Krieg – ein Versuch der Beschreibung

In der Welt ist Krieg, an vielen Orten – nicht in der Schweiz. Die Theatergruppe ProjektN inszeniert mit dem Schauspieler Peter Ehrlich ein Stück über den Krieg. Hat uns das Theater noch etwas zu sagen?

Die idyllisch verschneite Werdinsel in Zürich scheint an diesem Nachmittag der friedlichste Ort der Welt zu sein. Enthoben aller Mühsal. Doch der Eindruck täuscht, denn im Proberaum der Theatergruppe ProjektN arbeitet man engagiert an einem Stück über die Grausamkeit des Krieges. Der letzte Zeuge eines schrecklichen Kriegsereignisses wird endlich seine Stimme erheben und berichten, was niemand hören wollte. Was auch heute lieber niemand hören will. Der Schauspieler Peter Ehrlich verkörpert auf der Bühne den letzten Überlebenden einer unmenschlichen Kriegsgefangenschaft. Seine eindringliche Stimme erzählt vom Krieg, nackt und ungeschönt. Keine strategischen Analysen, keine Heldengeschichten. Ein Mensch aus Fleisch und Blut entsteht unter der feinfühligen und zugleich beharrlichen Regie von Franziska Dingetschweiler. Sie will keine stilisierte Figur, sondern einen Menschen, dem man zuhören muss. Das Spiel von Peter Ehrlich ist wie geschaffen dafür: seine Mimik, seine Gestik, das zögernde Schweigen bevor er weiterfährt und die Details des Krieges ausbreitet. Die Theaterleute arbeiten an einem schwierigen Text, voller beängstigender Fragen: Wieviel Hunger kann ein Mensch ertragen, wenn nichts mehr da ist, kein Vieh, kein Brot… nur noch Tote…?

Politisches Theater

Die Theatergruppe ProjektN will gesellschaftlich wirken. Theater soll Diskussionen auslösen, problematische und tabuisierte Themen anpacken und immer wieder insistieren.

Franziska Dingetschweiler sieht in der menschlichen Begegnung eine grosse Kraft des Theaters. Ein Mensch spricht auf der Bühne, jede Silbe wirkt hier stärker als in der Dauerberieselung durch die elektronischen Medien.

Das ProjektN hat ein Anliegen: Menschen sollen wieder als Zeitzeugen ernst genommen werden. Geschichte kann in ihren Geschichten präsent werden, denn Geschichte ist nicht (nur) Statistik oder abstrakte Rede, sondern setzt sich zusammen aus Erlebnissen von Menschen. Auf den Punkt gebracht: “Das Ausmass des Krieges ist in Opferzahlen messbar, aber nur in Einzelgeschichten spürbar.”

Aber viel in diesen Geschichten ist tabuisiert, Folter, Kannibalismus in Notzeiten, Traumata bei ‚Opfern’ wie auch bei ‚Tätern’. Die Kategorien geraten ins Wanken: Wer ist Täter? Inwieweit ist jemand schuldig? Und was tun mit ‚Tätern’? Auch sie können kriegstraumatisiert sein. Haben sie Anspruch auf Hilfe?

Hier soll die politische Intervention des Theaters ansetzen: Das Wahrnehmen von anderen Menschen und deren Erlebnissen ist der erste Schritt, um Pauschalverurteilungen zu vermeiden. Darum haben die Theaterleute ein Stück ausgewählt, in dem Opfer- und Täterschaft nicht zu trennen sind.

Das Publikum ist beteiligt. Es ist in der Zeugenposition, muss mit dem Gehörten und Gesehenen umgehen. Denn gerade die Position des Zeugen fordert Verantwortung. Auch in der Schweiz.

Umgang mit dem Krieg

Das ProjektN ist eine Gruppe ambitionierter Theaterschaffender, die alle unterschiedliche Erfahrungen mit dem Thema Krieg haben. Die wichtigsten Mitglieder seien hier vorgestellt:

Die Regisseurin Franziska Dingetschweiler gehört zu der Generation junger Schweizerinnen und Schweizer, die sich an dem allerorten vermittelten Bild der Schweiz, besonders von ihrer Rolle im Zweiten Weltkrieg, gestossen haben. Sie wollten mehr wissen, forderten Antworten und zwangen zur Revision des Geschichtsbildes. Schockiert, so Franziska Dingetschweiler, war sie über den Umgang mit dem deutschen Nationalsozialismus im Schulunterricht, über das Desinteresse der Mitschülerinnen und Mitschüler.

Der Dramaturg und Produktionsleiter Alexander Christ erzählt von seiner Familie: Während die Grosseltern väterlicherseits stramme Nazis waren, wurden die Grosseltern mütterlicherseits von den Nationalsozialisten verfolgt. Familiengeschichten voller Leid und Entbehrung, aber auch voll Tabus und Unausgesprochenem. Der Riss zwischen Freund und Feind geht mitten durch die Familie. In dieses Umfeld ist Alexander Christ hineingeboren.

Der Schauspieler Peter Ehrlich erlebte den Zweiten Weltkrieg in Berlin. Die Bomben, den Hunger, den Tod, dann den Wiederaufbau.

