Neue Bedrohungen, neue Koalitionen, neue Strategien – altes Denken? Die Schweizer Sicherheitspolitik bewegt sich
Die Schweiz sei heute „von Freunden umzingelt“, schreibt in einem Aufsatz in der Allgemeinen Schweizerischen Militärzeitschrift der stellvertretende Chef Sicherheits- und Militärpolitik im VBS, Theodor Winkler. Ohne Feind sucht die Armee nach neuen Aufgaben, macht neue Bedrohungen aus – und schafft neue Legitimationen.
Die Neuorientierung der schweizerischen Sicherheitspolitik läuft unter dem Namen „Armee XXI“ und soll im Jahr 2003 abgeschlossen sein. Diesem Reformprojekt liegt der noch nicht veröffentlichte „Sicherheitsbericht 2000“ zugrunde. Der Bericht der Strategiekommission Brunner vom Frühjahr 1998 diente dafür als Vorstudie.
Ein Aspekt, die militärische Zusammenarbeit mit dem Ausland, allerdings scheint dem Bundesrat so dringend, dass er in Form einer Teilrevision des Militärgesetzes der Reform vorgezogen werden soll. Die Teilrevision befindet sich seit Anfang Februar in der Vernehmlassung.
Schweizer Waffen, Schweizer Geld…
Der vorgesehene revidierte Artikel 66 regelt die Bewaffnung von Schweizer Soldaten im „internationalen Friedensförderungsdienst“.
Laut Bundesrat geht dabei um eine Detailänderung mit geringer Tragweite: Schweizer Truppen im Ausland sollen sich für den Selbstschutz bewaffnen können. Der Vorschlag erinnert an die Blauhelm-Vorlage von 1994 (welche an der Urne verworfen wurde).
Es bestehen jedoch gewichtige Unterschiede: Die Blauhelm-Vorlage hätte bewaffnete Auslandeinsätze nur erlaubt, „sofern die Zustimmung aller dirket betroffenen Konfliktparteien“ vorgelegen hätte. Zudem hätten die Uno oder die OSZE ein Mandat erteilen und garantieren müssen, „dass sich die Truppen unparteiisch verhalten und von ihrer Waffe nur in Notwehr Gebrauch machen“.
Alle diese Leitplanken fehlen im neuen Gesetzesentwurf. Ausserhalb von Uno- oder OSZE-Mandat wären Einsätze unter Nato-Kommande zulässig. Auch in Sachen Bewaffnung ist alles möglich: „Der Bundesrat bestimmt im Einzelfall die Bewaffnung und die übrigen Massnahmen, die für den Schutz der eingesetzten Personen und Truppen sowie für die Erfüllung des Auftrages erforderlich“ ist, heisst es im Gesetzesentwurf. Während der Begleittext zum Entwurf schreibt, die Schweiz würde sich nur an Einsätzen beteiligen, „wenn diese keinen primären Kampfaufträge zu erfüllen“ hätten, fehlt im Gesetz eine diesbezügliche Bestimmung. Gegenüber der International Herald Tribune sagte Bundesrat Ogi am 20. Februar 1999: „Fürs Erste wird der Schweizer Beitrag auf Nicht-Kampf-Aufträge beschränkt bleiben.“
Eine Beteiligung der Schweiz an der Bombardierung des Irak, wie sie im vergangenen Dezember stattgefunden hat, wäre gemäss dem Wortlaut des vorgesehenen Gesetzes möglich. Der Bundesrat müsste diese Aktion nur als „Friedensföderungsdienst“ verkaufen.
Die zweite wesentliche Neuerung soll ermöglichen, dass der Bundesrat „im Rahmen der schweizerischen Sicherheits- und Neutralitätspolitik internationale Abkommen über die Ausbildung der Truppe im Ausland sowie gemeinsame Übungen mit ausländischen Truppen abschliessen“ kann. Ausbildungszusammenarbeit mit dem Ausland kennt die Schweizer Armee bereits punktuell. Die jetzt geplante Revision des Militärgesetzes soll die militärische Zusammenarbeit in weit grösserem Umfange erlauben. Auch hier heisst der Partner Nato. Das neue Gesetz wäre die gesetzliche Grundlage für Truppenmanöver im Nato-Verbund in der Schweiz.
…schaffen Frieden in aller Welt?
