Geheime Armeen

In sämtlichen Ländern Westeuropas – auch in der Schweiz – organisierte die Nato während des Kalten Krieges geheime Armeen.

Diese Organisationen hätten bei einer sowjetischen Invasion Widerstand leisten soll. In der Mehrzahl der Länder verübten die Geheimarmeen jedoch Terroranschläge gegen die eigene Bevölkerung. Ein unbekanntes Kapitel unserer Geschichte wird langsam aufgedeckt.

Als vor gut zehn Jahren zum ersten Mal Spuren der Nato-Geheimarmeen auftauchten, sprach die Presse vom wohl «bestgehüteten, gefährlichsten politisch-militärischen Geheimnis seit dem Zweiten Weltkrieg». Was man damals bloss ahnte, wird durch neue Forschungsresultate von Historikern sogar noch übertroffen. Die neuen Erkenntnisse dürften selbst eingefleischte Anhänger von Verschwörungstheorien in Erstaunen versetzen.

Vorbei an allen demokratischen Institutionen, vorbei an den Parlamenten und ohne Wissen der Bevölkerung organisierte die Nato während des Kalten Krieges sogenannte «Stay-behind»-Armeen: Geheime Guerilla-Truppen, welche dann zum Einsatz kommen sollten, wenn die regulären Armeen besiegt sind. Koordiniert vom Nato-Hauptquartier in Brüssel wurden klandestine Organisationen aufgebaut, versteckte Waffenlager angelegt und der bewaffnete Widerstand geübt.

In verschiedenen Ländern bereiteten sich die Gruppen jedoch nicht nur auf den Einmarsch der Roten Armee vor. Sie bekämpften den vermeintlichen Feind auch im Innern. Am gründlichsten wurde dies in Italien aufgearbeitet: In den Siebzigerjahren verübte die dortige Geheimarmee unter dem Decknamen «Gladio» eine Reihe von Terroranschlägen, die Dutzende von Toten und Verletzten forderten. Unter Mithilfe der Polizei wurden die Attentate der Linken in die Schuhe geschoben, um die öffentliche Meinung zu manipulieren und den Einzug der Kommunistischen Partei (PCI) in die Regierung zu verhindern. Die sogenannte «Strategie der Spannung» ging auf: Die PCI verlor das Vertrauen grosser Teile der Bevölkerung und blieb von der Regierungsmacht ausgeschlossen.

Die Schweizer Geheimarmee ging unter dem Namen «P26» in die Geschichte ein. Ihre Existenz wurde 1990 durch eine Parlamentarische Untersuchungskommission PUK aufgedeckt, die im Anschluss an den Fichenskandal auch das Militärdepartement unter die Lupe nahm. Nach heutigem Wissen unterstand die P26 nicht direkt der Nato, sondern arbeitete mit dem britischen Geheimdienst MI6 zusammen. Die P26 bestand aus einem Kern von rund 400 Mann, die wie in anderen Ländern heimlich Waffendepots anlegten und den Untergrundkrieg trainierten.

Die GSoA-Zitig sprach mit Daniele Ganser, Senior Researcher am Center for Security Studies (CSS) an der ETH Zürich. Er hat soeben ein vielbeachtetes Buch über die geheimen Nato-Armeen veröffentlicht (siehe unten).

Waren die Geheimarmeen Einheiten, die für den Widerstand bei einer feindlichen Invasion gedacht waren, oder waren sie Terroristengruppen?

Die Geheimarmeen waren beides. In einigen Ländern waren sie wirklich nur Widerstandsgruppen für den Fall einer sowjetischen Invasion. Zu diesen Ländern gehören Norwegen, Dänemark, Österreich und auch die Schweiz. In diesen Ländern habe ich keine Daten gefunden, die darauf hindeuten, dass die Geheimarmeen Menschenrechtsverletzungen begingen. Wenn man befürchtet, dass man jeden Tag besetzt werden könnte, dann ist es eine intelligente, legitime Strategie, sich vorzubereiten.

Andrerseits arbeiteten in anderen Ländern dieselben Organisationen mit Verbrechern und Terroristen zusammen, um Attentate zu verüben, welche der Manipulation der Bevölkerung dienen sollten. In Italien geschah dies, offenbar auch in Frankreich, in der Türkei, auch in Deutschland und Belgien. In Griechenland war die Geheimarmee in den Militärputsch von 1967 verwickelt. Es war nicht die Ausnahme, sondern die Regel. In 8 von 15 Staaten wurden die «Stay-behind»-Truppen gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt. Dies war möglich, da die Untergrundgruppen nicht vom Parlament kontrolliert wurden und die BürgerInnen nichts von den Geheimarmeen wussten.

Wurden die Geheimarmeen mittlerweile alle aufgelöst?

Man kann davon ausgehen, dass sie nicht mehr existieren, weil es die Sowjetunion als Gefahr für Westeuropa nicht mehr gibt. Was aber weiterhin existiert, ist die Technik der verdeckten Kriegführung.

Welche Beispiele für verdeckte Kriegsführung gibt es heute?

Die grossen historischen Bereiche, bei denen man sich wieder fragt, welche Rolle die verdeckte Kriegsführung spielt, sind derzeit der Balkan, Afghanistan, der Irak und der 11. September 2001. Da ist man daran, dies langsam aufzuarbeiten. Man weiss etwa, dass London und Washington im Balkankrieg ganz gezielt die muslimischen Gruppen in Bosnien und später die UÇK in Kosov@ unterstützten, um die Regierung Milosevic zu destabilisieren.

