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Gegen Gewalt, für den Widerstand

«Wie ein Schleier»

Die psychischen Verletzungen in der palästinensischen Bevölkerung verdüstern die Aussichten auf den Wiederaufbau und einen wirklichen politischen Frieden • Von Jochi Weil

Seit 1967 besetzen israelische Truppen die palästinensischen Siedlungsgebiete in der Westbank und im Gaza-Streifen. Daran hat sich auch mit dem Autonomie-Abkommen von Oslo nur wenig geändert. In den folgenden Ausführungen geht es um die psychischen Auswirkungen der Besatzung, die voraussichtlich bis weit in die Zukunft hineinwirken werden.

Die israelische Besatzungsmacht hat während vieler Jahre Druck auf die palästinensische Bevölkerung ausgeübt. Die Menschen lebten und leben zum Teil heute noch in ständiger Anspannung. Verbreitet ist die sogenannte «Post Traumatic Stress Disorder» (PTSD), eine psychische Folgeerscheinung dieser nicht nachlassenden Anspannungen. Die Depressionen, unter denen viele erwachsene PalästinenserInnen leiden, liegen wie ein Schleier über der Bevölkerung.

Ohnmacht erzeugt Wut erzeugt Ohnmacht

Palästinensische Kinder und Jugendliche haben in der Vergangenheit nicht selten erlebt, wie ihre Eltern, Verwandten und Bekannten von israelischen Soldaten vor ihren Augen gedemütigt wurden. Die dabei empfundene Ohnmacht hatte zur Folge, dass sich die Kinder für ihre Eltern schämten und sich verletzt fühlten. Einer der Gründe, weshalb die Intifada - der Ende 1987 ausgebrochene palästinensische Volksaufstand - weitgehend von Kindern und Jugendlichen getragen wurde, ist in den geschilderten Erfahrungen zu suchen. Sie erhoben sich gewissermassen als Reaktion auf die Art und Weise, wie ihre Nächsten von den Besatzern schikaniert wurden.

Kinder, die sich an Aktionen gegen israelische Soldaten beteiligten, indem sie Steine warfen, Reifen anzündeten, Strassensperren errichteten, wachten nachts mit Angstgefühlen auf oder schrien im Schlaf. Einzelne erlebten eine eigentliche Regression in ihrer Persönlichkeitsentwicklung und begannen das Bett zu nässen, obwohl sie schon im Schulalter waren. Dies war eine Folge der Tatsache, dass Kinder am Tage sozusagen als Soldaten auftraten. Es ist zu vermuten, dass viele nicht verarbeitete Verletzungen und Ängste in den Heranwachsenden bestehen bleiben.

Während der Intifada blieben die Schulen infolge von Ausgangssperren oft geschlossen, sodass bei vielen Kindern grosse Lücken in ihrer Bildung entstanden. Häufig fehlen sogar die Grundlagen des Primarschulstoffes. Der Tagesablauf der Kinder war oft ungeregelt, und bezüglich Freizeitgestaltung erhielten sie kaum Anregungen. Wie sich die traumatischen Erfahrungen der Kinder später im Erwachsenenalter auswirken, lässt sich schwerlich voraussagen. Die inneren und äusseren Verwahrlosungserscheinungen sowie andere Störungen, welche manche Kinder und Jugendliche heute noch aufweisen, können sich beim Aufbau der palästinensischen Autonomie jedenfalls nachteilig auswirken. Für Freizeitgestaltungsprogramme stünden zwar genügend ausgebildete LehrerInnen zur Verfügung, doch fehlt es vielerorts an den nötigen Geldmitteln.

Ohnmacht macht krank

Anlässlich einer Projektreise im Mai 1996 beschäftigten sich zwei Vertreter der Centrale Sanitaire Suisse (CSS) erstmals vor Ort mit psychischen Störungen bei den Betroffenen. In einem Ambulatorium der «Union of Palestinian Medical Relief Committees» im Dorf Tubas, das in der Westbank zwischen Nablus und Jenin liegt, orientierte uns die Ärztin, Dr. med. Halah, über die psychischen Störungen bei PatientInnen. Vor allem viele Frauen beklagen sich über körperlich nicht erklärbare Schmerzen etwa in den Beinen und im Kopf. Im Gespräch zeige sich jeweils bald, dass die Beschwerden mit der alltäglichen Stress-Situation zusammenhängen. Psychische Aspekte, so Halah, müssten vermehrt in die Behandlungen miteinbezogen werden. Uns ist aufgefallen, dass Ärztinnen diesbezüglich sensibilisierter sind als ihre männlichen Kollegen.

Bei einem neuerlichen Besuch im vergangenen Mai in Tubas äusserte eine Ärztin im Ambulatorium des «Palestinian Red Crescent Society» (dem Palästinensischen Halbmond) den dringenden Wunsch nach psychiatrischer Unterstützung ihrer medizinischen Arbeit. Wegen dem akuten Mangel von PsychiaterInnen in Palästina können aber PatientInnen mit psychischen Problemen heute nicht adäquat behandelt werden.

