Erneuerung des militärischen Denkens?

Die Kontinuität der NATO-Strategien über den immer wieder beschworenen Umbruch von 1989 hinaus wird unterschätzt. Umgekehrt wird – selbst innerhalb der Friedensbewegung – der Bruch im pazifistischen Denken überbetont. Andreas Zumach, in den 80er Jahren Aktivist in der deutschen Friedensbewegung und seit 1988 Korrespondent für verschiedene deutsche und schweizerische Zeitungen bei der UNO in Genf, analysierte in Le Bémont den Erfolg der NATO, der auf Kosten der UNO, der OSZE und ziviler Friedensintervention geht.

Für meinen Vortrag wurde mir ein Thema vorgegeben: die Erneuerung des militärischen Denkens. Ich halte diesen Begriff für problematisch, weil ich bezweifle, dass das militärische Denken jemals veraltet war. Sicher: Seit 1989 wird von einer grossen Wende, einer Stunde Null geredet. Neue Konflikte erfordern neue Antworten, heisst es. Und umgekehrt ist bis tief in die Friedensbewegung hinein der Eindruck entstanden, die alternativen Handlungskonzepte der kritischen Friedensforschung und der Friedensbewegung seien seit 1989 unbrauchbar geworden. Daran schliesst oft die Behauptung an, der Pazifismus sei endgültig überholt.

Eurozentrismus und statisches Denken

Diese (Selbst-)Wahrnehmung ist erstens eine sehr eurozentristische Sichtweise der Dinge. Ein deutliches Beispiel hierfür ist die Argumentation des grünen Politikers Joschka Fischer. In seinem berühmt-berüchtigten Brief vom 30. Juli 1995 versuchte Fischer gezielt, die Friedensbewegung und den Pazifismus mit dem Hinweis auf Srebrenica bzw. auf die angebliche Notwendigkeit von militärischen Interventionen zu verabschieden. Zuerst argumentierte Fischer grundsätzlich, wenn Völkermord drohe und es keine anderen Mittel mehr gebe, müsse auch mit militärischen Mitteln interveniert werden. In einem zweiten Teil des Briefes verneinte er hinsichtlich früherer Konflikte, etwa in Afghanistan oder Bangladesch, die Notwendigkeit einer Intervention. Eine solche sei aber angesichts des Konfliktes in Jugoslawien nötig, «der eine Bedrohung für uns alle darstellt», so Fischer wörtlich. Ein schlagendes Beispiel für Eurozentrismus. Fischer betrachtete die Geschehnisse im ehemaligen Jugoslawien als Ausdruck neuartiger Konfliktformen und liess ausser Acht, dass ähnliche innerstaatliche und ethnisch motivierte Konflikte seit 1945 in Afrika, Asien und in Lateinamerika stattgefunden haben.
Die Behauptung, 1989 habe alles verändert, ist nur schon deshalb eurozentristisch, weil für 80 Prozent der Menschheit sich mit dem Fall der Berliner Mauer eben nichts Wesentliches verändert hat. Zwar konnten einige im Sinne des Ost-West-Gegensatzes funktionalisierte Konflikte beigelegt werden. Aber die wirtschaftliche Ausbeutung des Südens durch den Norden und die ökologischen Probleme im Süden haben sich seit der grossen Wende in Europa eher noch verschärft.
Die Vorstellung vom grossen Umbruch beruht zweitens auf der Idee, es gebe Zeitpunkte in der Geschichte, an denen sich die Dinge ganz grundsätzlich änderten, mit anderen Worten: auf einem statischen Geschichtsbild, in dem Stabilität der Normalfall ist. Daher hat diese Vorstellung in ganz Europa die grosse Hoffnung geweckt, nun seien Abrüstung, weniger Militärausgaben und der Übergang zu einer friedlicheren und gerechteren Welt möglich geworden. Um so grösser ist inzwischen die Enttäuschung.

