ein Text von Vitaly, Anti-Kriegsaktivist aus Russland*
Am 1. August gab es einen Gefangenentausch zwischen Russland und mehreren NATO-Staaten, der grösste Gefangenentausch dieser Art seit dem Ende des Kalten Krieges. Gegen acht Spion*innen, Betrüger und einen Mörder hat Russland 16 Gefangene freigelassen, darunter die Politiker Ilja Jaschin, Wladimir Kara-Murza und Nawalnys Mitkämpferinnen Ksenia Fadejewa und Lilia Tschanyschewa. Für Putins Gegner*innen löste die Freilassung der Oppositionellen ein bittersüsses Gefühl aus, da die Zahl der politischen Gefangenen die 1200-Marke überschritten hat. Laut Marianna Katsarova, Sonderberichterstatterin für Menschenrechte in Russland bei der UNO, ist das Ausmass der Repression in Russland „beispiellos seit dem Stalinismus“. Seit dem 24.02.2022 wurden 20.000 Teilnehmende an Anti-Krieg-Protesten willkürlich festgenommen. Es herrscht militärische Zensur: unabhängige Medien und ausländische soziale Netzwerke sind blockiert, mehr als tausend Organisationen und Einzelpersonen sind als „ausländische Agent*innen“ eingestuft, und die Verbreitung von Nachrichten, die nicht mit den Berichten des Verteidigungsministeriums übereinstimmen, wird mit bis zu 15 Jahren Gefängnis bestraft. Die Lage hat sich noch weiter verschärft, nachdem Nawalny in einem Gefängnis im hohen Norden getötet wurde.
Die noch in Russland verbliebenen Oppositionsaktivist*innen, Journalist*innen und Politiker*innen sind grossen Gefahren ausgesetzt. Eine Vielzahl von Oppositionellen hat sich für die Ausreise entschieden. 900’000 Russ*innen sind hauptsächlich in visumfreien und mit Putin kooperierenden Ländern wie der Türkei, Serbien, den Vereinigten Arabischen Emirate, Thailand und den ehemaligen Sowjetrepubliken im Kaukasus und Zentralasien gelandet. Keines dieser Länder kann laut Reporter ohne Grenzen als völlig sicher für russische Kriegsgegner*innen bezeichnet werden. So sind zum Beispiel Fälle von Verhaftungen von Deserteuren in Armenien und Fälle von Verhaftungen und Entführungen von linken Kriegsgegner*innen in Kirgistan bekannt. Der gescheiterte Versuch der thailändischen Behörden, die Antikriegs-Rockmusiker Bi-2 an Russland auszuliefern, hat international für grosses Aufsehen gesorgt.
Nach Ausbruch des Krieges haben Deutschland, Litauen und Polen humanitäre Visa für russische Staatsbürger*innen eingeführt und mehrere Tausend davon ausgestellt. Die Erlangung dieser Visa kann jedoch viele Monate dauern, und es sind wesentlich mehr Menschen in Gefahr, als diese Länder bereit sind, aufzunehmen. Eine Stadtplanerin Lyubov Krutenko beispielsweise wurde von der Polizei Moskaus für Wochen verfolgt, was ihren Alltag unerträglich machte: „Mein Mann und ich wollten nicht ins Gefängnis gehen, aber auch nicht schweigen oder untertauchen, also beschlossen wir auszuwandern“.
Die Visa retten das Leben potenzieller politischer Gefangenen, und die Zeit spielt nicht immer auf ihrer Seite. So gelang es dem Anarchisten Denis Kozak aus Rostow am Don, der mit einem humanitären Visum nach Deutschland einreiste, anstatt wegen politisch motivierter Anschuldigungen an Russland ausgeliefert zu werden, aus einem kasachischen Gefängnis zu entkommen. Kozak hilft heute linken politischen Gefangenen. Aikhal Ammosov, ein jakutischer Antikriegsaktivist, wäre auch so ausgereist, leider hat er sein Visum nicht rechtzeitig erhalten. Nun sitzt er in Abschiebehaft in Kasachstan.
Deutschland hat die besten Bedingungen: Der Staat übernimmt Miete und Krankenversicherung, bietet Geldleistung, die Möglichkeit zu studieren, Deutsch zu lernen und zu arbeiten. All das erlaubt es einem, nicht ans Überleben zu denken, sondern sich zu engagieren und Pläne für die Zukunft zu schmieden, wie zum Beispiel Pjotr Zherebtsov, ein Ausstellungsorganisator aus Nowosibirsk, der anderen russischen Kriegsgegner*innen bei der Ausreise hilft. Von den Antragsteller*innen wird verlangt, das Risiko der Verfolgung nachzuweisen, aber auch stabile Verbindungen zu deutschen Organisationen zu haben: Einerseits wird dadurch die Zahl der Bewerber*innen eingeschränkt, andererseits können sich die Kommenden schneller integrieren, sei es in Wissenschaft, Gewerkschaftsarbeit, Menschenrechtsarbeit, Kunst oder Journalismus.
Die Schweiz hat derzeit keine humanitären Visa für russische Staatsbürger*innen vorgesehen, aber für türkische, kosovarische, afghanische, irakische oder syrische Staatsbürger*innen schon. Die Eröffnung eines Programms zur Unterstützung russischer Oppositioneller würde viele Aktivist*innen vor dem Haft bewahren und ihnen helfen, sich weiterhin im Ausland zu organisieren.
*Vitaly ist bereits Teil eines Artikels aus dem Jahr 2023.