Interview zu Bosnien

(db) Interview mit Fadila Memisevic, Präsidentin der bosnischen Sektion der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV)

Die Schweizer Armee will Soldaten nach Bosnien-Herzegowina schicken. Braucht das Land wirklich weitere Soldaten oder vielmehr Unterstützung beim Aufbau ziviler Institutionen? Diese und andere Fragen stellte David Buchmann Fadila Memisevic, Präsidentin der bosnischen Sektion der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV)*.

Fadila, womit beschäftigt ihr euch zur Zeit in der GfbV Bosnien-Herzegowina?

Wir setzen uns ein für die Opfer von Genozid und Kriegsverbrechen. Am wichtigsten ist dabei die Betreuung von Frauen, die beim Massaker von Srebrenica Angehörige verloren haben (siehe Kasten). Wir haben mit den betroffenen Frauen die Mütterbewegung von Srebrenica gegründet und üben Druck auf die Vereinten Nationen aus, damit aufgeklärt wird, wie es zu diesem Verbrechen in der UN-Schutzzone kommen konnte.

Weiter arbeitet die GfbV mit ehemaligen Lagerinsassinnen. Diese Frauen leben mit ihren Kindern, von denen viele durch Vergewaltigungen im Lager gezeugt wurden, am Rande der Gesellschaft.

Ebenso helfen wir den Roma, die von Bosnien nicht als Minderheit anerkannt werden und versteckten Diskriminierungen ausgesetzt sind. 95% der Roma sind arbeitslos und leben in den Ruinen ihrer während dem Krieg zerstörten Häuser. Oft erhalten ihre Kinder nicht einmal einen Geburtsschein. Wir wollen, dass sie zur Schule gehen können und ins Krankenversicherungs- und Sozialsystem integriert werden.

Zudem unterstützen wir die Arbeit des Kriegsverbrechertribunals in Den Haag.

Wie beurteilst du die Situation in Bosnien, bald zehn Jahre nach Kriegsende und dem Dayton-Abkommen?

Nach wie vor sind etwa 1,2 Millionen Flüchtlinge nicht zurückgekehrt, die Hälfte von ihnen lebt als Vertriebene im eigenen Land. Bosnien ist faktisch zweigeteilt in die Republik Srpska und die Föderation von Bosnien-Herzegowina. Daran ist auch die internationale Gemeinschaft mitverantwortlich. Die europäischen Länder und die USA haben zugeschaut und nichts unternommen, um den Opfern zu helfen. Sie haben uns lange im Stich gelassen und dann ein Protektorat etabliert. Es kamen 60’000 Nato-Soldaten. Hauptaufgabe dieser SFOR-Truppe war die Verhaftung von Radovan Karadzic und Radgo Mladic. Beide sind immer noch auf freiem Fuss…

Weiss man, wo diese sich aufhalten?

Ja sicher, es sind politische Gründe, weshalb sie nicht verhaftet werden.

Die internationalen Truppen sind eigenartig. Die Spanier als Katholiken sind im kroatischen Teil stationiert, die Franzosen im serbischen und die Türken dort, wo mehrheitlich Moslems leben. Auf diese Art und Weise unterstützen sie die Teilung des Landes, anstatt uns zu helfen, die Teilung aufzuheben. Wir Bosnier sind ethnisch vielfältig und gemischt. Wir leben schon jahrtausendelang miteinander. Nur mit jenen, die Kriegsverbrechen begangen haben, können wir nicht zusammen leben.

Schützen die internationalen Truppen die Menschen in Bosnien?

Nach dem Krieg gab es grosse Spannungen und wir waren froh über die ausländischen Truppen und Polizisten. Aber ich muss sagen, dass wir heute sehr enttäuscht sind. Diese Soldaten haben absolut keine Ahnung von Bosnien!

Sie sind zwar schwer bewaffnet und gut ausgebildet, jedoch nur um in der Gefahr sich selbst zu schützen und nicht etwa die bosnische Bevölkerung. Leider reagieren sie häufig auch ganz falsch und beschützen nicht die Menschen in Not.