Neue Weltordnung

Der Chef der OSZE-Mission in Sarajevo, Robert Frowick, hat kürzlich in einem internen Vortrag unter Verweis auf den Jugoslawien-Konflikt gesagt, UNO und EU hätten völlig versagt. Nur die Militärmacht der NATO habe das Problem lösen können. NATO-Interventionen sollten zum zukünftigen Modell in Europa und darüber hinaus werden. Das sei übrigens nichts neues, fügte Frowick an. Bereits 1983, auf dem Höhepunkt der Krise um die Mittelstreckenraketen, habe die NATO-Verteidigungsministertagung «Out of Area-Einsätze» diskutiert und geplant. Diese Absprachen wurden angesichts der angespannten innenpolitischen Situation in den Bündnisländern unter Verschluss gehalten. Sie haben aber 1990 die schnelle Intervention der Allianz im Golf ermöglicht.
Nach dem Golfkrieg und dem bisherigen Verlauf der Jugoslawienkriege lässt sich sagen: Es gibt eine neue Weltordnung, allerdings nicht im Sinne der 1989 entstandenen Friedenshoffnungen, sondern so wie sie von George Bush gewollt war. Die Vormachtstellung der USA gegenüber Russland und gegenüber Europa hat sich verstärkt. Gleichzeitig wurden alle multilateralen Ansätze und Organisationen, die zumindest theoretisch zur Bearbeitung von Konflikten in Frage kommen (UNO, OSZE) erheblich geschwächt. Es gibt eine These, die behauptet, der Jugoslawien-Konflikt sei gezielt dazu eingesetzt worden, um die UNO zu schwächen und die NATO neu zu legitimieren. Unabhängig davon, ob diese These stimmt oder nicht: Genau das ist eingetreten.
Bereits im Herbst 1993 beschrieb ein damals geheimes Dokument des Militärausschusses der NATO (mit dem Titel «Military Comitee 327») die künftige Rollen- und Aufgabenverteilung zwischen UNO und NATO. Erstere, so steht darin, solle keine eigenständige Handlungsfähigkeit auf dem Gebiet friedenserhaltender oder friedenserzwingender Massnahmen haben. Der Sicherheitsrat der UNO solle künftig entsprechende Aufträge der NATO erteilen, welche dann darüber entscheide, ob sie den Auftrag annehme. In diesem Fall solle sie das volle Kommando über die Operation übernehmen. Insbesondere solle die NATO eigenständig über Aufklärungsergebnisse verfügen, Eskalationsschritte entscheiden (etwa hin zu aktiver Kriegführung) und die Beendigung einer solchen Operation beschliessen können.

Entmachtung der UNO

1993 wurde dieses Dokument bewusst nicht veröffentlicht. Inzwischen ist die Situation für die Durchsetzung dieser Pläne reif, was wesentlich dem Konflikt im ehemaligen Jugoslawien zu verdanken ist. In dessen Gefolge wurde der UNO systematisch Versagen und Handlungsunfähigkeit vorgeworfen und die NATO als Alternative propagiert. Heute sind die in diesem Dokument gemachten Vorschläge in den groben Linien umgesetzt. 
Auch die OSZE wurde aus dem Konflikt in Jugoslawien herausgehalten, weil vor allem die westeuropäischen Regierungen und Washington es so wollten. Damit wurde die Chance vertan, diesen Konflikt gemeinsam mit osteuropäischen Ländern zu bearbeiten, die wichtige Beiträge zu einer Konfliktdeeskalation hätten machen können. Es ist zu befürchten, dass in den kommenden bosnischen Wahlen die nationalistischen Strukturen bestätigen werden, was bald zu erneuten bewaffneten Konflikten führen könnte. Sicherlich wird dann der OSZE die Schuld dafür zugeschoben werden.

