Gegen nationalen und europäischen Dünkel

2015 scheint ein geschichtsträchtiges Jahr zu sein. Was ist die Bedeutung der Ereignisse, deren dieses Jahr erinnert wird?

Die konservative Schweiz begeht im laufenden Jahr 700 Jahre Schlacht am Morgarten, obwohl diese mit der später entstandenen Eidgenossenschaft nichts zu tun hat. Weiter zelebriert sie 500 Jahre Schlacht bei Marignano, obwohl hier keine Neutralität begründet wurde. Entscheidender für die Geschichte der Eidgenossenschaft ist die Besetzung des Aargaus 1415. Die entstandenen Gemeinen Herrschaften schufen mit den gemeinsamen Untertanen die wichtigste gemeinsame Aufgabe für die Eidgenossen. Noch weniger können die Konservativen mit 1915, der Zimmerwalder Konferenz der europäischen Kriegsgegner, anfangen. 1945 wiederum steht für eine Schweiz, welche den Krieg unversehrt überstanden hat, nachdem sie den Nazis Kriegsgüter und Dienstleistungen zur Verfügung gestellt hatte.

1315: Gründungszeit ohne Eidgenossen

Spätestens seit Roger Sabloniers Standardwerk «Gründungszeit ohne Eidgenossen» aus dem Jahre 2008 gehört es zur Allgemeinbildung, dass es bei den Konflikten um 1315 nicht um irgendeine Unabhängigkeit ging. Auslöser für die wahrscheinliche Schlacht waren drei Streitigkeiten, welche die Habsburger um Herzog Leopold ins Gehege mit den Schwyzern brachte. Zuerst einmal gab es heftige Landfehden zwischen dem Kloster Einsiedeln, einem Grossgrundbesitzer, und den Schwyzer Viehaltern, die unter Landhunger litten. Der Streit führte am 6. Januar 1314 zu einem brutalen Überfall der Schwyzer auf das Kloster Einsiedeln. Als dessen Schirmvögte durften sich die Habsburger dies nicht gefallen lassen. Beim zweiten Streit, der sich mit dem ersten verschränkte, ging es um die Beerbung der Rapperswiler Herrschaft. Diese hatte auch in den Waldstätten ihre Ansprüche und Interessen. Um die Nachfolge der Rapperswiler kämpften die Habsburger gegen Werner von Homburg, der sich mit den Schwyzern verbündete. Beim dritten Konflikt ging es um den Thronstreit zwischen Ludwig dem Bayern und Friedrich dem Schönen, dem Bruder von Leopold. Schwyz hatte sich auf die Seite des Bayern geschlagen. Dass es dabei nicht um die Verdrängung der Habsburger ging, zeigt der Morgartenbrief, der deren Reichsvogtei anerkannte. Es ging den reicher gewordenen einheimischen Eliten um die Festigung ihrer Macht über die Gemeinden und gegenüber den Klöstern.

1415: Gründungszeit mit Untertanen

Die Besetzung des habsburgischen Aargaus 100 Jahre später durch die Berner, Zürcher und die inneren Orte geschah auf Einladung des antihabsburgischen Königs Sigismund. Die Schaffung Gemeiner Herrschaften in der Grafschaft Baden und im Freiamt und später in der Ostschweiz und im Tessin gab den Eidgenossen eine gemeinsame Aufgabe, die bis zum Untergang der Alten Eidgenossenschaft 1798 die wichtigste bleiben sollte. Deren Verwaltung war die einzige Frage, in der es nicht Einstimmigkeit brauchte, sondern in der eine Mehrheit reichte. Allein hier vermochte die Zusammenarbeit unter den Eidgenossen eine gewisse Wirksamkeit zu entfalten, auch nach der Glaubensspaltung. Damit steht die Kontinuität der alten Eidgenossenschaft nicht im Zeichen der Befreiung, sondern der Verwaltung und Unterdrückung der gemeinsamen Untertanen.

8. Mai: Ende der Nazis und Beginn
der Kolonialkriege

Da wir in der vorletzten GSoA-Zitig bereits über Marignano und Zimmerwald geschrieben haben, geht es direkt weiter ins Jahr 1945. Die Kapitulation des Deutschen Reiches am 8. Mai 1945 bedeutete die Befreiung Europas vom Faschismus. Millionen sowjetischer, amerikanischer, britischer, aber auch asiatischer und afrikanischer Soldaten haben dafür mit ihrem Leben bezahlt. Besonders beschämend ist, dass die Schweiz in dieser Zeit 30’000 Flüchtlinge in den sicheren Tod zurückgeschickt hat.

Bei den Erinnerungsfeiern an das Ende des Krieges dürfen wir zwei aussereuropäische Tragödien nicht vergessen. Die eine heisst Hiroshima und Nagasaki. Heute gibt es keine ernsthaften Stimmen mehr, die behaupten, der Einsatz der Atombomben durch die USA sei für die Bodigung des japanischen Militarismus notwendig gewesen. Es ist vor allem darum gegangen, die Insel ohne sowjetische Beteiligung zu befreien. Die andere Tragödie heisst Sétif. Am genau gleichen Tag, an dem Europa das Ende der faschistischen Gewalt feierte, verübten französische Truppen im nordalgerischen Sétif ein grausames Massaker, das laut algerischen Angaben über 40’000 Menschen das Leben kostete. Unter den meist muslimischen Opfern waren etliche Soldaten, die in französischer Uniform gegen die Nazis gekämpft hatten. Die antikolonialen Befreiungsbewegungen in Afrika und Asien haben die Repression der französischen Kolonialmacht genau studiert. 1945 bedeutete auch den Beginn der Kolonialkriege. Wer das verdrängt, mag EurozentristIn sein. Aber humanistisch ist er oder sie nicht. Mögen all die Gedenkanlässe dazu beitragen, nationalistischen und abendländischen Dünkel zu hinterfragen und zu bekämpfen! Nur so dienen jene dem Frieden!