#24 – Russlands Grossmachtsfantasien

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Jo Lang befasst sich in seinem Artikel mit den historischen Urspüngen des Ukrainekriegs und wie diese Putins Denken prägt. Viel Spass beim Lesen!

 

Russlands Grossmachtsfantasien

Der Hauptgrund für den Angriffskrieg gegen die Ukraine liegt im grossrussischen Chauvinismus.

Drei Tage vor der Invasion hielt Wladimir Putin eine Rede, in der er enthüllte, warum er die Ukraine als Nation grundsätzlich in Frage stellt. Er beansprucht sie für Russland als „integralen Bestandteil unserer eigenen Geschichte, Kultur und unseres spirituellen Raumes“. Mit letzterem meint er die Orthodoxie, und zwar die russische. Er streitet das Recht des ukrainischen Volkes auf einen eigenen Staat ab. Diesen nennt er eine von den Kommunisten geschaffene „Wladimir-Lenin-Ukraine“. Das Sezessionsrecht, das mit der Gründung der UdSSR der Ukraine gewährt wurde, nannte er „schlimmer als einen Fehler“, also ein Verbrechen. In seiner antikommunistischen Logik rief er zur „echten Entkommunisierung“ der Ukraine auf. Damit meinte er deren Einverleibung in den russischen Staat mit seinem Oligarchen-Kapitalismus. Die „Entnazifizierung“ spielte in dieser Rede eine Nebenrolle.
Imperialer Phantomschmerz

Auffällig ist Putins Bezeichnung der ukrainischen Sprache als blossen „Dialekt“. Dies verweist auf eine erhellende Analogie: Der spanische Frankismus sieht Katalonien und das Katalanische genau gleich wie der grossrussische Chauvinismus die Ukraine und das Ukrainische. Auffällig bei beiden ist, dass sie ihre Gegenseiten, die gegen Moskau oder Madrid viel härter aufgetreten sind (Tschetschenien und Baskenland), weniger hassen als die sprachlich und kulturell näheren Nationen. Der Hauptgrund liegt darin, dass der Verlust der Ukraine oder Kataloniens die Negation aller imperialen Illusionen bedeutet. Der grossrussische wie der grossspanische Chauvinismus haben den Untergang der Imperien, mit denen sie sich heute noch identifizieren, nie verwunden. Phantomschmerz ist etwas Chronisches.

Dass die Ukraine eine eigenständige Nation ist, hat sie im Widerstand gegen die russische Invasion überzeugend bewiesen. Die ukrainische Nationalbewegung entstand wie vielerorts in Europa in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Typisch für Osteuropa spielten Dichter eine Schlüsselrolle. In der Ukraine hiess er Taras Schewtschenko, der noch als Leibeigener aufgewachsen war. Auch wegen der literarischen Prägung der Emanzipationsbewegung, erliess Zar Alexander II. 1876 ein Verbot des Ukrainischen als Schriftsprache. Parallel zum russischen Teil der Ukraine entwickelte sich Ende des 19. Jahrhunderts eine ukrainische Nationalbewegung im österreichischen Galizien.

Der stalinistische Holodomor

Nach dem Ersten Weltkrieg, der Russischen Revolution und dem Bürgerkrieg war die Ukraine in vier Staaten aufgeteilt: Die Sowjetukraine, eine der Gründungsrepubliken der UdSSR, die polnische Westukraine, die Karpato-Ukraine in der Tschechoslowakei und die Nord-Bukowina in Rumänien. Für Lenin war die Ukraine tatsächlich ein Bollwerk gegen den ihm verhassten „grossrussischen Chauvinismus“. Die Schwäche seines Föderalismus lag nicht im territorialen Konzept, sondern im Einparteiensystem. Dieses hebt letztlich auch territoriale Machtteilung auf. Aber in den zwanziger Jahren übte die sprachliche und kulturelle Ukrainisierung der Sowjetrepublik eine grosse Anziehung aus – vor allem auf die bäuerlichen Mehrheiten in den drei anderen ukrainischen Gebieten.

Das änderte sich ab 1929 schlagartig mit der stalinistischen Zwangskollektivierung, die in der Ukraine zusätzlich das altzaristische Ziel der Auslöschung aller ukrainischen Eigenheiten verfolgte. Die Kombination von wirtschaftlich bedingter Hungersnot und politisch motivierter Aushungerung kostete mindestens 4 Millionen Menschen das Leben. Der Holodomor (auf Ukrainisch: „Tötung durch Hunger“) ist die dramatischste Bezeugung der abgrundtiefen Feindlichkeit des grossrussischen Chauvinismus gegenüber der Ukraine.
Putins Aufrüstung und „Krieg dem Terror“

Einen Krieg führt man nicht mit Hass allein. Es braucht dazu eine Armee. Die materielle Hauptbasis von Putins Krieg ist der Verkauf von Rohstoffen. Ein Grossteil des russischen Rohstoffhandels läuft über die Schweiz, insbesondere Genf und Zug. Ohne die Erträge aus den Gas-, Öl-, Uran- und anderen Geschäften sowie aus den Oligarchen-Vermögen hätte Putin diesen Krieg kaum starten können. Oder er hätte ihn wegen Geld-, Waffen-, oder Ersatzteil-Mangels nach spätestens zwei Monaten abbrechen müssen.

Warum wird in der Schweiz mehr geschrieben und geredet über die (gesetzlich unmöglichen und politisch unsinnigen) Munitionslieferungen an die Ukraine als über die Geldlieferungen und DualUse-Exporte für Putin? Erstens wollen sich die Pfister („Zuger Erfolgsmodell“) oder Keller-Sutter (DualUse-Güter für Bomber-Triebwerke) nicht ihrer (indirekten oder direkten) Mitverantwortung für die Aufrüstung stellen. Und zweitens wollen sie den roten Teppich, den sie für Reiche und Konzerne ausgerollt haben, nicht wieder einrollen.

Wenn ich bislang die Nato nicht angesprochen habe, liegt das darin, dass Putins Krieg aus dessen grossrussischen Chauvinismus selbst zu erklären ist. Leichter gemacht hat es ihm die Nato insofern, als ihr „War on Terror“ dem russischen Kriegsherrn als Windschatten diente. Als diesem am 12. Oktober 2002, im vierten Jahr des Tschetschenienkrieges und 13 Monate nach 9/11, im Zuger Casino ein Friedenspreis verliehen wurde, gehörte der US-Botschafter zu den Gästen. Ohne den Sieg Putins Luftwaffe in Syrien, deren „Krieg gegen den Terror“ 2017 bis 2021 über 20‘000 Menschen das Leben kostete, ist die Hybris des grossrussischen Chauvinisten im Jahre 2022 kaum erklärbar. Aber für den Krieg gegen die Ukraine ist Putin allein verantwortlich.

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