Weltweite Interventionsmacht

Die Neudefinition der NATO beinhaltet die systematische Vorbereitung auf eine weltweite Operations- und Interventionsfähigkeit. Die Brisanz der dahingehenden Beschlüsse der Berliner NATO-Aussenminister-Tagung vom letzten Juni wurden allerdings zumindest in der deutschen Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Tatsache ist, dass sowohl bei der künftigen Bewaffnung der NATO-Mitgliedstaaten als auch bei der Strukturierung der Streitkräfte und bei der Neugliederung der Kommandostrukturen alles auf grössere Flexibilität, Beweglichkeit und weltweite Einsatzfähigkeit ausgerichtet wird.
Dies konnte bisher so ungestört funktionieren, weil diese Strategie in der offiziellen Sprachregelung mit dem Begriff der humanitären Intervention begründet wird. Und humanitäre Interventionen sind seit dem Jugoslawien-Konflikt in einer breiten Öffentlichkeit akzeptiert. Eine wichtige Rolle hat in diesem Zusammenhang Srebrenica gespielt, das bis weit in die Reihen der Friedensbewegung hinein ein Wendepunkt war. Das ist deswegen so absurd, weil in Srebrenica keineswegs alle zivilen Konfliktlösungsinstrumente versagt haben. Gerade weil diese zivilen Instrumente gar nie eingesetzt wurden, hätte nur noch eine militärische Intervention den Völkermord verhindern können. Und nicht interveniert wurde – weder zivil noch militärisch – weil die Vertreibung der 30000 MuslimInnen eine abgesprochene Angelegenheit zwischen Belgrad, Pale und den Regierungen der fünf Kontaktgruppenstaaten war.
Genauso wie der Blitzkrieg Kroatiens zur Vertreibung der SerbInnen aus der Krajina war Srebrenica eine notwendigen Voraussetzung zur Schaffung möglichst homogener ethnischer Gebiete und damit für den Friedensvertrag von Dayton. Darum ist es so ärgerlich, das sich die deutsche Friedensbewegung an dieser Frage gespalten hat und seitdem eine Pazifismusdiskussion führt, die nur noch lähmt und Handlungsfähigkeit zerstört.

Pazifistische Glaubwürdigkeit

Die Glaubwürdigkeit von PazifistInnen hängt nach wie vor nicht davon ab, ob sie für alle denkbaren Umstände die Anwendung von Gewalt grundsätzlich ausschliessen. Pazifistische Glaubwürdigkeit kann vielmehr nur aus dem politisch phantasievollen Engagement für den Einsatz gewaltfreier Mittel zur Konfliktbearbeitung entstehen, und zwar in allen Phasen der Konfliktprävention, Konfliktdeeskalation und der Versöhnungsarbeit. Diese Mittel haben bisher noch nie in grossem Massstab versagt, allein schon deswegen, weil nichtmilitärische und gewaltfreie Instrumente der Konfliktbearbeitung bisher nirgendwo ernsthaft, rechtzeitig und mit dem Einsatz der entsprechenden Ressourcen versucht wurden. Im ehemaligen Jugoslawien haben zwar Friedensinitiativen, Frauengruppen und Menschenrechtsorganisationen rechtzeitig Forderungen zur Stärkung demokratischer, nichtnationalistischer Oppositionskräfte und Medien in allen Republiken des ehemaligen Jugoslawiens erhoben. Es ist aber nicht gelungen, diese Forderungen auf der Regierungsebene durchzusetzen. Darin liegt das Versagen der PazifistInnen. Das heisst aber nicht, dass der Pazifismus als solcher oder dass die Instrumente des Pazifismus versagt hätten.
Ob sich PazifistInnen über den unbedingten Einsatz für nichtmilitärische Konfliktmittel hinaus auch noch an einer Debatte über die Notwendigkeit von militärischen Instrumenten in bestimmten Situationen beteiligen, ist ebenfalls keine Frage der pazfistischen Glaubwürdigkeit. Allerdings sollten sie es tun, weil sonst die NATO und die Regierungen des Nordens alleine darüber bestimmen, welche Mittel unter welchen Bedinungen zu welchem Zweck eingesetzt werden.

