entwaffnung und Auflösung der serbischen Milizen. Einstellen des Vertreibens und Ausplünderns von Kosovo-Albanern und der Zerstörung ihrer Häuser. Behandlung der UCK als Kombattanten nach dem Kriegsrecht.

Die NATO könnte ihrerseits zur Förderung von UN-Missionen und Aktivitäten des Internationalen Roten Kreuzes für bestimmte Zeiträume und Gebiete ihre Bombenangriffe einstellen. Die NATO könnte der UCK demonstrativ die Unterstützung entziehen und ihr einen Teil der Verantwortung für die Eskalatiom im Bürgerkrieg anlasten. Sie könnte die Regierung Albaniens motivieren, gegenüber der UCK ihrem staatlichen Gewaltmonopol bestehen. Wenn die UCK auf albanischem Territorium ihre Freischärler ausbildet und von albanischem Territorium aus Krieg gegen Jugoslawien führt, könnte die Regierung Albaniens schon bald vor ähnlichen Problemen stehen wie das Königreich Jordanien, das den Palästinensern die Kriegführung von seinem Territoriums aus so lange gestattet hatte, bis sich die Gefahr eines Staates im Staate abzeichnete und diese Gefahr dann unter dem Stichwort 'Schwarzer September' mit staatsterroristischen Mitteln beseitigt wurde. Vergleichbarem läßt sich jetzt in Albanien noch vorbeugen. Die UCK wird ihren militärischen Kampf aufgeben, wenn sie einsehen muß, daß ihre Vision, "als Bodentruppen der NATO" zu fungieren, nicht in Erfüllung gehen wird. Die Regierung Albaniens muß deutlich machen, daß sie sich gegen eine funktionslose UCK im Umfeld der albanischen Mafia zu wehren weiß.

Nach solchen einseitigen, doch wechselseitig aufeinander bezogenen und diplomatisch erläuterten Vorleistungen, dürfte es möglich sein, unter dem Dach der UN eine umfangreiche Gruppierung zusammenzustellen, welche in einer Kombination von zivilen OSZE-Maßnahmen und robusten Polizeimaßnahmen dafür sorgen könnte, daß die Absicht der Regierungen, den Konflikt beizulegen, auch dann aufrecht erhalten werden kann, wenn es zu bewaffneten Zwischenfällen kommen sollte. Das Milosevic-Holbrooke Abkommen von Ende 1998 ist auch daran gescheitert, daß 2.000 OSZE-Beobachter gar nicht in der Lage waren, der UCK und den Konterguerilla-Maßnahmen der jugoslawischen Regierung mit nachhaltigem Erfolg zu begegnen. Mir scheint die schiere Zahl und die zivile und polizeiliche Kompetenz der Träger der UN-Friedensmission weitaus wichtiger zu sein als ihre schwere Bewaffnung. Ein großer militärischer Aufmarsch - unter welcher Führung auch immer - ließe die jugoslawische Regierung nur wieder um ihre Souveränität fürchten. Es ist besonders wichtig, daß die friedenswilligen zivilen Kräfte unter den Kosovo-Albanern durch einen zahlreichen zivilen Friedensdienst psychisch und praktisch gestärkt werden. Gandhi wollte den gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Moslems durch ein Friedensnetzwerk gewaltfreier Einsatzgruppen begegnen. Von diesen Erfahrungen kann man heute noch lernen.

Nach dem wochenlangen Bombardement Jugoslawiens scheint sich die jugoslawische Regierung darum zu bemühen, einseitige Signale, die zu einer gradualistischen Strategie der Konfliktbearbeitung passen, auszusenden. Diesen Signalen wird von Seiten der NATO mit äußerstem Mißtrauen begegnet. Das ist im Rahmen der Strategie des Gradualismus ein bekanntes Phänomen. Die einseitigen Schritte müssen darum fortgesetzt werden und sie müssen meßbarer, substantieller Natur sein.

Die Schwierigkeit der NATO, nun ihrerseits eine gradualistische Strategie zu verfolgen, liegt darin, daß sie sich auf Sieg festgelegt hat und sie auf nichts weniger als die Kapitulation von Milosevic wartet, geht es ihr doch darum, vor der Weltöffentlichkeit zu beweisen, daß sie in Zukunft durch militärische Drohungen ihre Ordnungsvorstellungen durchzusetzen vermag.

Es ist kennzeichnend für das Auftreten von Politikern der NATO, daß sie immer wieder auf der moralischen Verurteilung von Slobodan Milosevic bestehen und ihn im Geiste vor ein Kriegsverbrechertribunal zerren. Darüber wird verkannt, daß Milosevic, so repressiv er gegenüber der serbischen Opposition auch agieren mag, doch in weitgehendem Maße nationale serbische Interessen vertritt, und dies auch von vielen Serben so gesehen wird. Die in deutschen Medien geführte Diskussion über den Tyrannenmord ist abwegig. Würde Milosevic ermordet, würde er sofort durch einen anderen serbischen Politiker ersetzt und seine Ermordung würde wahrscheinlich zu weiteren Gewalttätgkeiten gegenüber derjenigen Gruppe führen, welcher der Mord zugerechnet wird.

