Bürger*innendienst: Ein Vorschlag zum Vergessen

Im Jahr 2021 plant der Verein «Service Citoyen» eine Volksinitiative für einen obligatorischen
«Bürgerdienst» zu lancieren. Auf den ersten Blick scheint der Vorschlag sympathisch zu
sein, bei genauerem Hinsehen jedoch merkt man: Diese Initiative stärkt die Armee und
führt zu Lohndumping. Und sie verstösst gegen den UN-Menschenrechtspakt.

Wer findet den Vorschlag nicht sympathisch, anstelle der obligatorischen Männer-Wehrpflicht einen Dienst einzuführen, der allen Geschlechtern offensteht und bei dem verschiedene Formen des «Milizengagements» angerechnet werden können? Auf den ersten Blick wohl niemand. Und wer findet es sympathisch, einen Zwangsdienst für alle jungen Menschen einzuführen, der schlecht bezahlt wird und dazu führt, dass man seine Aus- und Weiterbildung verschieben und an der Ausübung der ganz persönlichen freiwillig-ehrenamtlichen Tätigkeiten gehindert wird? Wohl niemand. Doch beide Vorschläge entsprechen – unterschiedlich formuliert – der gleichen Idee: Der Einführung eines obligatorischen Bürger*innendienstes. Man soll der Gesellschaft mit einem «Dienst an der Allgemeinheit» etwas zurückgeben, wird oft gesagt. Doch vergessen geht dabei, dass man auch als politische Aktivistin, als engagierter Enkel oder als soziale Unternehmerin etwas zum gesellschaftlichen Wohl beiträgt. Die Idee des Bürger*innendienstes erinnert an den Ablasshandel aus dem Mittelalter: Mit einem Dienstjahr wäscht man sich rein, um dann das gesamte Leben die Interessen der Gesamtgesellschaft ignorieren zu können.

LOHNDUMPING-INITIATIVE

Die neoliberale Organisation Avenir Suisse steht seit Jahren hinter der Bürger*innendienst-Idee. Kein Wunder: Mit einem Bürger*innendienst liessen sich abertausende schlecht bezahlte Zwangs-Jobs in Bildungsinstitutionen oder dem Pflegebereich schaffen. Echte Investitionen und gute Löhne in diesen Bereichen blieben auf der Strecke. Jahr für Jahr sollen neu um die 80’000 junge Menschen für einen «Dienst an der Gesellschaft» eingeteilt werden, wobei ungefähr 20’000 Personen gemäss Initiativtext zwingend zur Armee müssen. Der grosse Rest soll aber neu einen nicht näher definierten «Milizdienst» leisten. Für eine solch grosse Anzahl Menschen ist es eine immense Herausforderung, geeignete Einsatzstellen zu finden. Das Risiko ist darum enorm, dass in Bereichen, in denen es schon heutzutage an Personal mangelt, dieser Personalnotstand mit schlecht bezahlten und kaum ausgebildeten jungen Menschen gefüllt wird. Das setzt die dort bezahlten Löhne weiter unter Druck und führt zu Lohndumping. Weshalb sollte eine Spitaldirektorin einen Pfleger für 7000 Franken anstellen, wenn es auch Zwangs-Verpflichtete aus dem Bürger*innendienst-Pool gibt?

PRO-ARMEE-VORSCHLAG

Wenn man sich den vorgeschlagenen Initiativtext der Bürger*innendienst-Volksinitiative genau anschaut, merkt man schnell: Das Prinzip eines unnötigen Massenheeres wird mit diesem Vorschlag zementiert. Wortwörtlich steht im Initiativtext: «Der Sollbestand […] ist garantiert; dies betrifft insbesondere die Armee.» Aktuell ist der Sollbestand der Armee bei 100’000 Soldaten, der Effektivbestand bei 140’000. Dieses Prinzip eines milliardenteuren Massenheeres wird mit der Bürger*innendienst- Initiative zementiert. Eine Wahl zwischen Militärdienst und Dienst in der Gesellschaft ist nicht vorgesehen. Der Spielraum für tiefgreifende Armeereformen würde bei einer Annahme der Initiative kleiner, die Armee würde gestärkt.