Keine Chance für die UNO?

Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich erneut Situationen ergeben, in denen zivile Konfliktbearbeitungsmittel nicht genügen (beispielsweise, weil sie nicht rechtzeitig und nicht genügend entschlissen eingesetzt wurden). Zur Verhinderung von Völkermord und ähnlich schweren Kriegsverbrechen könnte der begrenzte und klar definierte Einsatz von militärischen Instrumenten vielleicht unumgänglich sein. Voraussetzung für dieses «kleinere Übel» ist aber die Abschaffung der nationalen Verfügungsgewalt über Militär. Solange Armeen als Ausdruck staatlicher Souveränität betrachtet werden, werden sie immer auch im Interesse von Staaten oder Staatenbündnissen eingesetzt werden. Die UNO ist heute in ihrem geschwächten und beschädigten Zustand wenig mehr als ein Mäntelchen, das die Interessen des Nordens oder der USA etwas multilateraler erscheinen lässt. Dennoch besteht die einzige vernünftige Perspektive in einer politisch und organisatorisch reformierten UNO, welche allein über militärische Instrumente verfügt.
Mittelfristig stehen hierfür die Chancen gar nicht so schlecht, wie es heute erscheinen mag. Die globale Vormachtstellung der USA wird in absehbarer Zeit geschwächt werden: erstens wegen ihrer inneren ökonomischen und sozialen Probleme, zweitens wegen des Aufstiegs neuer Machtzentren in Asien und drittens – zumindest partiell – wegen der Entwicklungen in Osteuropa und in der GUS. Möglicherweise wird auch die NATO in nächster Zeit einen Imageverlust erleiden. Ihre IFOR-Truppen im ehemaligen Jugoslawien haben heute ähnliche Probleme wie zuvor die UNPROFOR-Einheiten. Derzeit wird natürlich alles dafür getan, dass der IFOR-Einsatz mindestens bis zu den Wahlen in den USA wie eine Erfolgsstory aussieht. Wenn aber die Konflikte nach dem Abzug der amerikanischen Truppen erneut wieder offen ausbrechen, wird sich das positive Image der NATO relativieren.

 

Das Referat von Andreas Zumach wurde auf Tonband aufgezeichnet und von Nico Lutz und Hans Hartmann redaktionell bearbeitet.

Macht des Faktischen

Gut zwanzig GSoAtInnen trafen sich am 24. und 25. August in Le Bémont zu einem Diskussionsseminar mit dem Titel: «Europa ohne Armeen denken». Die Macht des Faktischen lenkte unsere Gedanken aber schon bald auf das bestehende Europa, in dem sich die arbeitslosen Armeen auf die Suche nach neuen Einsatzprogrammen begeben haben. Die Vorreiterrolle der NATO belegte Andreas Zumach eindrücklich in seinem Referat.
Stoff zur Kontroverse lieferte Hans-Joachim Giessmanns Vorstellung des Modells einer Europäischen Sicherheitsgemeinschaft. Wer das Modell einer ESG wie durchsetzen könnte, wo die demokratischen Kontrolle bleibe, ob eine ESG sich schlimmstenfalls zur kontinentalen Supermacht entwickeln würde und weitere Bedenken konnten in der zur Verfügung stehenden Zeit nicht ausgeräumt werden. Als fundierte Kritik an den strukturellen Mängeln der bestehenden militärischen Strukturen in Europa und als substantielle Anregung zu einer zukunftsträchtigeren Sicherheits- und Friedensordnung vermittelte der Vortrag aber wertvolle Impulse. Am Sonntag beschäftigten wir uns abschliessend mit den Auswirkungen der europäischen Sicherheitspolitik auf die verschiedenen Strömungen im Lager der einheimischen Armeebefürworter. Darüber mehr in der nächsten GSoA-Zitig.

