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Flüchtlingspolitik durch die Nato

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Von Beat Leuthardt*

Bevölkerungen an den Rändern gegen Militarisierung Europas

Von "Schengen", dem ursprünglich auf Grenzöffnung ausgelegten EU-Elitegremium, zum NATO-Krieg im Kosovo gibt es direkte Verbindungen. Sie führen über die erste NATO-Flüchtlingstagung von 1996 In Warschau.

Polens Direktor des Migrations- und Flüchtlingsamtes war unabkömmlich: Eine Internationale Tagung, wir verstanden, eine hohe Ehre für ihn und ganz Warschau. Wichtige Flüchtlings- und Migrationstagungen fanden bis dahin in Berlin oder allenfalls Budapest statt; Polen war, obwohl schon längst Pufferstaat für Deutschland zur Abfederung unerwünschter "Migrationsströme", aus EU-Sicht randständig.

Das war im Oktober 1996. Die Tagung, von der nach aussen kaum etwas bekannt wurde, veränderte alles. Und sie ist zugleich ein Spiegelbild für die Wandlung der Festung Europa. Denn es war eine Nato-Tagung, ausdrücklich und ausschliesslich zur Flucht- und Migrationspolitik in Europa. Wo noch kurze Zeit zuvor Friedens- und Sozialeinrichtungen den Führungsanspruch in der Flüchtlings- und Migrationspolitik behaupteten und wo die Westeuropäische Union etwas gegen die Militarisierung zu stellen versuchte, hatte sich die Nato bereits die Oberhand verschafft und alles Ausgleichende platt gewalzt.

Die 1996er Nato-Tagung sollte endgültig den Führungsanspruch der Militärs im Thema Nummer eins der letzten zehn Jahre in Europa bekräftigen. Hinterher muss man wohl vermuten, dass der Kosovo-Krieg mit seinem Flüchtlingsmillionen-Kalkül schon damals in Warschau eine Wurzel hatte. Das Tabu "Armee gegen Flüchtlinge" war damals schon gebrochen, die Entpersönlichung von Menschen auf der Flucht schon voll im Gange.

Der kurze Aufschrei in der Schweiz

Das war drei Jahre zuvor in der politischen Debatte in der Schweiz noch ganz anders. Es war ein Aufschrei wie selten zuvor und danach, als wir im Januar 1993 von geheimen Plänen der Schweizer Armee berichteten, Armee an die Grenzen gegen Flüchtlinge zu stellen. Jene "Übung Limes" wurde zunächst bis in Kreise des FDP-Opportunisten Franz Steinegger scharf verurteilt, das damalige Eidgenössische Militärdepartement zu einem halben Rückzieher genötigt, weil die rechtliche Grundlage für "Ordnungsdienst im Nichtkriegszustand" fehlte.

Doch die Entwicklung zur Militarisierung der Gesellschaft mit Flüchtlingen und MigrantInnen als Testpersonen war schon damals nicht mehr aufzuhalten. Der Zürcher Divisionär und Rechtsaussen Ulrico Hess (eben erst im Verbund mit der SVP-Rechten für die Initiative zur Beschleunigung der Volksrechte aufgetreten) forderte schon damals Armeeaufgaben für den so genannten "unfriedlieben Ordnungsdienst" und redete neue sicherheitspolitische Herausforderungen herbei. Solche Herausforderungen sah der Armeeausbildungschef Jean-Rodolphe Christen in machtpolitischen Risiken wie "Migration", die er im selben Atemzug nannte wie "aggressiver religiöser Fundamentalismus, illegaler Waffenhandel, Drogen, Terrorismus und das organisierte Verbrechen".

Wenige Jahre später hatten sie sich durchgesetzt. Der "Assistenzdienst", der Armee-Einsätze gegen Flüchtlinge erlaubt, ist Gesetz geworden, abgekupfert beim österreichischen Heer, das als erstes an der Ostgrenze im Burgenland gegen Unschuldige auf der Flucht eingesetzt wurde. Sammellager für Asylsuchende werden - in den 1980er-Jahren völlig undenkbar - temporär von uniformierten und bewaffneten Soldaten geführt, während in den ehemals von sozialarbeiterisch geschulten BetreuerInnen geführten kleineren Asylzentren Zivilschützer längst die Oberhand gewonnen haben.

