Der letzte Angriffskrieg der Schweiz

Vor genau 200 Jahren führte die Schweiz ihren letzten Angriffskrieg. Der Jahrestag des damaligen Kriegszugs gegen Frankreich sollte heute mindestens so viel zu denken geben wie derjenige der Schlacht von Marignano.

Die SVP-Interpretation der Schlacht von Marignano als Geburtsstunde der Schweizer Neutralität steht im Gegensatz zur historischen Realität und ist ein Mythos. Die Interpretation widerspricht aber auch komplett dem Verhältnis der geistigen Väter der Bürgerlichen zur Neutralität.

Die Konservativen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts hatten eine sehr viel selektivere Einstellung zur Neutralität. Für sie war ein Angriffskrieg durchaus eine Option, wenn sich die Gelegenheit bot. Einige Beispiele: Noch im Ersten Weltkrieg gab es in der Armee Überlegungen, die Schwäche Italiens zu nutzen und das Veltlin zurückzuerobern. Während des Savoyerhandels von 1860 war es nur besonnenen Ostschweizer Parlamentariern zu verdanken, dass die Schweiz nicht das Chablais auf der Südseite des Genfersees zu erobern versuchte.

Besonders weit trieb es Niklaus Franz Bachmann, der erste General der Schweiz. Der frühere Söldner in französischen Diensten und konservative Gegner der Französischen Revolution war nach der Rückkehr von Napoleon Bonaparte im Jahr 1815, vor genau 200 Jahren, zum Oberkommandierenden der Schweizer Truppen ernannt worden. Mit einem Heer von 20’000 Mann marschierte er kurzerhand in die Freigrafschaft Burgund ein und nahm Pontarlier sowie zwei französische Festungen ein. Um die Neutralitätsverletzung auf die Spitze zu treiben, verbündete er sich bei seinem Vorstoss mit der österreichischen Armee, die ebenfalls gegen Napoleon ins Feld zog. Der Angriff auf Frankreich wurde jedoch zum Debakel: Die Soldaten meuterten, weil sie zuhause die Ernte einbringen mussten, die Offiziere zerstritten sich und die Logistik brach zusammen. Seither hat nie mehr eine Schweizer Streitmacht ein anderes Land attackiert. Man mag bedauern, wie weit verbreitet die ahistorische Vorstellung ist, dass die Schweizer Neutralität mit der Schlacht von Marignano ihren Anfang genommen hätte. Gleichzeitig hat die Wirkungsmächtigkeit dieses Ende des 19. Jahrhunderts erfundenen Mythos auch etwas Gutes an sich: Andere Länder nehmen mittelalterliche Kriege zum Anlass, Ressentiments gegen die Gegner zu pflegen, oder sie wollen die damals verlorene Ehre oder die abgetretenen Gebiete mit militärischen Mitteln zurückholen. Davon sind wir in der Schweiz glücklicherweise verschont. Wenn der Preis für die Abwesenheit eines aggressiven Militarismus ist, dass die Nationalkonservativen sich eine eigene Geschichtsschreibung rund um die Neutralität konstruieren müssen, kann man ihnen ihre Mythen gerne lassen. Dabei sollte allerdings die Erinnerung an die sinnlosen kriegerischen Abenteuer wie den Burgunderfeldzug oder den Savoyerhandel nicht vergessen gehen, in welche die Militärköpfe die Schweiz zu stürzen versuchten.

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