Die Kontinuität der NATO-Strategien über den immer wieder beschworenen Umbruch von 1989 hinaus wird unterschätzt. Umgekehrt wird – selbst innerhalb der Friedensbewegung – der Bruch im pazifistischen Denken überbetont. Andreas Zumach, in den 80er Jahren Aktivist in der deutschen Friedensbewegung und seit 1988 Korrespondent für verschiedene deutsche und schweizerische Zeitungen bei der UNO in Genf, analysierte in Le Bémont den Erfolg der NATO, der auf Kosten der UNO, der OSZE und ziviler Friedensintervention geht.

Für meinen Vortrag wurde mir ein Thema vorgegeben: die Erneuerung des militärischen Denkens. Ich halte diesen Begriff für problematisch, weil ich bezweifle, dass das militärische Denken jemals veraltet war. Sicher: Seit 1989 wird von einer grossen Wende, einer Stunde Null geredet. Neue Konflikte erfordern neue Antworten, heisst es. Und umgekehrt ist bis tief in die Friedensbewegung hinein der Eindruck entstanden, die alternativen Handlungskonzepte der kritischen Friedensforschung und der Friedensbewegung seien seit 1989 unbrauchbar geworden. Daran schliesst oft die Behauptung an, der Pazifismus sei endgültig überholt.

Eurozentrismus und statisches Denken

Diese (Selbst-)Wahrnehmung ist erstens eine sehr eurozentristische Sichtweise der Dinge. Ein deutliches Beispiel hierfür ist die Argumentation des grünen Politikers Joschka Fischer. In seinem berühmt-berüchtigten Brief vom 30. Juli 1995 versuchte Fischer gezielt, die Friedensbewegung und den Pazifismus mit dem Hinweis auf Srebrenica bzw. auf die angebliche Notwendigkeit von militärischen Interventionen zu verabschieden. Zuerst argumentierte Fischer grundsätzlich, wenn Völkermord drohe und es keine anderen Mittel mehr gebe, müsse auch mit militärischen Mitteln interveniert werden. In einem zweiten Teil des Briefes verneinte er hinsichtlich früherer Konflikte, etwa in Afghanistan oder Bangladesch, die Notwendigkeit einer Intervention. Eine solche sei aber angesichts des Konfliktes in Jugoslawien nötig, «der eine Bedrohung für uns alle darstellt», so Fischer wörtlich. Ein schlagendes Beispiel für Eurozentrismus. Fischer betrachtete die Geschehnisse im ehemaligen Jugoslawien als Ausdruck neuartiger Konfliktformen und liess ausser Acht, dass ähnliche innerstaatliche und ethnisch motivierte Konflikte seit 1945 in Afrika, Asien und in Lateinamerika stattgefunden haben.
Die Behauptung, 1989 habe alles verändert, ist nur schon deshalb eurozentristisch, weil für 80 Prozent der Menschheit sich mit dem Fall der Berliner Mauer eben nichts Wesentliches verändert hat. Zwar konnten einige im Sinne des Ost-West-Gegensatzes funktionalisierte Konflikte beigelegt werden. Aber die wirtschaftliche Ausbeutung des Südens durch den Norden und die ökologischen Probleme im Süden haben sich seit der grossen Wende in Europa eher noch verschärft.
Die Vorstellung vom grossen Umbruch beruht zweitens auf der Idee, es gebe Zeitpunkte in der Geschichte, an denen sich die Dinge ganz grundsätzlich änderten, mit anderen Worten: auf einem statischen Geschichtsbild, in dem Stabilität der Normalfall ist. Daher hat diese Vorstellung in ganz Europa die grosse Hoffnung geweckt, nun seien Abrüstung, weniger Militärausgaben und der Übergang zu einer friedlicheren und gerechteren Welt möglich geworden. Um so grösser ist inzwischen die Enttäuschung.

