Allianz der heiligen Krieger

Die Nato hat den kalten Krieg gewonnen, aber so ganz glücklich konnte sie mit ihrem Sieg nicht werden. Zum 50. Jahrestag will sie sich jetzt die Lorbeeren für den Endsieg holen

„Wir stehen am Anfang einer Ära grundlegender sozialer Veränderungen. Weltweit zerbrechen jahrtausendealte soziale Strukturen. Die grossen Kriege des 20. Jahrhunderts fanden zwischen wohlhabenden Staaten statt. Im nächsten Jahrhundert werden die jetzt in Frieden miteinander lebenden wohlhabenden Staaten gegen die Völker der armen Staaten und Regionen ihren Wohlstand verteidigen müssen. Der Menschheit steht ein Jahrhundert des Mangels bevor. Um Dinge, die man einmal kaufen konnte, wird man Krieg führen müssen. Dem Westen stehen die unterprivilegierten Länder gegenüber. Menschen aus diesen Ländern, für die ein Leben in Frieden das am wenigsten erstrebenswerte Dasein ist, werden gegen die industrialisierte Welt Krieg führen. Kriege zwischen verschiedenen Zivilisationen sind wegen ihrer grenzenlosen Brutalität die Schreckensvision des nächsten Jahrhunderts. Wenn es eine Kraft gibt, die der Westen unterschätzt, dann ist es die Kraft des kollektiven Hasses.»


Ein Zitat aus Samuel Huntingtons „Clash of Civilizations», meinen Sie? Falsch.

Der Autor dieser Horrorszenarien heisst Reinhard Herden, ist Oberstleutnant im Generalstab der deutschen Bundeswehr und dort Bereichsleiter für Analysen und Zukunftsprognosen. Sein zweiteiliger, langer Aufsatz, aus dem dieses Zitat stammt, ist schon 1996 in der Zeitschrift „Truppenpraxis/Wehrausbildung» erschienen. Da schreibt also nicht irgendwer, sondern ein berufener Soldat. Und dieser ranghohe Offizier ist beileibe kein Irrläufer, sondern ein klarer Visionär der neuen Nato-Doktrin.

 

Krieg den Schurkenstaaten

Die Nato, als Allianz gegen den Ostblock 1949 gegründet, wird dieses Jahr am 4. April ihren 50. Geburtstag feiern. Seit die Sowjetunion nicht einmal mehr als Feindbild taugt, sucht die Allianz nach neuen Grenzen und Horizonten ihres Engagements. In Bosnien wurde sie dabei genauso fündig wie im Irak oder im Kosovo. Wo immer Unsicherheit herrscht, wo „Terroristen» ihr Unwesen treiben, angetrieben und unterstützt von „Schurkenstaaten», da sieht die Nato ihr neues Ziel- und Operationsgebiet. Der Sudan, Afghanistan, Nordkorea, Irak und Libyen, Bin Laden und Ghadaffi, Milosevic und Hussein, des Bösen ist gar viel in der Welt, die von den Rittern des Lichts in neuen „gerechten Kriegen» gegen das Reich der Finsternis verteidigt werden muss.
Dass viele der heutigen Schurken noch in den 80er-Jahren treue Verbündete der USA und des Westens waren und von diesen gegen die Sowjetunion hochgerüstet wurden, ist eine differenzierte Form der Betrachtung, der die Politik nicht mächtig zu sein scheint – oder nicht sein will. „Blowback» heisst im Jargon amerikanischer Geheimdienste dieses Phänomen, das benennt, wie Gute von gestern zu Bösen von heute werden können, und das erklären kann, wieso sich Waffen am Schluss immer gegen einen selber wenden.
Mitte letzten Jahres rief die USA den Krieg aus: Die Militärschläge gegen den Oberterroristen Osama bin Laden (ein Beispiel eines Blowback) ein Afghanistan und im Sudan seien erst die Auftaktscharmützel zu einem langen Krieg ohne absehbares Ende. Die USA befänden sich in einem Krieg, der so lange dauern könne wie einst die Niederringung der Sowjetunion. Präsident Clinton erklärte, die USA würden „alle zur Verfügung stehenden Instrumente» gebrauchen – Atomwaffen eingerechnet. Es gelte, zusammenzustehen bei der Verteidigung des Westens und seiner Werte. Die Nato-Partner müssten sich in die Reihen eingliedern, denn es gehe um die Zukunft der freien Welt überhaupt.

