Ergänzende Sinnstiftung

Die Nato expandiert gegen Osten. Gleichzeitig wandelt sie sich vom Verteidigungs- zum Interventionsbündnis. Die Uno gerät ins Hintertreffen und Russland fühlt sich brüskiert. Ein Stabilitätsgewinn für Europa

Pünktlich zum 50. Jahrestag des Nordatlantikvertrages sollen die ersten osteuropäischen Länder Mitglieder der Nato werden. Unklar ist, ob es sich um einen Aufbruch in ein neues Zeitalter oder doch nur um die Restauration einer untergegangenen Weltordnung handelt.
Weshalb das westliche Bündnis überhaupt gen Osten expandieren – in korrektem Nato-Deutsch: sich öffnen – soll, hat noch niemand schlüssig zu erklären vermocht. Das Standardargument lautet: Die Regierungen Ostmittel- und Südosteuropas wollen es so. Unbestreitbar trifft dies zu – aber warum wohl? Bislang hat keiner der ungeduldigen Antragsteller eine Gefährdung seiner Sicherheit, die sich durch Unterschlupf in einer Militärallianz beheben liesse, glaubhaft gemacht. Übrig bleibt nur der reine Wunsch nach Mitgliedschaft. Doch würde jedes Land, das beitreten möchte, auch dem Bündnis angehören dürfen, wäre flugs ganz Europa unter dem Nato-Dach versammelt. 
Was die westliche Allianz seit ihrer Gründung sein wollte, war nie fraglich: ein Zusammenschluss von Staaten, die sich gegenseitig Beistand versprechen im Falle einer Bedrohung von aussen. Nun sind Notwehr und Nothilfe unbestrittene Mittel des Selbstschutzes. In der Sprache der Sicherheitspolitik bedeutet Notwehr Verteidigung. Am Begriff lässt sich nicht deuteln: Verteidigung heisst Abwehr. Es muss einen Angreifer geben, um fortdauernde Verteidigungsanstrengungen zu begründen. Der Ost-West-Konflikt bot in dieser Hinsicht den Luxus klarer Verhältnisse.

Semantische Differenz

Aber der Ost-West-Konflikt ist vorüber. Es gibt keinen Feind mehr, nicht einmal einen Gegner. Also muss sich die Nato, will sie nicht lautlos von der Bildfläche verschwinden, eine andere, zumindest ergänzende Sinnstiftung zulegen. Die Palette schillernder Wortschöpfungen rührt daher: Stabilitätstransfer, Krisenbewältigung, Partnerschaft für den Frieden. Die ehrlichste Auskunft gab vor zwei Jahren das oberste Bündnisgremium selbst, als es lakonisch befand: Die Nato sei eine Gemeinschaft von Staaten zur Verteidigung gemeinsamer Interessen. 
Vom Verteidigungsbündnis zum Interessenverteidigungsbündnis? Die semantische Differenz scheint winzig, der reale Unterschied ist gewaltig. Interessen verteidigt man militärisch per Intervention. Verteidigung bedeutet Abwehr eines Angriffs auf ein eigenes Rechtsgut. Intervention bedeutet Eingriff und Einmischung in Rechtsgüter anderer. Das ist das Gegenteil von Verteidigung. Wenn dazu das Eigeninteresse als Legitimation ausreicht, wären wir wieder beim Faustrecht angelangt. 
Nicht die Aufnahme neuer Mitglieder allein, erst die Gleichzeitigkeit mit der schleichenden Umwidmung des Bündniszwecks macht die Nato-Osterweiterung zu einem brisanten Vorgang. Wo immer seit 1990 einzelne Bündnisstaaten oder die Nato als Organisation auf Kriegs- und Krisenplätzen aktiv wurden, geschah dies mit abnehmender Rückbindung an ein Mandat des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen. Den Ifor-Einsatz in Bosnien zum Beispiel konnte die Uno erst absegnen, nachdem ihn die Nato bis ins Detail geplant und beschlossen hatte. Die in der UN-Charta geregelten Kompetenzen wurden auf den Kopf gestellt. Was könnte die Nato tun, wenn sich der UN-Sicherheitsrat nicht länger als Akklamationsorgan erweisen will? 
Für diesen Fall glaubt sie sich ausreichend gewappnet durch die Konsultationsklausel des Nordatlantikvertrages. Dieser Artikel IV besagt zwar nur, dass die Vertragsparteien einander konsultieren, wenn eine von ihnen es wünscht. Jedoch hat sich inzwischen eine vollständig sinnfremde Auslegung herausgebildet. Längst sprechen Politiker und Militärs wie selbstverständlich von Artikel-IV-Aufgaben der Nato und meinen damit das militärische Vorgehen der Allianz ausserhalb der in Artikel V geregelten Beistandsleistungen im Bündnisfall. Mit anderen Worten: Eine Artikel-IV-Operation ist ein Militäreinsatz oder ein Krieg, den die Nato führt ohne die Uno zu fragen.