Neue Weltordnung

Der Chef der OSZE-Mission in Sarajevo, Robert Frowick, hat kürzlich in einem internen Vortrag unter Verweis auf den Jugoslawien-Konflikt gesagt, UNO und EU hätten völlig versagt. Nur die Militärmacht der NATO habe das Problem lösen können. NATO-Interventionen sollten zum zukünftigen Modell in Europa und darüber hinaus werden. Das sei übrigens nichts neues, fügte Frowick an. Bereits 1983, auf dem Höhepunkt der Krise um die Mittelstreckenraketen, habe die NATO-Verteidigungsministertagung «Out of Area-Einsätze» diskutiert und geplant. Diese Absprachen wurden angesichts der angespannten innenpolitischen Situation in den Bündnisländern unter Verschluss gehalten. Sie haben aber 1990 die schnelle Intervention der Allianz im Golf ermöglicht.
Nach dem Golfkrieg und dem bisherigen Verlauf der Jugoslawienkriege lässt sich sagen: Es gibt eine neue Weltordnung, allerdings nicht im Sinne der 1989 entstandenen Friedenshoffnungen, sondern so wie sie von George Bush gewollt war. Die Vormachtstellung der USA gegenüber Russland und gegenüber Europa hat sich verstärkt. Gleichzeitig wurden alle multilateralen Ansätze und Organisationen, die zumindest theoretisch zur Bearbeitung von Konflikten in Frage kommen (UNO, OSZE) erheblich geschwächt. Es gibt eine These, die behauptet, der Jugoslawien-Konflikt sei gezielt dazu eingesetzt worden, um die UNO zu schwächen und die NATO neu zu legitimieren. Unabhängig davon, ob diese These stimmt oder nicht: Genau das ist eingetreten.
Bereits im Herbst 1993 beschrieb ein damals geheimes Dokument des Militärausschusses der NATO (mit dem Titel «Military Comitee 327») die künftige Rollen- und Aufgabenverteilung zwischen UNO und NATO. Erstere, so steht darin, solle keine eigenständige Handlungsfähigkeit auf dem Gebiet friedenserhaltender oder friedenserzwingender Massnahmen haben. Der Sicherheitsrat der UNO solle künftig entsprechende Aufträge der NATO erteilen, welche dann darüber entscheide, ob sie den Auftrag annehme. In diesem Fall solle sie das volle Kommando über die Operation übernehmen. Insbesondere solle die NATO eigenständig über Aufklärungsergebnisse verfügen, Eskalationsschritte entscheiden (etwa hin zu aktiver Kriegführung) und die Beendigung einer solchen Operation beschliessen können.

Entmachtung der UNO

1993 wurde dieses Dokument bewusst nicht veröffentlicht. Inzwischen ist die Situation für die Durchsetzung dieser Pläne reif, was wesentlich dem Konflikt im ehemaligen Jugoslawien zu verdanken ist. In dessen Gefolge wurde der UNO systematisch Versagen und Handlungsunfähigkeit vorgeworfen und die NATO als Alternative propagiert. Heute sind die in diesem Dokument gemachten Vorschläge in den groben Linien umgesetzt. 
Auch die OSZE wurde aus dem Konflikt in Jugoslawien herausgehalten, weil vor allem die westeuropäischen Regierungen und Washington es so wollten. Damit wurde die Chance vertan, diesen Konflikt gemeinsam mit osteuropäischen Ländern zu bearbeiten, die wichtige Beiträge zu einer Konfliktdeeskalation hätten machen können. Es ist zu befürchten, dass in den kommenden bosnischen Wahlen die nationalistischen Strukturen bestätigen werden, was bald zu erneuten bewaffneten Konflikten führen könnte. Sicherlich wird dann der OSZE die Schuld dafür zugeschoben werden.