Frieden mit der Nato

Statt einer besinnlichen Rückschau steht am 24./25. April in Washington die Verabschiedung einer neuen Doktrin, einer Neudefinition der raison d’etre auf dem Fahrplan der Festivitäten. Die Vorarbeiten für das „Neue Strategische Konzept für die Allianz für das 21. Jahrhundert» begannen im Juli 1997 und schon im Dezember wurden die Kernpunkte der neuen Richtlinien auf der Nato-Herbsttagung in Brüssel gebilligt.
Die „Transatlantische Übereinkunft für eine euro-atlantische Gemeinschaft», die laut Nato-Generalsekretär Javier Solana als strategisches Grundsatzpapier im April verabschiedet werden soll, will dem Militärbündnis erlauben, jederzeit und überall ohne Uno- oder sonstiges völkerrechtliches Mandat einzugreifen. Solana nennt dies in einem Grundsatzrefereat über „1999 – ein historisches Jahr für die Nato» (La Libre Belgique vom 13.1.99) schlicht und ergreifend „Fortschritt auf dem Weg des Wiederaufbaus eines offenen Europas nach den Tagen des Kalten Krieges». In seinem Europa haben die Armeen nicht (mehr?) Konfrontation, sondern Kooperation auf ihre Schilde geschrieben. Solana schreibt von Verteidigungskapazitäten, von Interoperabilität, von modernen Kommunikationstechnologien und modernen Soldaten dieser neuen „kohärenten politisch-militärischen Allianz». Die Nato als Garantin für Frieden und Freiheit im 21. Jahrhundert mutiert im offiziellen Sprachgebrauch und wird zur internationalen Staatengemeinschaft schlechthin umdefiniert. Der Londoner Guardian betitelt dieses Konzept treffend: „Die weisse Rasse unter Waffen».

Kernfunktionen der Nato

Dr. Karl-Heinz Kamp, Leiter der Abteilung Aussen- und Sicherheitspolitik der deutschen Konrad-Adenauer-Stiftung, beschreibt in einem Arbeitspapier (Das neue Strategische Konzept der Nato: Entwicklung und Probleme, St. Augustin, August 1998) den Verlauf der Diskussionen und der internen Erarbeitung: „Die Debatte in der Policy Coordination Group (PCG) um den künftigen Handlungsspielraum der Nato jenseits der Bündnisverteidigung verlief in der ersten Hälfte des Jahres 1998 relativ spannungsarm, obgleich dieses Problem erheblichen politischen Konfliktstoff in sich birgt. (…) Ehemalige amerikanische Minister wie William Perry und Warren Christopher sahen es als „strategischen Imperativ», dass die Nato zur umfassenden Verteidigung amerikanischer und europäischer Interessen in der Welt befähigt werde. Senator Richard Lugar konkretisierte diesen Aspekt und forderte, dass in den kommenden Diskussionen über den strategischen Zweck der Nato auch mögliche Krisen in der Golfregion oder in der Strasse von Taiwan berücksichtigt werden müssten.» Im Mai 1998 hatte US-Präsident Bill Clinton in Berlin diese neue Nato skizziert: „In Zukunft muss das Bündnis unsere erweiterten Grenzen verteidigen und uns vor Bedrohungen unserer Sicherheit schützen, die von jenseits der Grenzen kommen: Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen, ethnische Gewalt, regionale Konflikte.»
Gemäss Kamp ergab sich ein Streitpunkt innerhalb der PCG zwischen Deutschland und Grossbritannien über die künftigen Kernfunktionen der Nato: „Das deutsche Bestreben, den Artikel 5 (gegenseitige Beistandspflicht) als die primäre Kernfunktion zu etablieren, wird nicht zuletzt aus dem Interesse genährt, die Hauptverteidigungskräfte der Bundeswehr und damit den Erhalt der Wehrpflicht rechtfertigen zu können. Grossbritannien hingegen sieht für seine auf rasche Verlegbarkeit und auf power projection ausgerichtete Berufsarmee einen wesentlichen Aufgabenbereich jenseits der derzeitigen Bündnisgrenzen. Das im Juli 1998 von der Labour-Regierung verkündete neue britische Verteidigungskonzept sieht explizit mobile Streikräfte für Einsätze überall in der Welt vor, um im Sinne einer defense diplomacy frühzeitig intervenieren zu können. Ungeachtet dieser Auseinandersetzungen um Einzelaspekte sind derzeit keine wirklich fundamentalen Differenzen im Bündnis hinsichtlich des neuen Strategischen Konzeptes zu erkennen.» Der Nato scheint damit in Zeiten (sozial-)demokratischer Regierungsmehrheiten mit Clinton, Blair, Solana, Schröder/ Scharping das zu gelingen, was vor kurzem unter bürgerlichen Vorzeichen undenkbar war. Diese neue Nato verdanken wir den Euro-Sozialdemokraten.

