Aus dem Leben eines Kriegsverweigerers

Wir befinden uns in einem entlegenen Dorf in der Schweiz, in einem Raum, der speziell für dieses Treffen an einem Januartag 2024 eingerichtet worden war. Uns gegenüber sitzt ein grosser und ziemlich kräftiger Mann, der aber auch sichtlich gestresst wirkt, was er uns auch bestätigt. Der Mann, den wir Davyd nennen, ist ein ukrainischer Flüchtling, der seit 2023 in der Schweiz ist. Davyd ist auch Kriegsdienstverweigerer. Er hat uns kontaktiert, um seine Geschichte und seine Erfahrungen zu teilen. Das tat er auch während der drei Stunden, die unser Gespräch dauerte und während derer wir gemerkt haben, wie gross die Last ist, die er trägt. Der folgende Artikel ist nur eine kurze Zusammenfassung von alledem, was er uns erzählt hat. 

In der Ukraine arbeitete Davyd in einer Firma, bei der er wie seine anderen Kollegen einen Vertrag hatte, in dem stand, er könne nicht mobilisiert werden, da seine Firma in einem systemrelevanten Sektor arbeitete. Er erzählte uns, dass diese Klausel zu Beginn des Konflikts 2014 zwar noch berücksichtigt wurde. Nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022 wurde sie jedoch de facto gegenstandslos: “Die für die Mobilisierung zuständige Stelle der ukrainischen Armee verhält sich seit diesem Zeitpunkt wie eine kriminelle Organisation, wie wenn es keine gesetzlichen Grundlagen mehr gäbe.” Er erzählt uns des Weiteren, dass er und seine Kollegen, von denen viele in die Armee gezwungen wurden, hinters Licht geführt worden waren. “Mein Chef hat mich verpfiffen. Man rief mich an und sagte mir, ich könne entweder freiwillig kommen, oder man käme mich abholen. Ich sagte, ich würde freiwillig kommen, obschon ich ganz und gar nicht vorhatte, hinzugehen.” Denn Davyd hat starke religiöse Überzeugungen und der Militärdienst ist mit seinen Werten nicht zu vereinbaren. So lehnt er es strikt ab, eine Waffe in die Hand zu nehmen, um sie gegen andere Menschen zu verwenden. 

Weiter erzählt er uns, dass er in ein Rekrutierungszentrum gebracht würde, wenn ihn die Armee fände. Dort werden die Männer unter starken psychologischen Druck gesetzt, sie werden während Stunden festgehalten, bis sie ein Dokument unterzeichnen, das besagt, dass sie in die Armee eintreten möchten. An einen solchen Ort wurden viele seiner Arbeitskollegen gebracht, bevor sie an die Front geschickt wurden. Gemäss Davyd “schaffen es nur die psychisch stärksten, das Dokument nicht zu unterschreiben. Aber sie werden bedroht, man sagt ihnen, man werde sie finden.»

Als dies anbahnt, entschied sich Davyd mit seiner Schwester zu fliehen. Er erzählt uns von den Wochen voller Angst, die auf diese Entscheidung folgten, als er die Ukraine durchquerte, um an die Grenze zu gelangen. Eine einfache Identitätskontrolle hätte für Davyd eine Verhaftung bedeutet. Auch musste er während der Reise unauffällig bleiben. So ging er beispielsweise nur nachts einkaufen und versteckte sich bei Freunden. Während dieser Flucht bis zur Grenze lernte Davyd andere Menschen kennen, die ebenfalls vor dem Militärdienst flüchteten, er erzählte uns von der gegenseitigen Unterstützung. Die Regierung missbilligt diese Unterstützung, sie unterdrückt und verhindert jegliche Form der Solidarität zwischen und gegenüber Deserteuren. Davyd war des Weiteren einer Gruppe auf den sozialen Medien beigetreten, wo Deserteure, die fliehen wollten, Tipps austauschen und einander unterstützen konnten. Diese Gruppe wurde jedoch gelöscht, denn es wurde stark davon ausgegangen, dass die Polizei sie infiltriert hatte. Nach vielen Wochen Flucht und starker Belastung, von denen er sich immer noch nicht erholt zu haben scheint, schaffte es Davyd endlich, die Grenze zu überqueren. Von dort ging er dann Richtung Schweiz, wo er seither wohnt. 

Wie die anderen Geflüchteten aus der Ukraine besitzt Davyd einen S-Ausweis. Dieser würde bei Kriegsende seine Gültigkeit verlieren. Dann müsste er also zurück in die Ukraine. Doch er fürchtet, dort verfolgt zu werden. Für ihn ist es somit undenkbar, eines Tages nach Hause zurückzukehren. Deshalb hat er angefangen, die nötigen Schritte zu unternehmen, um einen Aufenthaltstitel zu erhalten, der es ihm ermöglicht, in der Schweiz zu bleiben, auch wenn in der Ukraine wieder Frieden herrscht. So könnte er der Verfolgung in seinem Heimatland entkommen. 

Natürlich ist die Verteidigung der Ukraine gegen den Angriff der russischen Armee völkerrechtlich legitim, das stellt niemand in Frage. Doch auch die Rechte der Kriegsdienstverweiger*innen müssen gewahrt werden. Jemand, dessen Gewissen es ihm oder ihr nicht erlaubt, eine Waffe zu tragen, sollte das nie tun müssen, egal für welches Ziel. Es ist ein natürlicher Instinkt, angeekelt zu sein beim Gedanken, Menschen töten oder verletzen zu wollen. Dieser Instinkt sollte geschützt und geehrt und nicht zerstört werden, wie es die Armeen dieser Welt tun wollen.