Armeefrage vs. Öffnungsfrage?

Wer für die Öffnung der Schweiz sei, habe am 10. Juni JA gestimmt. Die Einstellung der Stimmenden gegenüber der Armee habe keine Rolle gespielt. Anstatt nach medientauglichen Aussagen zu suchen, hätten die AuswerterInnen der Vox-Analyse zum 10. Juni gut daran getan, ihre eigenen Zahlen etwas genauer anzuschauen sollen

Für einen guten Teil der Schweizer Medien war bereits vor dem 10. Juni klar: Die Opposition gegen das neue Militärgesetz kommt von der nationalkonservativen Seite, das friedenspolitische Referendum ist zu vernachlässigen. Und so haben sie ihre Berichterstattung ausgerichtet, besonders in den Printmedien kam das linke NEIN kaum vor. Die meisten Schweizer Zeitungen nahmen nun die Vox-Analyse der Abstimmungen vom 10. Juni, die anfangs August von der Uni Genf veröffentlicht wurde, als dankbare Bestätigung für ihre These.
Am Abstimmungsergebnis vom 10. Juni ändert die Vox-Studie nichts. Das Referendum gegen die Militärgesetzrevision wurde an der Urne abgelehnt, eine knappe Mehrheit hat den beiden Vorlagen zugestimmt. Unbestritten ist auch, dass sich ein guter Teil der StimmbürgerInnen links der Mitte für die Gesetzesrevision ausgesprochen hat. Angesichts der Heftigkeit des Abstimmungskampfes gerade links der Mitte ist aber von gesteigertem Interesse, welche Interpretation die Vox-Analyse der eidgenössischen Urnengänge vom 10. Juni enthält. Umso ärgerlicher, wenn die vorgelegte Studie inhaltlich schwach ist, falsche Annahmen und Fakten enthält und so zu einem zweifelhaften Ergebnis kommt. Und ebenso ärgerlich, wenn die Medien die Resultate zuspitzen und schliesslich den Eindruck vermitteln: Ein linkes Referendum hat es gar nicht gegeben.

Zahlen sind Glückssache
Die Zeitung «Le Temps» wies in leicht spöttischem Unterton darauf hin, die grünen WählerInnen hätten sich gerade mal zu 11% an die NEIN-Parole ihrer Partei gehalten. Bloss vergass «Le Temps», darauf hinzuweisen, dass die gerade mal neun Befragten (von insgesamt 1018), die sich als grüne WählerInnen bezeichneten, keine statistisch verwertbare Aussage zulassen. In der Vox-Studie stand das zwar in der Fussnote, aber «Le Temps» und auch andere Zeitungen interessierte dies herzlich wenig. Es wäre etwa gleich falsch zu behaupten, wer besser informiert war, hätte vermehrt NEIN gestimmt. Auch für diese Interpretation lassen sich in der Vox-Studie Zahlen finden – nur sind auch diese Unterschiede statistisch nicht aussagekräftig.
Selbst die sonst so präzise «NZZ» verguckte sich bei den Zahlen. Gemäss Vox-Studie hätten 68 Prozent der SP-nahen Befragten JA zur Bewaffnungsvorlage gesagt. Die Studie weist allerdings nur 61 Prozent aus. Der Berner «Bund» schrieb von 78 Prozent der Öffnungswilligen, die gemäss Vox-Befragung JA gestimmt hätten, in Wirklichkeit weist die Analyse 70 Prozent JA-Stimmen aus. Fehler passieren immer. Bemerkenswert ist jedoch, dass alle Abweichungen in der gleichen – politisch gewünschten – Richtung erfolgen.

Widersprüche und sachliche Fehler
«Alle Argumente gegen die Gesetzesrevision kamen von der isolationistischen Rechten, ein Beleg dafür, dass diese die Diskussion während der Kampagne dominierte.» Das steht klipp und klar in der Zusammenfassung «Wichtigste Resultate der Analyse der Eidg. Abstimmung vom 10. Mai (?!!) 2001». Nimmt man sich allerdings die Mühe, auf Seite 23 der Vox-Studie die Argumente gegen die Bewaffnungsvorlage nachzulesen, ergibt sich ein anderes Bild. Bei den Befragten, die NEIN gestimmt haben, fand folgendes Argument die breiteste Zustimmung: «Die Schweiz soll eher einen Beitrag zum Abbau der Konfliktursachen leisten, statt Krisen militärisch zu kontrollieren.» Ein Argument der isolationistischen Rechten? Auch die Nato-Kritik wird ausschliesslich als nationalkonservative Position dargestellt. 36 Prozent der befragten NEIN-Stimmenden gaben gemäss Vox-Studie antimilitaristische und pazifistische Motive für ihre Ablehnung an, nur 28 Prozent verwiesen auf die Neutralität. Ein Beleg dafür, dass die isolationistische Rechte «die Diskussion dominierte»? Sogar bei der Parole der GSoA liegen die Verfasser der Studie falsch: Die GSoA hätte eine Ablehnung zur Bewaffnungsvorlage und die Zustimmung zur Ausbildungszusammenarbeit empfohlen. Nur 4,3 Prozent der Befragten wären dieser Parole gefolgt. Die GSoA hatte jedoch in der gesamten Abstimmungsphase, auf allen Abstimmungszeitungen und allen Plakaten für ein doppeltes NEIN Kampagne gemacht…