Island, Russland, Moldawien …

Lässt sich bezweifeln, dass jeder Staat Europas, der im Nato-Erweiterungsfahrplan nicht vorkommt, Grund hat, beunruhigt zu sein? Das Expansionsprojekt bestätigt zum einen die Nato in ihrer angestammten Funktion als Verteidigungsbündnis. Erfahrungsgemäss braucht ein Bündnis einen militärischen Kontrahenten. In Frage kommen vorzugsweise diejenigen, die ihm nie angehören sollen. Also richtet sich die Sicherheitsvorsorge wieder gegen vorbestimmte Staaten statt gegen definierte Risiken. 
Zum anderen drängt sich die Nato in die Rolle der für Konflikt- und Krisenkontrolle auf dem Kontinent generell zuständigen Sicherheitsorganisation. Volle Mitsprache geniessen jedoch nur die Mitglieder. Den Nichtmitgliedern bleibt die Wahl, sich entweder dem Bündniskommando zu unterstellen oder auf Teilhabe zu verzichten. So funktioniert derzeit die militärische Umsetzung des Dayton-Abkommens. Nicht zufällig gilt sie in Brüssel als wegweisendes Modell für die Zukunft. 
Wie immer die vielbeschworene strategische Partnerschaft mit Russland ausfallen mag: Ausgrenzung in Gleichstellung zu verwandeln, das kann sie nicht vollbringen. Im Klartext: In der Frage von Frieden und Krieg in Europa wird Moskau etwas mehr Mitwirkungsrecht erhalten als Moldawien oder Turkmenistan, aber weniger als Luxemburg oder Island. Eine Antwort auf die Herausforderungen von morgen ist das kaum.

* Den leicht gekürzten Beitrag von Reinhard Mutz entnehmen wir der Berliner «Tageszeitung» vom 29.10.96.

Eiertanz um PfP – Eine Chronologie

Ende Oktober 93: Der amerikanische Verteidigungsminister Les Aspin schlägt das Konzept einer «Partnerschaft für den Frieden» (PfP) vor. Bruno Lezzi, Inlandredaktor der NZZ für Militär- und Sicherheitspolitik, reagiert sofort. Auf dem Hintergrund des relativierten internationalen Stellenwerts der Neutralität, so Lezzi, würde der amerikanische Vorschlag aus schweizerischer Sicht «unseren sicherheitspolitischen Handlungsspielraum erweitern». Mit Blick auf zukünftige grenzüberschreitenden Katastropheneinsätze und auf die Friedenssicherung mit militärischen Verbänden sei eine vertiefte gegenseitige Kenntnis der unterschiedlichen Einsatzverfahren notwendig.
November 93: EMD-Chef-Villiger und Generalstabschef Liener geben sich optimistisch. Villiger plädiert für eine ‹Normalisierung› der Beziehungen zur Nato und zur WEU. Für die «solidarische Teilnahme der Schweiz an der Stabilisierung von Konfliktherden» sprechen sich auch der ehemalige Stabschef Operative Schulung, Divisionär Gustav Däniker, und der Präsident der aussenpolitischen Kommission des Nationalrats Ernst Mühlemann (FDP) aus. 
Dezember 93: Villiger doppelt in einem Referat vor Schwyzer Offizieren nach. PfP eröffne interessante Perspektiven. Sie gestatte auch Neutralen eine «à la carte-Beziehung» zur Nato. Eine angepasste Neutralität werde vermehrt militärische Kooperationen zulassen müssen. Die «erste Verteidigungslinie» sei die Teilnahme an der internationalen Krisenprävention und am internationalen Krisenmanagement.
Januar 94: EMD-Sprecher Daniel Eckmann erklärt, Ziel einer möglichen Kooperation mit der Nato sei es, den «sicherheitspolitischen Blindflug» der Schweiz zu beenden.
September 94: Nach der Niederlage bei der Blauhelmabstimmung im Sommer 94 krebsen die PfP-Befürworter zurück. Ernst Mühlemann sieht jetzt angesichts des «gestörten Verhältnisses des Schweizervolkes zu Europa» im sicherheitspolitischen Alleingang eine «Realität». Um den Gatt-Vertrag und die bilateralen Verhandlungen mit Europa nicht zu gefährden, sei von einer Zusammenarbeit mit der Nato Abstand zu nehmen.
Februar 95: Die Präsidenten der Sicherheitspolitischen Kommissionen von National- und Ständerat sprechen sich für die PfP aus.
Juni 95: Der Rat für Gesamtverteidigung (ein beratendes Organ des Bundesrates für Fragen der Sicherheitspolitik) spricht sich für eine Beteiligung der Schweiz an PfP aus. Das EMD teilt derweil mit, der Bundesrat selber habe seine Haltung in bezug auf die Nato-Initiative noch nicht festgelegt.
November 95: Eine Tagung des ‹Schweizerischen Arbeitskreises Militär und Sozialwissenschaften› spricht sich einstimmig für das Nato-Angebot aus. Alt Bundesrat Rudolf Friedrich behauptet, Unabhängigkeit sei «neuerdings nur noch zu erreichen durch Mitwirkung, nicht durch Abseitsstehen».
Februar 96: Der neue EMD-Chef Ogi erklärt in einem Interview, es habe «keinen Sinn, mit diesem Thema zu einem ungünstigen Zeitpunkt einen Hasen aufzuscheuchen, eine grosse Kontroverse zu entfachen und allenfalls die bilateralen Verhandlungen zu gefährden.» 
März 96: Ogi erklärt vor der Präsidentenkonferenz der Schweizerischen Offiziersgesellschaft zur PfP: «Auch hier gilt: Gesamtbeurteilung aller Folgen, schrittweises, detailliertes Vorgehen. Keine Abenteuer. Auch hier: Aussenpolitik ist zuerst Innenpolitik.». Gleichzeitig beschliesst der Bundesrat, einen Verteidigungsattaché nach Brüssel zu entsenden.
April 96: Eine Studie der Arbeitsgruppe Sicherheitspolitik um Ständerat Otto Schoch fordert den Beitritt zur PfP und «einen Schweizer Beitrag an eine westeuropäische Verteidigung». Es gehe darum, «die aus den Zeiten des Kalten Krieges stammende Struktur der Armee durch eine sinnvolle Anpassung an das gewandelte internationale Umfeld in eine moderne Form überzuführen, die die Kraft dieses Instrumentes zum Wohle des ganzen zu erhalten vermag.»
Mai 96: Ogi verkündet, der Bundesrat werde bis Ende Jahr über PfP entscheiden. Bedingung für eine Teilnahme sei «die Wahrung der Neutralität und den Ausschluss eines Schweizer Nato-Beitritts». Bundesrat Cotti bezeichnet eine Teilnahme der Schweiz beim Nato-Vorhaben als wünschenswert. NR Blocher bezeichnet diese Pläne als «krasse Missachtung der dauernden, bewaffneten Neutralität und eine Vorbereitung der Schweiz auf einen Beitritt … letztlich in die Nato.»
Juni 96: Der Zürcher SVP-Nationalrat Walter Frey bezeichnet den PfP-Beitritt als «unnötigen Schritt in die falsche Richtung». Ernst Mühlemann will die PfP-Pläne «sehr schnell begraben».
August 96: Der Bundesrat ernennt zwei hohe Offiziere zu Nato-Beobachtern in Brüssel. Nach einer Serie improvisierter Konsultativabstimmungen in den interessierten parlamentarischen Kommissionen spricht die NZZ von «Aussenpolitik in der Dunkelkammer». Um die PfP werde ein «Eiertanz» aufgeführt. EMD und EDA vermittelten den Eindruck «operativer Konzeptlosigkeit».
September 96: Der Bundesrat beschliesst die Beteiligung an der Nato-Partnerschaft.
Oktober 96: Der Bundesrat ermächtigt Aussenminister Cotti, das PfP-Beitrittsdokument zu unterzeichnen.