An der Südgrenze, wo zu den Zeiten des Zweiten Weltkriegs noch Soldaten Grenzwächter versehentlich umlegten, leisten erstere letzteren seit zwei Jahren "Unterstützung". Dass es sich bei jenen Soldaten um "Festungswächter" handelt, ist angesichts des mittlerweilen fest eingeführten Begriffs der Festung Schweiz und der Festung Europa ein Witz, über den im Ausland herzhaft gelacht wird. Wie schon 1991, als Gesamtverteidigung gegen Albaner im Tessin geführt wurde, werden auch jetzt wieder Asylmassen herbeigeredet und Fluchten aus Richtung Kosovo vorsorglich gestoppt. Tatsächlich waren es gerade mal 7851 so genannt illegal Einreisende, die der verstärkte Festungswacht-Grenzwacht-Verbund im ersten Halbjahr 1999, also zu den Zeiten des Nato-Krieges im Kosovo, angehalten hatte; ganze 12714 waren es im gesamten Jahr 1998 gewesen.

Dass diese tatsächlichen Flucht- und "Aufgriffszahlen" an der italienisch-schweizerischen Grenze also verhältnismässig bescheiden blieben, ist in der öffentlichen Diskussion bravourös ausgeblendet worden. Kaum, dass je jemand beim Ufficio svizzero accoglienza profughi - eine Art Tessiner Asylkomitee - oder bei Kaplan Koch und den übrigen Helferinnen und Helfern nachgefragt hätte. Stattdessen wurden breite Debatten über die Erneuerung des Festungswachtkorps-Mandates geführt So verläuft die Schweizer Militarisierungspolitik nun schon seit Jahren.

Ohne Schengen kein Kosovo-Krieg?

Was hat der Nato-Krieg im Kosovo mit dem Schengen-System zu tun? Vermutlich einiges. "Offene Grenzen für Europa" hatte einst ex-Bundeskanzler Helmut Kohl gefordert Die "Gruppe Schengen", die er als informelles Behördengremium zusammen mit Frankreich und den Benelux-Staaten einsetzte, hätte 1985, als sie gegründet wurde, eine gute Sache werden können: Leben im Grenzraum ohne willkürliche Behinderungen durch Schlagbäume und durch Ausweispflichten mit positiven Auswirkungen selbst auf die Siedlungsstrukturen und die Raumplanungen in den Grenzzonen.

"Schengen" hat seit 1985 aber fast alle Chancen für eine Öffnung in Europa vertan und hat stattdessen jede Möglichkeit genutzt, Gebiete abzuschotten und Menschen auszuschliessen. Immer mehr Staaten der Europäischen Union hat man ins Schlepptau geholt; Behörden in der Schweiz und in Österreich haben sich freiwillig (über-) angepasst.

So haben sich die Polizeistrategen im Verbund mit den durch den Mauerfall von Arbeitslosigkeit bedrohten Geheimdienstmitarbeitern durchgesetzt. Die Gefahren ausbleibender Grenzkontrollen auf die Fahndungsaufgriffe und "Trefferquoten", konsequent überbetont, dienten der inneren Aufrüstung und erlaubten so einen Wettkampf zwischen Innerer Sicherheit im Innern und Äusserer Sicherheit ebenfalls im Innern, etwa dem "unfriedlichen Ordnungsdienst". Es war wohl nur eine Frage der Zeit, bis sich auch die Angestellten der Inneren Sicherheit ins "Kerngeschäft" der Äusseren Sicherheit einmischen würden und mit Tipps, Technologie und vorbereiteter Asylabschottung ausserhalb der Europäischen Union Flüchtlings-, Migrations- und Militärpolitik miteinander verquicken würden, wie dies im Kosovo geschehen ist.

Im Kosovo 1999 hat sich die Handschrift von "Schengen" vierzehn Jahre später besonders krass in der Kriegs- und Lagerpolitik der Europäischen Union gezeigt. Abschottung und Ausgrenzung haben Kohl und seine Erben dazu gebracht, Flucht- und Migrationsströme - auch die selber erzeugten - schon weit ausserhalb der EU-Aussengrenzen zu erkennen und noch im "fremden Land" zu stoppen.