Die verschonte Schweiz und das kriegsversehrte Deutschland, die junge und die ältere Generation – funktioniert da überhaupt eine Zusammenarbeit? Alle sind sich einig: Die Unterschiede sind sehr produktiv. Natürlich gebe es Reibungen, prallen Meinungen aufeinander. Aber alle sind interessiert an den Erfahrungen und Ansichten der anderen. Es geht ihnen darum, Respekt für den anderen zu zeigen. Schliesslich ist es das Anliegen der Gruppe, auch auf der Bühne für Toleranz und Respekt einzutreten. Ein erster Schritt um Kriege zu vermeiden.

Fragen an die Regisseurin

(bs/sl) Warum haben Sie sich für dieses Stück entschieden, das von soviel Grausamkeit erzählt? Sollte man im Theater nicht eher eine friedliche Alternative zum Krieg zeigen?

Franziska Dingetschweiler: Das Stück basiert auf einer wahren Begebenheit. Bei den Recherchen für “Das Urteil” sind wir auf viele ähnliche und schlimmere Kriegsberichte gestossen. Denken Sie zum Beispiel an Tschetschenien oder die Türkei, wo Folter zum Alltag gehört. Und diese Wahrheit muss zumutbar sein, gerade in der Schweiz. Wir dürfen nicht wegsehen. Das Publikum wird konfrontiert, jede und jeder muss sich über seine Alternative Gedanken machen. Die meisten derjenigen, die Krieg erlebt haben, bekommen kein Forum. Wir haben verlernt zuzuhören, weil man gegenüber den Fernsehbildern leicht in die Haltung eines Voyeurs kommen kann: Leid, das abstrakt bleibt, das nicht mehr betrifft. Daraus entwickelt sich kein Nachdenken, keine Alternative. Im Theater hingegen spürt man die Emotionen auf und neben der Bühne, erfährt, empfindet und begreift.

Warum ist das Stück – die Geschichte eines Kriegsgefangenen – in der Schweiz relevant? Im Vergleich z.B. zu Deutschland lebt in der Schweiz ja nicht eine ganze Generation von Kriegsbeteiligten?

Das Stück lässt spüren, dass es nicht leicht ist, ein Urteil zu fällen, wenn man erst einmal die ganze Geschichte eines Menschen kennt. Es führt das Publikum zur Frage: ‚Was hätte ich getan?’. Wir zeigen, dass es wichtig ist, durch die Augen des anderen zu sehen. Es wird nach der Aufführung Redebedarf geben. Deshalb haben wir drei Podiumsdiskussionen angesetzt, zu denen wir Gäste aus verschiedenen Bereichen eingeladen haben. Wir wollen mit ihnen und mit unserem Publikum diskutieren. Ich wünsche mir ein Publikum, das sich traut, etwas zu sagen.

Es hat doch schon so viele Kunstprojekte gegen Krieg gegeben, aber an den immer neuen Kriegen haben sie auch nichts geändert. Wird das Theater nicht überschätzt?

Kunstschaffende haben wie alle anderen Menschen eine Verantwortung zu tragen. Wenn ich bedenke, unter welchen Gefahren Menschen in anderen Ländern versuchen, Wahrheiten über den Krieg ans Licht zu bringen, da käme ich mir schäbig vor, wenn ich hier in der Schweiz, in Sicherheit, keinen Beitrag leisten würde. Unser Beitrag besteht darin, eine Ursache für Krieg, das Vorverurteilen von Menschen, offen zu legen.

Engagiert sich die Schweiz genug für den Frieden? Was vermissen Sie?

Auf der institutionellen Ebene tut sich Vieles: Das Eidgenössische Departement des Innern unterstützt zum Beispiel auch unser Projekt. In der Politik tritt die Bundesrätin Frau Calmy-Rey für eine neue Friedenskultur ein. Sie überwindet starr gewordene Grenzen und setzt sich für den Dialog als Friedensmittel ein. Dieses Interesse an einer erneuten Gesprächsbereitschaft beobachte ich auch bei vielen Jüngeren: Sie wollen sich mit ernsten Problemen auseinandersetzen, geben sich nicht mit einfachen Lösungen zufrieden und zeigen grosses Engagement. Nur ist mir dieser Einsatz noch viel zu punktuell, er flammt nur auf, wenn ein Krieg aktuell ist. Es ist mir wichtig, dass die Auseinandersetzung nicht abbricht, dass man sich viel mehr grundsätzliche Gedanken über die Ursachen von Krieg macht, um so zum Frieden beitragen zu können. Die Bereitschaft zum Dialog sollte viel mehr gepflegt und wertgeschätzt werden, denn verhärtete Fronten und das Fehlen einer Friedenskultur als Wert sind ein Auslöser für kriegerische Auseinandersetzungen.

“Das Urteil” von Barry Collins

Premiere: 16. April 2004, 20 Uhr
Weitere Vorstellungen: 17. April bis 2. Mai, ausser montags
jeweils 20 Uhr, sonntags 19 Uhr
Theater Stok in Zürich, Hirschengraben 42,
Tram 3 / Bus 31, Haltestelle Neumarkt
Podiumsdiskussion: 16. April, 23. April, 30. April
nach der Aufführung mit Vertreterinnen und
Vertretern aus Politik, Journalismus,
Geschichtswissenschaft, von Menschenrechts- und
Flüchtlingsorganisationen
Kartenreservation: Tel. 01 401 05 55
Fax 01 401 58 30
karten@ProjektN.com
www.ProjektN.com
Eintrittspreis: 35.- CHF / Legi 20.- CHF
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