Neuer Blick auf die Schweiz im Ersten Weltkrieg

Jahrzehntelang war die Geschichte des Ersten Weltkrieges in der Schweiz kein Thema in der Geschichtswissenschaft. Nachdem der Zweite Weltkrieg seit den 90er Jahren durch detaillierte Studien aufgearbeitet wurde, nähert sich die Geschichtswissenschaft 100 Jahre nach Beginn der «Urkatastrophe» der Situation in der Schweiz zu dieser Zeit.

Konzipiert als Begleitwerk für eine schweizweit gastierende Wanderausstellung zum Ersten Weltkrieg erschien kürzlich der Band «14/18 Die Schweiz und der Grosse Krieg», herausgegeben von Roman Rossfeld, Thomas Boumberger und Patrick Kury im hier + jetzt Verlag. Ausstellung und Buch wurden von einem Verein von HistorikerInnen konzipiert und umgesetzt, welche die Geschichte der Schweiz während des Ersten Weltkrieges für ein breiteres Publikum zugänglich machen wollen.

Unterteilt ist der Band in vier Teile: 1. Krieg! Mobilisierung, Grenzbesetzung und nationale Kohäsion, 2. Landesversorgung, Kriegswirtschaft und Wirtschaftskrieg, 3. Neutralität, humanitäre Diplomatie und Überfremdungsangst, und 4. Streik! Wachsende Not, Landesstreik und Erinnerungskultur. 16 AutorInnen behandeln diese breiten Themen aus unterschiedlichen Blickwinkeln, was vereinzelt zu leichten thematischen Überschneidungen führt. Die Aufsätze bieten einen guten Überblick, gehen aber auch ins Detail – teilweise noch zusätzlich in zwei- seitigen Schwerpunktbildern. Gemeinsam ist den Aufsätzen, dass sie auch die Vorgeschichte und weitergehenden Auswirkungen der dar- gestellten Entwicklungen nicht aus dem Auge verlieren. So betrachten sie den Ersten Welt- krieg auch geografisch wie zeitlich nicht als abgeschlossenen Sonderfall, sondern betten ihn in einen breiteren Kontext ein.

Antimilitarismus, Kriegsmaterial und Neutralität
Parallel dazu werden Themen angesprochen, welche im politischen Diskurs der Schweiz zeit – los sind. In einigen Beiträgen sind die Entwicklung einer Schweizerischen Rüstungsindustrie und konkrete Formen des Antimilitarismus präsent. In den Aufsätzen von Roman Rossfeld und Serge Paquier zeigen sich das Wachstum der Rüstungsgüterproduktion während des Krieges, die immensen Kriegsgewinne einiger Fabrikanten und die Reaktionen der unter hohen Lebensmittelpreisen leidenden Arbeiterschaft. Rudolf Jaun stellt in seinem Artikel die teils drakonischen Reaktionen der Militärjustiz auf von den Soldaten geäusserte Kritik am Dienstbetrieb dar. Trotzdem bleiben diese beiden Themen eine relative Randerscheinung, die auch konzentrierter in einem eigenen Aufsatz hätten betrachtet werden können. Das Buch zeichnet sich jedoch durch sein breites Spektrum an Themen aus, welche darin Platz finden. So behandelt Carlo Moos in seinem Beitrag die Frage der Neutralität und deren unterschiedlich gelebte Umsetzungen während des Weltkrieges, ein Text, der aber gut auch mit Blick auf die heutige Situation gelesen werden kann. Auch kurze Passagen über in die Schweiz geflohene Deserteure und Refraktäre aus dem umliegenden Europa sowie deren Betrachtung durch die Schweizer Medien finden ihren Platz.

Beispielhaft anschaulich
Ein beeindruckender optischer Einblick in die zeitgenössische Vorstellungswelt ist den Gestaltern mit den vielen zeitgenössischen Karikaturen, Flugblättern und Photographien gelungen. Knapp 300 Bilder auf 400 Seiten machen das Werk sehr anschaulich und damit die zeitgenössische Ideenwelt direkt greifbar. Gespickt sind die Aufsätze auch mit Anekdoten, so zeigt die Bedeutung der Ernährungsfrage für die Schweiz auf Grund der gesunkenen Importe von Nahrungsmitteln, dass es gar ein «Kommissariat für die Anpflanzung schweizerischer Waffenplätze» zur Nahrungsmittelgewinnung gab. Auf Grund der vielen Illustrationen und der meist ansprechend geschriebenen Texte wird das Ziel, ein breiteres Publikum anzusprechen, erreicht und gleichzeitig der aktuelle Stand der Forschung vermittelt.