Bereits gemäss dem geltenden Militärgesetz ist es möglich, einzelne Personen im Friedensförderungsdienst für den Selbstschutz zu bewaffnen. Darum ist klar: Etwas anderes steht bei der Revision im Vordergrund: „Ausgehend von der fallbezogenen spezifischen Interessenlage der Schweiz soll der Bundesrat ermächtigt werden, der internationalen Gemeinschaft auch Truppenkontingente für multinationale friedensunterstützende Operationen anbieten zu können“, ist im Begleittext zur Gesetzesrevision nachzulesen. Weiter: „Die Schweiz zieht direkten Nutzen aus den internationalen Anstrengungen zugunsten erhöhter Stabilität und grösserer Sicherheit“. Diesen „direkten Nutzen“ der Schweiz glaubt man am besten zusammen mit den westlichen Partnerstaaten zu erreichen. Der „Friedensförderungsdienst“ bietet dafür die unverdächtige Verpackung. Als Beispiel für die Wirksamkeit „friedensfördernder“ bewaffneter Interventionen führt Ogi ins Feld, das Eingreifen der Nato in Bosnien habe einen Rückgang der Flüchtlingszahlen um 66 Prozent bewirkt. Darum geht es offenbar: Das Interesse der Schweiz in Bosnien war primär die Zahl der Flüchtlinge, die in der Schweiz Zuflucht suchten.
Geht es nun also um „Solidarität“ oder um den Nutzen der Schweiz? Die Begriffe sind Marketing: Um die Unterstützung von links zu erhalten, wird das militärische Zusammengehen mit dem Ausland als Akt der Solidarität dargestellt; da aber zuviel Solidarität den Rechten suspekt ist, muss diese „Solidarität“ von der „fallbezogenen spezifischen Interessenlage der Schweiz“ ausgehen. Über die wirkliche Absicht – den Einstieg in den Nato-Anschluss – wird diskret geschwiegen. Denn Ogi weiss, wie er gegenüber der International Herald Tribune sagte: „Zum jetzigen Zeitpunkt würde ein Einsatz unter Nato-Kommando die Volksabstimmung nicht bestehen.“
Eurokompatibel, anschlussfreudig
Was bedeutet diese Standortveränderung politisch? Von einem Grossteil der Medien wird die Marschrichtung der Schweizer Sicherheitspolitik als aussenpolitische Öffnung verstanden. Die Tatsache, dass die Reformen auf den Widerstand der integrationsfeindlichen Rechten stossen, bestärkt diesen Eindruck. Aber: Die vorgeschlagene Öffnung des Landes soll uns nicht in eine der zivilen internationalen Organisationen führen, sondern der Schweizer Armee bei der Nato eine neue Heimat geben. Diese Nato – die reichen Staaten Europas und Nordamerikas – betreibt seit längerem eine Politik, sich als sicherheitspolitische Ordnungskraft über die Uno zu stellen.
Schritt für Schritt wurde in den letzten Jahren die Beteiligung der Schweizer Armee an militärischen Programmen der Nato ausgebaut, ohne dass sie dabei politisch zur Diskussion gestellt wurde. Die Revision des Militärgesetztes soll nun den grossen Sprung nach vorne bringen und eine neue Ära einer Nato-kompatiblen schweizerischen Kriegspolitik eröffnen. Die Armee verkauft sich heute öffnungsfreudig und zivil. Doch die scheinbare Zivilisierung der Armee bedeutet in Wirklichkeit eine Militarisierung des Zivilen: Die Armee stösst in Bereiche vor, für die bisher zivile Instanzen zuständig waren. Damit verschafft sie sich vor allem auch neue Legitimation.
Wir dürfen bewaffnete Auslandeinsätze nicht gutheissen, wenn sie im Rahmen eines neuen Militärgesetzes eingeführt werden, ohne in eine aussenpolitische Diskussion und in klare aussenpolitische Perspektiven für die Schweiz eingebettet zu sein. Die traktandierte Revision des Militärgesetztes bietet aber auch eine Chance: Erstmals können die geplanten, aber auch die schon vollzogenen militärischen Annäherungsschritte politisch diskutiert werden. Ein allfälliges, breit abgestütztes Referendum aus friedens- und entwicklungspolitischen Kreisen gegen die vorliegenden Pläne könnte die Kluft zwischen Anspruch und Realität aufzeigen und die Türen öffnen für ein verstärktes ziviles Engagement der Schweiz und eine wirkliche politische Öffnung des Landes.