Ein Bahnhofsvordach stürzt in Novi Sad ein. 15 Menschen sterben – eine 16. Person erliegt Monate später ihren Verletzungen. Der Vorfall löst eine landesweite Protestbewegung aus. ein Erlebnisbericht von Jelena Filipovic
Damit hatte wohl niemand in der Diaspora gerechnet – weder die Saisonnier-Generation meiner Eltern, die in den 1990er-Jahren auf der Flucht vor Krieg und Armut in Westeuropa ein besseres Leben suchten. Noch meine Generation, die während des Jugoslawienkriegs zur Welt kam – und der die Krisen dieser Welt praktisch in die Wiege gelegt wurden.
Für mich bedeuteten die 90er: in Basel ankommen, sich anpassen – oder besser noch – assimilieren. Die eigene Herkunft möglichst ausblenden. Damit einher ging eine erbarmungslose Kritik am Herkunftsland: Die Frustration über ein dysfunktionales System, genährt von Korruption; Wut auf eine scheinbar gelähmte Bevölkerung, die sich dem System nicht widersetzt; und eine Gesellschaft, die über Generationen hinweg mit einem resignierten „Па тако ти је то“ / „so ist es halt“ sich ihrem Schicksal fügte.
Während sich weltweit Autokraten und Faschisten in einem Zeitalter der Schamlosigkeit etablieren, kommen ausgerechnet aus Serbien anhaltende, friedliche Proteste. Angeführt von Studierenden, die sich dem autoritären und korrupten Regime von Aleksandar Vučić entgegenstellen – eine Entwicklung, die nicht auf meiner Liste der wahrscheinlichen Hoffnungsträger*innen für dieses Jahr stand.
Die Wochen vor der Grossdemonstration verbrachte ich bei meiner Familie in Südserbien. Zu meiner Überraschung teilten sie meine Euphorie über einen möglichen Sturz des Vučić-Regimes nicht. Wie auch? Während ich als linke Aktivistin über soziale Medien mobilisiert wurde, speist sich das Informationsbild vieler Menschen im Land aus fünf nationalen Fernsehsendern – mit Vučić als Dauergast. Ob beim Frühstücksfernsehen oder zur Primetime: Immer wieder erklärt er der verunsicherten Bevölkerung höchstpersönlich, dass die Demonstrierenden keine Studierenden seien, sondern bezahlte Akteur*innen aus dem Westen, deren Ziel eine gefärbte Revolution sei, um Serbien zu destabilisieren.
Doch weder Alt noch Jung liessen sich weder von der staatlichen Propaganda noch von Polizeikontrollen oder stillgelegten ÖV-Verbindungen abhalten, nach Belgrad zu reisen, um die Studierenden zu empfangen. Diese waren zuvor tagelang zu Fuss durchs Land unterwegs, um auf die Demonstration aufmerksam zu machen.
Der 15. März markierte den Höhepunkt: Rund eine halbe Million Menschen versammelten sich in der Hauptstadt. Entlang der Hauptroute war kaum ein Fenster, kaum eine Gasse frei von Fahnen, Trillerpfeifen, Vuvuzelas und Parolen. Das führte zwar zu einem leichten Hörschaden – umso eindrucksvoller war der Moment völliger Stille am Abend: Ein Lichtermeer aus Handykameras während 15 Minuten des Schweigens. In Gedenken an die Menschen, die das korruptionsgeprägte System das Leben gekostet hatte – ein Gänsehautmoment.
Getrübt wurde dieser emotionale Moment von einer Schallkanone, die in der zwölften Minute über uns hereinbrach und fast eine Massenpanik ausgelöst hätte. Der Protest löste sich daraufhin früher als geplant, aber friedlich auf.
In einem hitzigen Gespräch vor meiner Abreise fragte meine Grossmutter: „Was wollen diese Kinder? In Serbien herrscht seit Jahren kein Krieg mehr. Warum den Frieden gefährden?“ Vielleicht ist es genau dieser entscheidende Unterschied, der mir Hoffnung macht: Die Generation, die sich heute organisiert, Universitäten, Strassen und Fernsehsender blockiert, kennt den Jugoslawienkrieg vor allem aus den Geschichtsbüchern und den Erzählungen ihrer Eltern. Sie hat genug davon, in der Vergangenheit zu leben, dem Zerfall des Systems tatenlos zuzusehen und in die Diaspora gedrängt zu werden – als billige Arbeitskräfte mit ungewissen Perspektiven.
Sie fordern nicht mehr als das Selbstverständlichste: einen demokratischen Rechtsstaat, in dem es sich zu leben lohnt. Einen Staat, in dem der Einsturz eines Bahnhofvordachs, der 16 Menschenleben fordert, politische und rechtliche Konsequenzen nach sich zieht.
- Jelena Filipovic, Aktivistin, GSoA-Mitglied und Berner Stadträtin für das Grüne Bündnis