Weltweite Interventionsmacht

Die Neudefinition der NATO beinhaltet die systematische Vorbereitung auf eine weltweite Operations- und Interventionsfähigkeit. Die Brisanz der dahingehenden Beschlüsse der Berliner NATO-Aussenminister-Tagung vom letzten Juni wurden allerdings zumindest in der deutschen Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Tatsache ist, dass sowohl bei der künftigen Bewaffnung der NATO-Mitgliedstaaten als auch bei der Strukturierung der Streitkräfte und bei der Neugliederung der Kommandostrukturen alles auf grössere Flexibilität, Beweglichkeit und weltweite Einsatzfähigkeit ausgerichtet wird.
Dies konnte bisher so ungestört funktionieren, weil diese Strategie in der offiziellen Sprachregelung mit dem Begriff der humanitären Intervention begründet wird. Und humanitäre Interventionen sind seit dem Jugoslawien-Konflikt in einer breiten Öffentlichkeit akzeptiert. Eine wichtige Rolle hat in diesem Zusammenhang Srebrenica gespielt, das bis weit in die Reihen der Friedensbewegung hinein ein Wendepunkt war. Das ist deswegen so absurd, weil in Srebrenica keineswegs alle zivilen Konfliktlösungsinstrumente versagt haben. Gerade weil diese zivilen Instrumente gar nie eingesetzt wurden, hätte nur noch eine militärische Intervention den Völkermord verhindern können. Und nicht interveniert wurde – weder zivil noch militärisch – weil die Vertreibung der 30000 MuslimInnen eine abgesprochene Angelegenheit zwischen Belgrad, Pale und den Regierungen der fünf Kontaktgruppenstaaten war.
Genauso wie der Blitzkrieg Kroatiens zur Vertreibung der SerbInnen aus der Krajina war Srebrenica eine notwendigen Voraussetzung zur Schaffung möglichst homogener ethnischer Gebiete und damit für den Friedensvertrag von Dayton. Darum ist es so ärgerlich, das sich die deutsche Friedensbewegung an dieser Frage gespalten hat und seitdem eine Pazifismusdiskussion führt, die nur noch lähmt und Handlungsfähigkeit zerstört.

Pazifistische Glaubwürdigkeit

Die Glaubwürdigkeit von PazifistInnen hängt nach wie vor nicht davon ab, ob sie für alle denkbaren Umstände die Anwendung von Gewalt grundsätzlich ausschliessen. Pazifistische Glaubwürdigkeit kann vielmehr nur aus dem politisch phantasievollen Engagement für den Einsatz gewaltfreier Mittel zur Konfliktbearbeitung entstehen, und zwar in allen Phasen der Konfliktprävention, Konfliktdeeskalation und der Versöhnungsarbeit. Diese Mittel haben bisher noch nie in grossem Massstab versagt, allein schon deswegen, weil nichtmilitärische und gewaltfreie Instrumente der Konfliktbearbeitung bisher nirgendwo ernsthaft, rechtzeitig und mit dem Einsatz der entsprechenden Ressourcen versucht wurden. Im ehemaligen Jugoslawien haben zwar Friedensinitiativen, Frauengruppen und Menschenrechtsorganisationen rechtzeitig Forderungen zur Stärkung demokratischer, nichtnationalistischer Oppositionskräfte und Medien in allen Republiken des ehemaligen Jugoslawiens erhoben. Es ist aber nicht gelungen, diese Forderungen auf der Regierungsebene durchzusetzen. Darin liegt das Versagen der PazifistInnen. Das heisst aber nicht, dass der Pazifismus als solcher oder dass die Instrumente des Pazifismus versagt hätten.
Ob sich PazifistInnen über den unbedingten Einsatz für nichtmilitärische Konfliktmittel hinaus auch noch an einer Debatte über die Notwendigkeit von militärischen Instrumenten in bestimmten Situationen beteiligen, ist ebenfalls keine Frage der pazfistischen Glaubwürdigkeit. Allerdings sollten sie es tun, weil sonst die NATO und die Regierungen des Nordens alleine darüber bestimmen, welche Mittel unter welchen Bedinungen zu welchem Zweck eingesetzt werden.