Diese Unterstützung war eine klassische Operation der verdeckten Kriegsführung. Man fragt zuerst: Wer sind die Feinde dieses Regimes? Und dann werden die Feinde meines Feindes zu meinen Freunden. Diese benützt man, um eine gewisse Zone zu destabilisieren. Dann wartet man auf die Reaktion der feindlichen Regierung, die einem die Legitimation zum Eingreifen gibt. Die Strategie ging auf: Milosevic ging brutal gegen die UÇK und andere Albaner vor – und dann kam die Nato-Intervention.

Wäre in der Schweiz die P26 auch gegen den «Inneren Feind» eingesetzt worden?

Das ist eine sehr umstrittene Frage. Die Basis dieser Diskussion bildet der PUK-Bericht, der aussagt, dass ein Einsatz der P26 theoretisch möglich gewesen wäre, wenn es in der Schweiz zu einer Linksregierung gekommen wäre. Aber man sollte den Personen, die in der Geheimarmee waren, nicht unterstellen, dass sie einen Staatsstreich planten: Das taten sie nicht. Es waren sehr anständige Leute.

Aber es ist eine systematische Frage: Wie viel Vertrauen kann man in eine Geheimarmee haben, solange sie geheim ist und nicht von demokratischen Organen überwacht wird? Es wurde nie das gesamte Parlament informiert. Darum war die P26 illegal. Es darf in einer Demokratie keine Armee geben, die dem Parlament nicht bekannt ist. Wenn dieses Gesetz gebrochen wird, ist das eigentlich Verfassungsbruch. Nur ist es in diesem speziellen Fall so, dass der Staat diese Geheimarmeen selber kreiert hat. Das geht solange gut – das hat die Geschichte gezeigt – wie es keine grossen Spannungen in der Gesellschaft gibt. Aber sobald es Spannungen in der Gesellschaft gibt, entstehen daraus Menschenrechtsverletzungen.

In der Schweiz kam die Geheimarmee nie zum Einsatz. Es gab jedoch den Fall «Herbert Alboth»: Eine brisante, ungeklärte Frage im Zusammenhang mit der P26. Oberstleutnant Alboth, ein Mitglied der Geheimarmee, kündigte 1990 der PUK-EMD an, er wolle ihr alle seine Unterlagen und Informationen über die P26 übergeben. Kurz vor seiner Aussage wurde er ermordet in seiner Berner Wohnung gefunden, erstochen mit seinem eigenen Armee-Bajonett. In der Schweizer Geschichte gab es keinen einzigen politischen Mord. Falls Alboth aus politischen Motiven getötet wurde, wäre dies für die Geschichte unseres Landes etwas sehr Aussergewöhnliches, Signifikantes.

Gibt es Hinweise, dass die P26 mit der P27 – der Organisation, welche die Fichen anlegte – zusammenarbeitete?

Beide waren Teil der Untergruppe Nachrichtendienst und Abwehr (UNA). Sie hatten jedoch zwei unterschiedliche Aufgaben: Die einen beschafften Informationen, die andern übten den Untergrundkampf.

Die Fichenaffäre ist wieder etwas ganz anderes. Überwachungstätigkeit ist jederzeit und überall möglich, ist auch sehr weit verbreitet. Der Überwachungsstaat hat global seit 1990 nicht abgenommen, sondern zugenommen, das aber unabhängig von der verdeckten Kriegsführung.

Auch die Politik beschäftigt sich derzeit wieder mit dem Bericht Cornu: Nationalrat und GSoA-Koordinationsmitglied Josef Lang hat eine Motion eingereicht, die verlangt, die Untersuchung aus dem Jahr 1991 vollumfänglich zu veröffentlichen. Wer die Vergangenheit gründlich verarbeitet, sei besser davor gefeit, die gleichen oder ähnlichen Fehler wieder zu begehen.

Gibt es in der Schweiz noch wichtige historische Quellen, die der Öffentlichkeit nicht zugänglich sind?

Es gibt den Bericht «Cornu», der untersuchte, inwiefern die P26 Teil des Nato-Netzwerks war. Der Bericht ist noch immer geheim.

Hätte die P26 bei einem sowjetischen Angriff überhaupt funktionieren können?

Ob dieser Widerstand funktioniert hätte, weiss man nicht. Es gibt immer wieder Leute, die sagen, dass die P26 etwas komplett Lächerliches war.

Der Krieg ist etwas unglaublich Brutales und Tragisches. In der Schweiz gab es so lange keinen Krieg mehr, dass man es vielleicht unterschätzt, wie zerstörerisch und brutal ein Krieg wirklich ist. Wenn man die Leute der P26 in den Tschetschenien-Konflikt verpflanzen würde, wären sie sehr schnell tot. Leute, die lange im Krieg waren – beispielsweise Amerikaner, die in Vietnam waren, dann in Nicaragua, dann in Panama, dann in den Golfkriegen – , für die ist Krieg schon fast das Leben. In der Schweiz gibt es diese aktive Kriegskultur nicht. Zum Glück.

Weitere Informationen zur Forschung über die Nato-Geheimarmeen finden sich unter www.isn.ethz.ch/php/collections/coll_gladio.htm

Die Forschungsresultate von Daniele Ganser sind zu Beginn dieses Jahres unter dem Titel «Nato’s Secret Armies: Operation Gladio and Terrorism in Western Europe» beim Frank-Cass-Verlag in London auch in Buchform erschienen. Das englischsprachige Buch behandelt nur die NATO Länder, nicht jedoch die Schweiz.

Noam Chomsky, der amerikanische Linguist und Vordenker der globalisierungskritischen Bewegung, bezeichnete Gansers Buch als gründliche, wichtige Studie und «urgent reading, particularly in today’s climate».