Inhaltliche Schwächen
Das Hauptergebnis der Vox-Studie lautet: «Das Stimmverhalten des Einzelnen hängt klar zusammen mit seinen Prioritäten betreffend einerseits die Öffnung oder die Isolation der Schweiz gegen aussen und andererseits die öffnung oder dem Schutz der Traditionen. Hingegen wird das Fehlen einer bedeutenden Beziehung zwischen der Haltung zur Armee und dem Stimmentscheid festgestellt.» Zweifellos: Die Frage der Öffnung der Schweiz war eine zentrale Konfliktlinie. Wobei gerade die Vox-Studie selbst den Stellenwert des Öffnungsargumentes relativiert: Werden die BefürworterInnen der Bewaffnungsvorlage nach ihren Beweggründen befragt, gaben gerade 11 Prozent an, sie würden JA stimmen, weil sie für eine Öffnung der Schweiz seien. Und noch weniger – 7 Prozent der BefürworterInnen – gaben Solidarität mit dem benachbarten Ausland als Zustimmungsgrund an. Der Grossteil der befragten BefürworterInnen nannte als Begründung «Selbstschutz ist notwendig» (90 Prozent). 60 Prozent der BefürworterInnen erklärten sich auch mit folgendem Argument einverstanden: «Unser militärisches Engagement im Ausland ist schliesslich ein Mittel, um den Zustrom von Flüchtlingen in die Schweiz zu reduzieren».
Gleichzeitig gibt es wesentliche Hinweise für eine zweite Konfliktlinie. Wenn das Stimmverhalten zentral mit der Haltung gegenüber «Tradition» zusammenhängen würde – warum fehlt der für diese Situation charakteristische Graben zwischen Stadt und Land, jung und alt oder warum lehnte dann die generell öffnungswilligere Romandie die Vorlag deutlicher ab als die Deutschschweiz? Wenn die Hauptfrage «Öffnung JA oder NEIN?» war und die Haltung zur Armee keine Rolle spielte, warum haben dann mehr FDP- und CVP-nahe Befragte für die Gesetzesrevision gestimmt, als SP-nahe? Sind FDP- und CVP-nahe Befragte plötzlich öffnungswilliger als SP-SympathisantInnen?

Öffnungs- und Armeefrage
Es gibt eine plausible Antwort auf diese Fragen. Die Öffnungsfrage wurde von einer zweiten Konfliktlinie überlagert: Der Armeefrage. In der urbaneren Schweiz, in der Romandie, bei jüngeren Stimmberechtigten und bei SP-nahen Befragten spielte neben ihrer Einstellung zu Tradition auch ihre erhöhte Skepsis gegenüber der Armee eine Rolle. Die Verfasser stützen ihre Aussage, die Einstellung zur Armee habe bei der Stimmentscheidung keine Rolle gespielt, auf folgende Feststellung ab: Wer für eine starke Armee ist, stimmte zu 55 Prozent JA, wer für eine schwache oder keine Armee ist, zu 39 Prozent. Statistisch lässt sich daraus kein klarer Zusammenhang ableiten. Wenn man aber berücksichtigt, dass sowohl die antimilitaristische Linke wie auch die armeefreundliche Nationalkonservative zu einem 2xNEIN aufrief, scheint klar, dass bei einer solchen Ausgangslage kein direkter und unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Einstellung zur Armee und der Stimmentscheidung feststellbar ist. Um dies herauszufinden, wäre keine Vox-Studie notwendig gewesen, ein wenig gesunder Menschenverstand hätte gereicht. Umgekehrt jedoch aus dieser Feststellung zu schliessen, die Armeefrage hätte keine Rolle gespielt und sich einzig auf die Konfliktlinie «Öffnung der Schweiz» einzuschränken, ist hingegen schlicht unseriös.
Die Befragungsergebnisse der Univox-Analyse hätten einige interessante Auswertungen erlaubt. Die Vox-Studie hat sich aber darauf beschränkt, das auszuwerten, was eh schon alle wissen wollten: Die Nationalkonservative war gegen die Militärgesetzrevision. Und das friedenspolitische NEIN schien die Verfasser der Studie wenig zu interessieren.

Motive für ein JA zur Bewaffnungsvorlage am 10. Juni 2001

Der Schutz der Schweizer Soldaten im Ausland ist notwendig 90%
Generelle Zustimmung 20%
Für eine Öffnung der Schweiz gegenüber Uno und EU 11%
Andere Motive 11%
Solidarität mit dem Ausland 7%
Glaubwürdiges Engagement der Schweizer Armee im Ausland 6%
Unklare Motive 5%

(Mehrfachnennungen waren möglich, daher beträgt die Summe mehr als 100%)

 

Motive für ein NEIN zur Bewaffnungsvorlage am 10. Juni 2001

Gegen Auslandeinsätze von Schweizer Soldaten 56%
Antimilitaristische und pazifistische Motive 36%
Für Neutralität, gegen Uno und EU 28%
Generelle Ablehnung 23%
Andere Motive 10%
Finanzielle Argumente 7%
Unklare Motive 3%

(Mehrfachnennungen waren möglich, daher beträgt die Summe mehr als 100%)

Quelle: Vox-Analyse zur Abstimmung vom 10. Juni 2001