Immerhin beschäftigt sich die Sozialarbeiterin des Ambulatoriums mit dem sozialen Kontext der psychischen Nöte. Unterstützung und fachliche Begleitung erhält sie vom Child and Family Consultation Center (CFCC) in Ost-Jerusalem. Das CFCC ist eine nichtstaatliche Organisation, welche sich vor allem mit der psychischen Gesundheit der PalästinenserInnen beschäftigt. Sie konzentriert sich auf die Aus- und Weiterbildung von Fachleuten und Laien im Bereich der psychischen Gesundheit. Im Vordergrund stehen dabei die Erfassung und Einschätzung von psychischen Beeinträchtigungen, Kenntnisse über Psychopharmaka und deren Handhabung sowie über Interventionsmöglichkeiten in der alltäglichen Praxis.

Handeln ist möglich

Mein Israel- und Palästina-Aufenthalt vom Mai des laufenden Jahres machte mir deutlich, dass sich die psychische Situation vieler PalästinenserInnen laufend verschlechtert. Der Psychiater Elia Awwad, Leiter von CFCC, bezeichnet die Ausbreitung der Depressionen in der Bevölkerung als epidemisch. Diese Entwicklung, so Awwad, sei in erster Linie eine Folge des Gefühls der Aussichtslosigkeit, das mit dem Ausbleiben einer einigermassen gerechten politischen Lösung im Konflikt mit Israel zusammenhängt.

Verschlechtert hat sich aber auch die Lage für viele palästinensische Frauen in der Westbank und vor allem im Gazastreifen. Der Druck traditioneller Familienstrukturen ist eine wichtige Ursache psychisch induzierter Erkrankungen. Frauen werden wieder mehr unterdrückt und ins Haus verbannt, ähnlich wie nach dem Unabhängigkeitskrieg Algeriens gegenüber Frankreich Ende der fünfziger Jahre. Eine junge Pflegerin, die im Gazastreifen nahe an der ägyptischen Grenze mit behinderten Menschen arbeitet, erzählte mir von der Unterdrückung durch die eigene Familie. Da sich die erwachsene Frau gegen die Bevormundung auflehnt, wird ihr angedroht, sie dürfe nicht mehr ausserhalb des Hauses arbeiten. Solche Gewaltverhältnisse können zu offener Aggression führen. Im Gefängnis von Gaza sitzen einige Frauen, die ihre Ehemänner umgebracht haben, weil sie deren Druck und die Gewalt gegen sie und die Familie nicht mehr aushielten. Mehrheitlich reagieren die Frauen jedoch depressiv auf die Unterdrückung. Laut einem israelischen Zeitungsbericht ist beispielsweise die Selbstmordrate palästinensischer Frauen im Gazastreifen in letzter Zeit gestiegen.

Die psychischen Folgen von Traumatisierung und struktureller Gewalt in Palästina sind dramatisch. Konkretes Handeln ist gefragt. Die CSS entschloss sich daher schon 1996, die Weiterbildung von vorerst 25 ÄrztInnen aus der Gegend von Bethlehem durch unsere Partnerorganisation CFCC zu finanzieren. Im laufenden Jahr bewilligte der Vorstand der CSS-Regionalsektion der deutschsprachigen Schweiz einen Beitrag für die Supervision der Sozialarbeit in einem Ambulatorium von Tubas. Es gibt vor Ort vielversprechende Ansätze - doch brauchen sie unsere Unterstützung.

Jochi Weil ist Sekretär der CSS, Regionalsektion deutschsprachige Schweiz

 

hingehen! Gegen Gewalt, für den Widerstand

Unter dem Titel «Politische, wirtschaftliche und strukturelle Gewalt traumatisiert - medizinische und psychologische Unterstützung als Beitrag zur Befreiung» veranstaltet die Centrale Sanitaire Suisse (CSS) eine Jubiläumstagung zu ihrem 60jährigen Bestehen. Nach vormittäglichen Einführungsreferaten und Diskussionsmöglichkeiten über strukturelle Gewalt, Kriege und Traumatisierungen von Thomas Gebauer, Hans Keilson und Ursula Hauser - allesamt engagierte Psychologen bzw. PsychoanalytikerInnen - beschäftigen sich am Nachmittag Arbeitsgruppen mit folgenden Themen: «Politische und/oder psychische Befreiung - Wo liegen Schnittstellen?» «Bereitschaft zur bewaffneten Befreiung - ist sie zu vereinbaren mit einer linken und feministischen Ethik?» «Welches sind die frauenspezifischen Aspekte und Lösungsansätze von Traumatisierungen?» «Haben ‹Salud - mental-Programme› befreiende Aspekte? Welches sind die Möglichkeiten und Grenzen von Fachleuten und Laien im Bereich ‹Salud mental›?

Die Tagung findet statt am 15. November 1997, von 9 bis 18 Uhr, in den Räumen der Gewerkschaft GBI, Strassburgstr. 11 (6. Stock), Zürich. Anmeldungen zur Tagung sind bis zum 30. Oktober einzusenden an: Centrale Sanitaire Suisse, Postfach 1215, 8031 Zürich.

Am Abend des 4. Oktober veranstaltet die CSS zudem ein Jubiläumsfest in der Zürcher Kanzleiturnhalle.