Keine Chance für die UNO?

Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich erneut Situationen ergeben, in denen zivile Konfliktbearbeitungsmittel nicht genügen (beispielsweise, weil sie nicht rechtzeitig und nicht genügend entschlissen eingesetzt wurden). Zur Verhinderung von Völkermord und ähnlich schweren Kriegsverbrechen könnte der begrenzte und klar definierte Einsatz von militärischen Instrumenten vielleicht unumgänglich sein. Voraussetzung für dieses «kleinere Übel» ist aber die Abschaffung der nationalen Verfügungsgewalt über Militär. Solange Armeen als Ausdruck staatlicher Souveränität betrachtet werden, werden sie immer auch im Interesse von Staaten oder Staatenbündnissen eingesetzt werden. Die UNO ist heute in ihrem geschwächten und beschädigten Zustand wenig mehr als ein Mäntelchen, das die Interessen des Nordens oder der USA etwas multilateraler erscheinen lässt. Dennoch besteht die einzige vernünftige Perspektive in einer politisch und organisatorisch reformierten UNO, welche allein über militärische Instrumente verfügt.
Mittelfristig stehen hierfür die Chancen gar nicht so schlecht, wie es heute erscheinen mag. Die globale Vormachtstellung der USA wird in absehbarer Zeit geschwächt werden: erstens wegen ihrer inneren ökonomischen und sozialen Probleme, zweitens wegen des Aufstiegs neuer Machtzentren in Asien und drittens – zumindest partiell – wegen der Entwicklungen in Osteuropa und in der GUS. Möglicherweise wird auch die NATO in nächster Zeit einen Imageverlust erleiden. Ihre IFOR-Truppen im ehemaligen Jugoslawien haben heute ähnliche Probleme wie zuvor die UNPROFOR-Einheiten. Derzeit wird natürlich alles dafür getan, dass der IFOR-Einsatz mindestens bis zu den Wahlen in den USA wie eine Erfolgsstory aussieht. Wenn aber die Konflikte nach dem Abzug der amerikanischen Truppen erneut wieder offen ausbrechen, wird sich das positive Image der NATO relativieren.

 

Das Referat von Andreas Zumach wurde auf Tonband aufgezeichnet und von Nico Lutz und Hans Hartmann redaktionell bearbeitet.

Macht des Faktischen

Gut zwanzig GSoAtInnen trafen sich am 24. und 25. August in Le Bémont zu einem Diskussionsseminar mit dem Titel: «Europa ohne Armeen denken». Die Macht des Faktischen lenkte unsere Gedanken aber schon bald auf das bestehende Europa, in dem sich die arbeitslosen Armeen auf die Suche nach neuen Einsatzprogrammen begeben haben. Die Vorreiterrolle der NATO belegte Andreas Zumach eindrücklich in seinem Referat.
Stoff zur Kontroverse lieferte Hans-Joachim Giessmanns Vorstellung des Modells einer Europäischen Sicherheitsgemeinschaft. Wer das Modell einer ESG wie durchsetzen könnte, wo die demokratischen Kontrolle bleibe, ob eine ESG sich schlimmstenfalls zur kontinentalen Supermacht entwickeln würde und weitere Bedenken konnten in der zur Verfügung stehenden Zeit nicht ausgeräumt werden. Als fundierte Kritik an den strukturellen Mängeln der bestehenden militärischen Strukturen in Europa und als substantielle Anregung zu einer zukunftsträchtigeren Sicherheits- und Friedensordnung vermittelte der Vortrag aber wertvolle Impulse. Am Sonntag beschäftigten wir uns abschliessend mit den Auswirkungen der europäischen Sicherheitspolitik auf die verschiedenen Strömungen im Lager der einheimischen Armeebefürworter. Darüber mehr in der nächsten GSoA-Zitig.

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