Militarisierte Politik im rechtsfreien Raum

Probleme macht der Nato noch, dass sie keine rechtsetzende Organisation ist und auf eine völkerrechtliche Legitimation für Aktionen jenseits der reinen Selbstverteidigung angewiesen ist. Aber auch hier weiss sich die Nato laut Kamp Abhilfe zu verschaffen: „Vorstellbar wäre, dass in den Situationen, in denen vitale Interessen einzelner Nato-Staaten berührt sind, ein explizites Mandat aber nicht zu bekommen ist, die betroffenen Länder individuell oder im Zusammenwirken mit Partnerstaaten ihre Interessen ausserhalb des Allianzrahmens militärisch vertreten. Hier ermöglicht das Nato-Konzept der Combined Joint Task Force – die Zustimmung aller Bündnispartner vorausgesetzt – die Nutzung des militärischen Grossgerätes der Allianz.» Nato-intern wird dieses Szenario auf dem Hintergrund der Kosovo-Krise durchexerziert. Im internen Sprachgebrauch heisst die Umgehung rechtssetzender Instanzen wie Uno oder OSZE „Weiterentwicklung des Völkerrechts». Sofern die Parlamente der 16 Nato-Staaten unter Zeitdruck einen Einsatz ohne Uno-Mandat, aber „im Geiste der Uno-Charta» und „aus moralischen Gründen» gutheissen, soll dies als Aktion im Interesse des Weltfriedens rechtens sein. Dahinter steckt die (berechtigte) Sorge, dass im Uno-Sicherheitsrat westliche Grossmachtpolitik nicht einfach hingenommen würde. Laut US-Verteidigungsminister William Cohen dürfen „Nato-Sicherheitsinteressen nicht einem UN-Veto unterstellt werden». „Soll die Nato sich ihre Handlungsfreiheit letztlich von Moskau und Peking begrenzen und die Uno lahmlegen lassen?», fragt Lothar Rühl, ehemaliger Staatssekretär im deutschen Verteidigungsministerium in der NZZ (16.1.99). Für ihn und die Nato ist das eine rhetorische Frage.
Gernot Erler, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, kritisiert den eingeschlagenen Weg der Militarisierung: „Hinter der Frage, inwieweit Nato-Friedenseinsätze ein UN-Mandat brauchen, steckt weit mehr als ein strategisches So-oder-So. Wer die Kosovo-Entscheidung, also den Verzicht auf das UN-Mandat, in dieser konkreten Situation zum Präzedenzfall macht und das mit den Schwierigkeiten einer Konsensbildung im UN-Sicherheitsrat begründet, kapituliert vor der Aufgabe, die Vereinten Nationen zu reformieren und sie auch angesichts veränderter Aufgaben auf Dauer handlungsfähig zu machen. Ein gefährlicher Weg, in dessen Logik eine Umlenkung wachsender Erwartungen und vermuteter Problemlösungskompetenzen von der Weltorganisation auf das westliche Bündnis liegt – Erwartungen, deren Erfüllung die Nato überfordern muss.»

Militarisierte Wirtschaftspolitik

Der globalisierte Wirtschaftskrieg der Standorte untereinander bedingt in der neuen Nato-Doktrin eine militärische Absicherung der gemeinsamen Interessen. Um die „Verteidigung gemeinsamer vitaler Interessen» auch ausserhalb der kollektiven Verteidigung des Bündnisgebietes zu garantieren, um die geplante „Vorwärtsverteidigung» also militärisch führbar zu machen, sollen riesige Investitionen in Kommando-, Kontroll- und Informationssysteme in die – auch satellitengestützte – Fernaufklärung getätigt werden. Das kostet natürlich: Der US-Verteidigungshaushalt soll laut Verteidigungsminister Cohen einen „bedeutenden Anstieg, den grössten seit den frühen 80er-Jahren», erleben und auch die Nato-Partner werden in die Pflicht genommen. Europa könne nicht seine Verteidigungsbudgets kürzen und dann nach den USA rufen. Auch hier müssten die Verteidungsausgaben wieder steigen.
Aufgebaut werden zudem „deep strike capabilities», Kriegsmaterial für offensive Kampfeinsätze über grössere Distanzen und längere Zeit gegen verteidigte militärische Ziele. In einem Strategiepapier „Joint Vision 2010″ bezeichnet der ehemalige US-Stabschef John Shalikashvili die geplante Konzeption als „Full Spectrum Dominance» gegen alle staatlichen und nichtstaatlichen Feinde. Die neuesten Schweizer Pläne für eine riesige Abhörzentrale passen bestens ins neue Nato-Konzept.
„Was die Nato-Politiker und ihre Militärs derzeit planen, läuft auf reine Machtpolitik der reichen Staaten über den Rest der Welt hinaus: Militärische Interventionen zur Durchsetzung der eigenen Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen», schreiben die deutschen Friedensaktivisten Andreas Buro und Clemens Ronnefeldt. Ein modernisiertes Faustrecht in einer militärisch unipolaren Welt soll formalisiert und legitimiert werden, um so die Frage nach der völkerrechtlichen Grundlage vom Tisch zu wischen. Buro/Ronnefeldt schliessen daraus: „Militärische Friedenspolitik ist ein Widerspruch in sich selbst.»