Man kann zwar die Auffassung vertreten, daß Milosevic als Staatsmann für eine Reihe von Verbrechen persönlich verantwortlich ist. Doch es ist töricht, ihm ständig mit einem Kriegsverbrecherprozeß zu drohen. Auch Verbrecher können, wenn sie mit dem Rücken zur Wand kämpfen, lange durchhalten und bevor man sie niedergekämpft hat, können Millionnen umkommen.

Um den Zweiten Weltkrieg auch nur wenige Monate früher zu beeenden und um eine Million Menschenleben und ganze Städte zu bewahren, hätte ich auch einen Hitler und einen Himmler bis an ihr trauriges Ende 'in Paraguay Rinder züchten' lassen. Und wenn ein Pinochet gewußt hätte, daß man ihn vor ein Gericht stellen und für seine Verbrechen verantwortlich machen könnte, hätte er wahrscheinlich bis zum heutigen Tage an der Spitze seiner Militärdiktatur in Chile ausgehalten.

Oskar Lafontaine hat auf seiner Rede am 1. Mai in Saarbrücken darauf hingewiesen, daß der Luftkrieg gegen Jugoslawien die Politik in eine Sackgasse geführt hat. Das ist wahr, aber das heißt noch nicht, daß wir bereits an das Ende dieser Sackgasse gelangt sind. Die NATO kann den Bombenkrieg fortsetzen und dann am Ende der Sackgasse den Durchbruch versuchen durch den Übergang zum Bodenkrieg. Die USA könnten die UCK bewaffnen und aus der Luft - z.b. mit Apache-Hubschraubern - unterstützen. Dies wäre ein noch größerer Fehler als der Versuch, Vertreibungen durch Luftschläge zu verhindern, aber mit diesem Fehler ist zu rechnen.

Der Versuch, den Kosovo auf dem Boden zurückzuerobern, würde den Krieg gefährlich ausweiten und wahrscheinlich lange verlustreiche Kämpfe - und weiteren Leiden für die immer noch vorhandene Zivilbevölkerung - und weitere Zerstörungen im Kosovo mit sich bringen. Auch die Konsequenzen für das Verhältnis zu Rußland wären unabsehbar. Doch wenn man sich daran erinnert, wie die USA von Präsident Johnson Zug um Zug in den Vietnamkrieg hineingezogen wurden, ohne daß dieser Krieg regelrecht vom Kongreß beschlossen worden wäre, kann sich darauf gefaßt machen, daß sich die NATO im Bodenkrieg gegen Jugoslawien befinden wird, ohne daß dies von den Volksvertretungen der NATO-Mitgliedsstaaten wirklich gebilligt worden wäre.

Wie man die Sache auch dreht und wendet: Sich in diesen Sezessionskrieg einzumischen bzw. dies der UCK in Aussicht zu stellen, war und bleibt eine Torheit, wenn auch eine gut gemeinte. Noch länger auf den vollständigen Rückzug der Serben aus dem Kosovo zu warten und bis dahin weiterzubomben, wäre eine Illusion. Wenn man jedoch eine törichte Politik aus Angst vor der Blamage fortsetzt, dann wird aus einer politischen Dummheit schließlich ein gewaltiges Verbrechen an der serbischen Zivilbevölkerung, die im psychischen wie physischen Sinne eine Gefangene des gegenwärtigen militärischen Prozesses ist.

Wenn die NATO eine vernünftige Politik machen will, dann muß sie sich jetzt darauf konzentrieren, die Beendigung des Luftkrieges humanitär zu begründen. Das dürfte so schwer nicht sein. Gandhi ist 1920 aus dem Eingeständnis eines himalayagroßen Irrtums politisch gestärkt hervorgegangen. Aus Gründen der Humanität nachzugeben, ist keine Schande. Es mag sein, daß Milosevic dann vorübergehend triumphiert und auf seine Weise die Kontrolle des Kosovo zu stabilisieren trachtet. Doch sobald der militärische und wirtschaftliche Druck von Jugoslawien gewichen sein wird, wird auch das demokratische Potential in Jugoslawien wieder erwachen. Die Aufklärung wird an Kraft gewinnen und schließlich zum Zuge kommen. Meine Prognose lautet dann: Noch bevor die letzte Fabrik und die letzte Brücke, die jetzt zerstört wurden, mit unserer Hilfe wieder aufgebaut sein werden - und das könnte innerhalb von drei bis fünf Jahren gelingen -, dürfte Milosevic aufgrund innerserbischen Drucks aus der Regierung Jugoslawiens verschwunden sein und der Kosovo seine kulturelle Autonomie innerhalb Jugoslawiens erlangt haben. Wir sollten den Luftkrieg sofort beenden und den gewaltfreien Selbstheilungskräften der Serben und der Kosovo-Albaner wieder eine Chance geben.

© gewaltfreie aktion 120/121, Vierteljahreschrift für Frieden und Gerechtigkeit, 1 + 2 Quartal 1999, 30 Jahrgang. ISBN : 00156-9390

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1. Juni 1999/uh,
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