GSoA-Pressemeldung zur Nato-Partnerschaft

Der Storch bringt die Kinder …

… schafft die Nato den Frieden? 
Die nationale Koordination der GSoA und die TeilnehmerInnen des Diskussionsseminars vom 14. September 1996 in Bern nehmen gegen den Beitritt der Schweiz zur Partnerschaft für den Frieden (PfP) Stellung: Ein Beitritt der Schweiz zur PfP trägt nichts zur Bewältigung der zentralen sicherheits- und friedenspolitischen Herausforderung Europas bei: zur Stärkung ziviler Formen der Konfliktprävention und Konfliktbewältigung. Während die militärische Struktur Nato von den Mitgliedstaaten mit einem Jahresbudget von 1200 Millionen Franken ausgerüstet wird, muss sich die zivile Struktur OSZE mit 30 Millionen jährlich begnügen. Der angestrebte Beitritt der Schweiz zur PfP verlagert die sicherheitspolitischen Bestrebungen der Schweiz auf ein militärisch bestimmtes Projekt. Die Nato ist heute die bei weitem grösste Militärmacht der Welt. Sie verfügt über die grössten konventionellen und atomaren Waffenpotentiale. Es sind die Mitgliedsländer der Nato, die den grössten Teil der weltweit produzierten und gehandelten Waffen kontrollieren.
Die Erfahrungen der letzten und aktuellen Konflikte zeigen, dass militärische Interventionen keinen dauerhaften Frieden und keine grundsätzliche Lösung der Probleme bringen. Die Welt braucht zivile Alternativen internationaler Zusammenarbeit, der Friedensausbildung und -erziehung, die Einhaltung der Menschenrechte usw. In diesen Bereichen kann die Schweiz einen kompetenten Beitrag zur internationalen Sicherheit leisten. Die Unterstützung von Friedensinitiativen wie derjenigen zum Verbot der Waffenausfuhr und die Arbeit an Initiativen zur Abschaffung der Armee und für einen zivilen Friedensdienst bedeuten für die GSoA einen konkreten Beitrag zu einer friedlichen Welt.

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