Das "Schengen der Offenen Grenzen" hätte bedeutet, die Menschen einzulassen und im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 aufzunehmen. Stattdessen sind die "Schengen"-Verantwortlichen in Wien und Bonn/Berlin seit 1998 offen daran, den Asylrechtsanspruch und damit die Genfer Konvention faktisch abzuschaffen und eine Kontingentslösung zu installieren. Die aggressive Flüchtlingspolitik im Kosovo ist das genaue Abbild der Luftangriffe auf so genannte zivile jugoslawische Ziele.

Faktisch ist die Militarisierung der Asylpolitik in den Kosovo-nahen Lagern, die Beschränkung von Fluchten auf einige tausend Kontingentsflüchtlinge, die Sonderbehandlung dieser Flüchtlinge und deren gnadenlose Rückführung im ersten Moment nach dem Ende des Krieges die genaue Einübung militärisch-taktischer Vorgehensweise unter Ausserachtlassung "ziviler" internationaler Abkommen wie eben der Genfer Flüchtlingskonvention. Deren Entkernung füllte folgerichtig die Traktandenliste des Sondergipfels der EU-Staats- und Regierungschefs im finnischen Tampere von Mitte Oktober. Im Ergebnis entspricht es den noch unter dem früheren Flüchtlingsdelegierten und Divisionärs Peter Arbenz geäusserten Ideen über von der Schweiz aus überwachte "sichere Zonen" etwa im Verfolgerstaat Türkei.

Wie dies im Kosovo konkret ausging, schildert die stets bestens informierte und analysierende Berliner Forschungsgesellschaft Flucht und Migration (" Widerspruch", Juli 1999): "Die Blockierung der Flucht nach Westeuropa in diesem organisierten Ausmass war einmalig." Zum einen sei dies geschehen "durch die Verhinderung der Ausreise aus der Lagerregion", zum Zweiten "durch Erschwerung der Einreise nach Westeuropa" und drittens "durch eine polizeiliche Fahndung längs der Fluchtwege in den Transitstaaten". Die Militarisierung der Flüchtlingslager habe hierzu ebenso beigetragen wie die Aufrüstung der Vorfeldfahndung mit Informationssystemen, welche &'eine Fälle von Namen, Adressen, Telefonnummern und individuellem Aussehen von als FluchthelferInnen eingeschätzten Personen aus den Umkreisen von Kirchen, Reisebüros, Parteileuten, Pensionen und Hotels" registrieren und europaweit auswerten. Die ''Informellen Konsultationen " mit Sitz in Genf und einer Art Filialen in Wien und Budapest unter Jonas Widgren - einem schwedischen Sozialdemokraten und Zögling des früheren Flüchtlingsdelegierten Peter

Arbenz - leisten hier sozusagen outgesourct ganze Arbeit im Sinne moderner und betriebswirtschaftlich orientierter Strategiearbeit im Dienste der europäischen InnenministerInnen.

"Moderne" Feindbilder von Spanien bis Litauen

Heute, vierzehn Jahre nach Gründung der "Gruppe Schengen" und ebenso viele Jahre seit der Illusion einer grenzenlosen Gesellschaft, sind die Machtbefugnisse eines Bundesgrenzschutzes oder der französischen Schlaggruppe der Police aux Frontières weniger eingeschränkt denn je. Eine Europol-Fahndungs- und Geheimdiensteinheit politische Schranken gibt den nötigen Flankenschutz, die Militarisierung der Polizeien und die polizeilich angereicherten Funktionen des Militärs ergeben unbeachtet interner Rivalitäten eine gewisse Verschmelzung von Innerer und Äusserer Sicherheit. Westeuropas Zentren sind heute voll von Kontrolleuren in Kampfmontur und Kontrollmöglichkeiten ohne Anlass.

Ähnlich wirkt sich dies auch an den Rändern Europas* aus. Von Süd bis Ost, von der Costa del Sol über Apulien bis zur Steiermark, zu Ungarns Osten und der Baltischen Ebene treten ungewohnte Kampfpolizisten an die Stelle des sozial kompetenteren Dorfpolizisten. In Litauen werden arme Bauersleute in Kampfstiefeln vom Hof geholt, weil sie das taten, was ChristInnen tun, nämlich

den nachts Anklopfenden Obdach zu gewähren, und stecken wegen "Beherbergung Illegaler" in Untersuchungshaft.