INITIATIVE SCHWÄCHT FREIWILLIGEN-ENGAGEMENT UND CARE-ARBEIT

Eine der grossen Diskussionen unserer Zeit ist die Care-Arbeit, die überproportional von Frauen geleistet wird. Ziel soll nicht sein, sämtliche Care-Tätigkeiten finanziell zu entschädigen, doch sollten wir diese Arbeit gerecht in der Gesellschaft verteilen. Und sie soll den Stellenwert erhalten, den sie verdient – schliesslich bilden die Pflege und Betreuung von Kindern und gebrechlichen oder kranken Menschen, die Gesundheitsversorgung und das Bereitstellen von Nahrung, Sicherheit, Hygiene und Geborgenheit die Grundbasis unserer Gesellschaft. Die Idee von Service Citoyen, einen obligatorischen Dienst einzuführen, greift diese Leistungen aber an, anstelle sie zu stärken. Eine Leistung als gesellschaftlichen Dienst anzuerkennen, kann zwar tatsächlich zu einer symbolischen Aufwertung dieser Leistung führen. Ein Obligatorium aber würde das Gegenteil bewirken: Ein Zwangs-Dienst würde – wie die Männer-Wehrpflicht auch – die Menschen einschränken, Care-Tätigkeiten freiwillig zu übernehmen. Ein Anreizsystem für «mehr gegenseitige Hilfe und Solidarität», wie Service Citoyen es erreichen möchte, ist eine allgemeine Dienstpflicht nicht. Neben einer Zuspitzung der Care-Krise hätte ein obligatorischer Milizdienst auch fatale Auswirkungen auf sonstiges freiwilliges Engagement, das viele junge Menschen leisten. Denn: Was würde überhaupt als dem «Bürgerdienst» anrechenbare «Milizarbeit» gelten? Diese Definition soll das bürgerlich geprägte Parlament übernehmen. Das ist fatal, denn es wäre davon auszugehen, dass am Schluss weder das Engagement bei der Klimajugend noch die regelmässige Organisation eines Jass-Turniers im Dorf als Milizarbeit zählt. Der Besuch beim Grosi, das Engagement für Urban Gardening oder das Gassi-Gehen mit einem Hund aus dem Tierheim: All das würde aller Voraussicht nach nicht als Milizarbeit gezählt – die Wertschätzung, die sie verdienen, blieben diesen Leistungen weiterhin verwehrt. Und wegen dem Bürger*innendienst hätten junge Menschen weniger Zeit, diese Engagements wahrzunehmen. Ihre Arbeitskraft würde vielmehr missbraucht werden, um politisch gewollte Lücken in Tieflohnbereichen im Arbeitsmarkt zu füllen.

INITIATIVE VERSTÖSST GEGEN VÖLKERRECHT

Zu guter Letzt sollte eine Tatsache sämtlichen Vorschlägen für einen Bürger*innendienst ein Ende bereiten: Ein Zwangsdienst für Bürgerinnen und Bürger widerspricht dem Zwangsarbeitsverbot des UN-Menschrechtspakts. Eine Ausnahme dafür bildet bis heute – leider – der Militärdienst, wobei das Angebot eines zivilen Ersatzdienstes zum Militärdienst Pflicht ist. Doch ein Bürger*innendienst, wie ihn die Volksinitiative vorsieht, ist kein ziviler Ersatzdienst zur Wehrpflicht. Er zwingt vielmehr um die 80’000 junge Menschen pro Jahr, zu tiefen Löhnen und wohl an vielen fragwürdigen Einsatzstellen einen «Dienst an der Allgemeinheit» zu leisten. Der emeritierte Völkerrechtsprofessor Rainer J. Schweizer lässt sich bei swissinfo.ch denn auch folgendermassen zitieren: «Mit einem Bürgerdienst Lücken füllen zu wollen in Bereichen, in denen Manpower fehlt, da habe ich Bedenken.» Diese Bedenken sind ernst zu nehmen. Denn anstatt mit einer Männer-Wehrpflicht oder einem allgemeinen Zwangsdienst junge Menschen in ihren Freiheiten einzuschränken, wäre ein freiwilliger Zivildienst eine viel bessere Option für unsere Gesellschaft. Diejenigen, die nicht schon privat viel ehrenamtliches Engagement leisten, sollen die Möglichkeit haben, ein soziales Jahr zu leisten. Unser Nachbarstaat Deutschland beweist, dass sich dafür problemlos genügend Leute finden. Ein solches institutionalisiertes Freiwilligen-Engagement würde auch viel besser zum freiwilligen Miliz-Engagement der Schweiz passen, das – mit Ausnahme der Wehrpflicht – schon immer ohne Zwang gut funktioniert hat.

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