Von Verteidigungsarmeen zu Friedenseinheiten

Der Druck zur Neulegitimierung und Neupositionierung lastet auf allen Armeen Europas und der USA, wollen sie Truppenabbau und Budgetkürzungen entgehen oder diese zumindest eindämmen. Um Akzeptanz für neue Rüstungsprojekte zu schaffen, wird der Mythos der humanitären, militärischen Intervention beschworen. Das strategische Verkaufs- und Legitimationsargument, alte Verteidigungsarmeen zu Friedenstruppen umzuetikettieren, schafft heute riesige Überkapazitäten an militärischem Personal, während die zivilen Strukturen und Mittel dem weit nachhinken. Die niederländische Armee beispielsweise soll nach Plänen von Verteidigungsminister Frank deGrave so umgebaut werden, dass sie an vier internationalen Missionen gleichzeitig teilnehmen kann.
Einen Schritt weiter ist da schon die finnische Armee: Jährlich werden hier tausend Soldaten für „friedenserhaltende Operationen» ausgebildet. Finnland verfügt über eine „Stand-by-Force», die innerhalb von dreissig Tagen einsetzbar ist. Dazu kommt eine „Rapid Deployment Force», eine schnelle Eingreiftruppe für Krisengebiete, die zur Zeit im Aufbau ist.
Wie zweifelhaft diese „militärische Friedenspolitik» ist, zeigen Studien. Soldaten, die sich als „Friedens-Krieger» (warriors for peace) verstehen, mit wenig Empathie für die lokalen Konfliktparteien und einem Selbstverständnis, das eher an fiktive Figuren wie Rambo und weniger an dem Vorbild des „diplomatischen Soldaten» ausgerichtet ist, bestimmen laut einer österreichischen Langzeitstudie über Friedensmissionen das Bild (NZZ 5.1.99). Ähnliche Resultate zeigt eine amerikanische Studie über die US-Soldaten in Somalia.

 

Vorwärts zur ewigwährenden, bewaffneten Natrolität

Der Schweizer Armee bietet die neue Nato-Doktrin die Chance, endlich die lästige Debatte über die Neutralität loszuwerden. Neutralität als (angebliche) Unparteilichkeit zwischen den Blöcken ist als Realpolitik mit dem Kalten Krieg untergegangen. Neutralität macht als diplomatisches Kalkül nur Sinn in Bezug auf bestehende und polarisierte Blöcke. Da sich nun aber nicht mehr Rot und Blau gegenüberstehen, sondern Gut und Böse, kann es keine Neutralität mehr geben. Im gemeinsamen Kampf gegen Terrorismus und Islamismus, gegen „Asylantenfluten» und Wirtschaftskriminalität müssen alle zusammenstehen. Die Nato als Allianz der heiligen Krieger wird zum Verbund, der die Kultur überhaupt schützt und rettet. Wer will und kann da abseits bleiben? Die Schritt für Schritt ausgebaute enge Schweizer Kooperation mit der Nato bei gleichzeitigem Festhalten an der Rhetorik der Neutralität verschmelzen so zum typisch helvetischen Kompromissprodukt der neutralen, ewigwährenden bewaffneten Natrolität.
Die Friedensbewegung darf sich nicht in Rückzugsgefechten an die Neutralität klammern und diese verteidigen. So populär (und populistisch) es sein mag, die Neutralität bietet keinen Rettungsanker. Stattdessen müssen die Nato-Konzepte des „gerechten Krieges» blossgelegt und die wirklichen Interessen hinter westlicher Grossmachtpolitik offengelegt werden. Statt sich auf die Neutralität zurückzubesinnen, sollte die Schweizer Linke, die Frauen-, Friedens-, Umwelt-, Gewerkschafts- und Dritt-Welt-Bewegten eine engagierte, solidarische Politik der Unparteilichkeit einfordern. Parteiisch für Werte wie Demokratie, Gerechtigkeit und Menschenrechte, für eine soziale und gerechte Weltordnung, aber unparteiisch gegenüber Staaten und Regierungen ñ nur so kann die Nato-Machtpolitik durchkreuzt und beantwortet werden. Für die Schweizer Politik bedeutet dies: zivil engagiert statt neutral im bewaffneten Abseits.