In Südspanien vis-à-vis der marokkanischen Küste werden Taxifahrer zur Einschüchterung nachts in Zellen gesteckt, weil sie tagsüber Personen als Fahrgäste aufgenommen hatten, die in den Augen "Schengen"-getrimmter guardia civil-Bediensteter wie fliehende oder migrierende MarokkanerInnen aussehen. Die Taxifahrer bilden derzeit eines der am meisten betroffenen Angriffsziele eines Machtapparats, der zwischen "zivilen" und "militärischen" Aufgaben ebenso wenig unterscheidet wie zwischen den früheren Testpersonen der Flüchtlinge und MigrantInnen einerseits und den heutigen Taxifahrern andererseits. Wenn in Ostdeutschland, wo das Ganze seinen Anfang nahm, Taxifahrer zu gegen zwei Jahre Gefängnis ohne Bewährung verurteilt werden, weil sie Fremdaussehende als Fahrgäste aufgenommen haben, ohne dass der Aufschrei wesentlich über die Kampagne "Kein Mensch ist illegal" hinaus gedrungen ist, dann ist jede weitere "Kriegserklärung" gegen soziale Gruppen möglich und aus militärischpolizeilicher Sicht aussichtsreich.

Diese Erfolgschancen, die der neuen, aggressiven Festung Europa zugestanden werden müssen, werden punktuell allerdings immer wieder geschmälert. Dies geschieht wohl weniger in den Mittelost- und Oststaaten, deren soziale Notwendigkeit, sich der Europäischen Union anzuschliessen, kritische Abwehr gegen innere Aufrüstung zur Luxusware werden lässt. In Gegenden wie Südspanien allerdings trifft man noch auf politische Situationen, in denen sich Sozialdemokraten im Wahlkampf zum Zweck des Stimmenfangs nicht für, sondern gegen die Flüchtlingsabwehr aussprechen. Die Tatsache, dass jährlich weit über tausend Menschen in der Meerenge von Gibraltar auf Grund europäischer Abwehrmassnahmen ihr Leben verlieren, bewegt dort die Menschen noch. Sie macht Solidarität zur Alltagserscheinung und stürzt wohlmeinende guardia civil-Bedienstete in unlösbare moralische Zwiespälte.

Entfernte Nachbarschaften

Dennoch zeigen sich die Zerfallserscheinungen menschlicher Grundwerte wie Solidarität mit Flüchtlingen und MigrantInnen oder der Unverletztlichkeit kirchlicher Räume und christlichen Denkens, die in den Zentren Westeuropas zu beobachten sind, zunehmend auch an Europas Rändern. Hand in Hand mit der Zunahme von Filialen der Deutschen Bank und anderer Importeinrichtungen entfremden sich Nachbarn, werden aus Neugierigen Gleichgültige und aus Gleichgültigen Misstrauische. Der kleine Grenzverkehr, noch in den ersten Jahren von "Schengen" zwischen Marokko und Spanien die Regel, wird zur Ausnahme. Doch beugen sich die Menschen dort nicht ohne Weiteres der inneren Aufrüstung der Küstenzonen und Küstengewässer.

Viele Geschichten belegen das Gegenteil; Engagement und Menschlichkeit lassen sich in den aktuellen Generationen (noch) nicht dauerhaft zerstören. Dies ist die positive Erfahrung, die man aus Litauen und der Ukraine, aus Spanien und Italien mitbringen kann.

* Der vorliegende Text erschien im Monatsmagazin MOMA Nr. 11/12.1999. Er beruht auf dem Mitte Oktober erschienenen neuen Buch von Beat Leuthardt: An den Rändern Europas. Berichte von den Grenzen. 300 Erzählseiten sowie Mittelteil mit Sachinformationen. Rotpunktverlag Zürich. Preis: 36 Franken. Bezug: Buchhandel, Verlag oder direkt beim Autor (Büro EuroGrenzen, Postfach 1860, 4001 Basel oder www.eurogrenzen.ch).

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