In der Schweiz war der Antiautoritarismus stark antimilitaristisch geprägt

In keinem europäischen Land war der Antiautoritarismus der 68er-Bewegung derart stark durch den Antimilitarismus geprägt wie in der Schweiz. Dies hatte zu tun mit der ideologischen Dominanz der Geistigen Landesverteidigung, deren symbolisches Zentrum die Armee war. Von Josef Lang

Als der Bundesrat 1989 sagte: «Die Schweiz hat keine Armee, die Schweiz ist eine Armee», war das nur noch ein frommer Wunsch. Aber bis in die 1960er-Jahre war es harte Wirklichkeit gewesen.

«Wehrhaft gleich ehrhaft»
Bei der Geistigen Landesverteidigung, für welche die Schweiz eine Armee war, ging es um mehr als den Militärapparat und die Rüstungsausgaben. Es ging um nationalistische Überhöhung und Igeldenken. Es ging um das Männer- und Bürgerbild des «wehrhaft gleich ehrhaft», das die «wehrlosen» Frauen politisch «ehrlos» machte. Es ging um die Geschichtslüge, die Schweiz sei im Zweiten Weltkrieg nur wegen ihres Wehrwillens und nicht primär wegen ihrer Kollaboration mit den Nazis verschont geblieben. Die bürgerliche Schweiz führte ihren Mangel an Antifaschismus ab den 1950er-Jahren mit einem Übermass an Antikommunismus weiter. So war sie besonders US-freundlich und vietnamfeindlich. Eng mit der herrschenden Ideologie verbunden war die grassierende Fremdenfeindlichkeit, die mit der 1970 mit 54 Prozent Nein abgelehnten Schwarzen bach-Initiative einen ersten Höhepunkt erreichte. Die 68er-Bewegung kämpfte an verschiedenen Fronten gegen die Geistige Landesverteidigung und ihren «CH-Zement», wie ein Buchtitel über die damalige Zeit lautet. Militärverweigerung, Proteste gegen das totalitäre «Zivilverteidigungsbuch» und gegen militaristische Rektoren und Professoren, Widerstand in den Rekrutenschulen, Geschichtsdebatten, Initiative gegen Rüstungsexporte,  Solidarität mit den Eingewanderten und vor allem mit Vietnam. Besonders bedeu tend war die Veränderung des männlichen Selbstbildes, das sich in den «mädchenhaft langen Haaren» (militärischer Führungsbericht 1970) ausdrückte. Die Tatsache, dass plötzlich eine grosse Zahl von Frauen auf die Strasse ging, stellte die herrschende Ideologie zusätzlich in Frage.

Verweigerer kündigen Änderung an
Es ist kein Zufall, hatten die ersten Zeichen einer Veränderung mit der Armee zu tun. Bereits ab 1966 begann die Zahl der Verweigerer markant zu steigen. Hatte der jährliche Durchschnitt seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges um die 40 betragen, schnellte er zwei Jahre vor der 68er-Bewegung auf 122. In den 1970er-Jahren betrug er 331 und verdoppelte sich im GSoA-Jahrzehnt. Die Gesuche um waffenlosen Dienst verdreifachten sich 1971 auf 480. Die Prozesse gegen Verweigerer, die oft von Prominenten wie Friedrich Dürrenmatt verteidigt wurden, wurden zu politischen Fokussen. 1970 wurde von Münchensteiner Gymnasiallehrern die erste Volksinitiative für die Schaffung eines Zivildienstes lanciert. Da sie die Form einer allgemeinen Anregung hatte, war die Vorlage,  die 1977 vors Volk kam, derart katastrophal, dass die Linke und der Friedensrat sie nicht mehr unterstützen konnten. Sie erreichte damit bloss 37,6 Prozent.

1969 gab es einen heftigen Streit um das «Zivilverteidigungsbuch », das Linke, Intellektuelle, Italiener zu «Wühlern» erklärte und vom Bund in alle Haushalte verschickt wurde. Weil der Präsident des Schweizerischen Schriftstellervereines mitgemacht hatte, kam es zu dessen Spaltung und zur Gründung der Gruppe Olten. Im gleichen Jahr wurde auf Anregung des Schweizerischen Friedens rates eine Waffenausfuhrverbots-Initiative ge startet, die 1972 von 49,7 Prozent der Stimmenden gutgeheissen wurde. Die Bührle-Kanonen, mit denen im Biafra-Krieg (1967-1970) auf Rotkreuz- Flieger geschossen wurde, hatten die Menschen sehr aufgewühlt. Aber ohne das pazifistische Klima, das die 68er-Bewegung geschaffen hatte, lässt sich das starke Resultat nicht erklären.

1971 begann es in der Armee, insbesondere in den Rekrutenschulen, zu rumoren. 1972 bis 1974 kam es zu Wellen von Soldatenstreiks, verbotenen Unterschriftensammlungen, Militärprozessen und Solidaritätskundgebungen. Soldatenkomitees unterstützten von aussen Kasernenkomitees, von denen es 1974 etwa ein Dutzend gab. Am 9. November 1972, dem 40. Jahrestag des Genfer Armee-Massakers, das 13 Antifaschisten das Leben gekostet hatte, demonstrierten 3000 Personen gegen die Armee und Innere Einsätze.

Wie viel sich in den späten 60er- und frühen 70er-Jahren verändert hatte, zeigte der Grosserfolg des Films «Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S.» von Richard Dindo und Niklaus Meienberg. Die 1973 veröffentlichte Reportage Meienbergs und der Dokumentarfilm von 1975 thematisieren die Hinrichtung eines Ostschweizer Soldaten, der einem Nazi-Agenten vier Artillerie- und eine Panzergranate übergeben hatte. Gleichzeitig wiesen sie darauf hin, dass Grosslieferanten wie Georg Bührle und achsenfreundliche Bundesräte ungeschoren davon kamen. Der Film wurde in Hunderten von Ortschaften gezeigt, wo er heftige Debatten auslöste.

Lange Haare und Frauenstimmrecht
Wie eng Zugehörigkeit zur Armee und zur Bürgerschaft bis 1968 verknüpft waren, erläuterte der Bundesrat 1957 im Zusammenhang mit dem Frauenstimmrecht: «Da als waffenfähig der Mann allein galt, konnte nur er als stimm- und wahlberechtigt angesehen werden. Wie sehr dieser Gedanke bei uns noch heute lebendig ist, zeigt die Tatsache, dass in beiden Appenzell nur Bürger mit dem Schwert zum Landsgemeindering zugelassen waren.» 1959 stimmten zwei Drittel des Männervolks gegen das Frauenstimmrecht. Zwölf Jahre später war das Resultat gerade umgekehrt.

Die Verbindung von Soldatentum und Männlichkeit war in der Vor-68er-Schweiz mindestens so bedeutend wie der Zusammenhang von Armee und Verteidigung. Dies erklärt, warum die Langhaar-Mode den Abschied der Männer von soldatischen Werten nirgendwo in Europa so stark symbolisierte. Es ist kein Zufall, wurden die Schweizer Männer reif für das 1971 eingeführte Frauen stimmrecht, nachdem sie begannen hatten, lange Haare zu tragen.