Ein Beispiel ist die Feier zur Grundsteinlegung für den Wiederaufbau der im Krieg zerstörten Ferhat-Pascha Moschee in Banja Luka im Jahr 2001. Eine Menge serbischer Demonstranten bewarf die zur feierlichen Zeremonie angereisten muslimischen Bosnier und Vertreter des diplomatischen Korps in BiH, darunter auch Jacques Klein und verschiedene Botschafter, mit Steinen und griff sie tätlich an – und die Soldaten sahen nur zu. Das Resultat dieses Zwischenfalles war ein Todesopfer und sehr viele Verletzte.

Viele BosnierInnen sind der Meinung, dass sich die ausländischen Truppen vor ihrer Entsendung gründlicher und sorgfältiger mit der Kultur von BiH und seinen Einwohnern beschäftigen sollten.

Es gibt Studien von Amnesty International die aufzeigen, dass mit Internationalen Militäreinsätzen Frauenhandel und Zwangsprostitution stark zunehmen. Wie erlebst du dieses Problem in Bosnien?

Solche Berichte von Amnesty gibt es auch zu Bosnien. 1995 wurden die Soldaten nicht an den Grenzen des Landes aufgestellt, sondern nur zwischen den beiden ethnischen Gruppen, also zwischen der Republika Srpska und der Föderation. Währen sie an den äusseren Grenzen gestanden, hätten sie eher etwas machen können gegen den Frauenhandel und andere Verbrechen.

An einer Konferenz unseres Frauennetzwerks haben Frauen von Bordellen berichtet, in denen Frauen zur Prostitution gezwungen werden. Und sie haben beobachtet, wie SFOR Soldaten diese Lokale besuchten.

Auch jetzt noch?

Ja, diese Konferenz fand 2003 statt. Ich weiss nicht, ob es seither besser wurde, aber ich glaube nicht. Die SFOR Soldaten haben viel Geld und besuchen diese Nachtklubs. Anstatt dass sie Razzien machen und die Besitzer angeklagt würden!

Die Schweiz will sich an der EUFOR-Truppe symbolisch mit 20 Soldaten beteiligen. Was hältst du davon?

Die Schweiz macht einiges für den Wiederaufbau und die Suche nach Vermissten. Aber leider hat sie während dem Krieg wie die anderen Länder gewartet und nichts gesagt. Jetzt läuft in Bosnien der Friedensprozess, der Krieg ist vorbei. Die Soldaten sollten den Wiederaufbau mit logistischer Arbeit unterstützen und Kriegsverbrecher verhaften. Neun Jahre nach Kriegsende haben die Truppen nicht viel erreicht. Die Kriegsverbrecher sind noch immer auf freiem Fuss und regieren in der Republika Srpska sogar weiterhin im Hintergrund. Die EUFOR sollte eine Sondereinheit bilden, welche für die effektive Verhaftung von Kriegsverbrechern zuständig ist. Nur für diese Aufgabe benötigen wir fremde Soldaten in unserem Land, sonst nicht.

Dieser Einsatz wird die Schweiz jährlich 5.4 Millionen kosten. Ist dieses Geld am richtigen Ort investiert?

Das Geld würde besser verwendet, um die bosnische Polizei und Armee zu finanzieren. Wäre ich Parlamentarierin, würde ich dies Vorschlagen.

Du hast die Zusammenarbeit mit dem Tribunal für Kriegsverbrechen von Den Haag angesprochen. Wie gut ist die Arbeit des Tribunals?

Die Arbeit des Tribunals ist wichtig, aber das grosse Problem ist, dass die Zeuginnen nicht ausreichend geschützt werden. Nachdem sie vor Gericht ausgesagt haben, erhalten sie gerade mal Schutz für 24 Stunden. Häufig sitzen sie auf dem Rückflug im selben Flugzeug wie die Anwälte der Angeklagten und es ist sogar schon geschehen, dass Frauen, die Vergewaltigungen und Misshandlungen erlebt haben, den Platz direkt neben einem solchen Anwalt erhalten haben. Während des ganzen Fluges wurden sie durch diesen eingeschüchtert und provoziert.

Für die Zeuginnen ist es sehr schwierig, vor dem Gericht über Vergewaltigung und Misshandlungen zu sprechen. Wenn sie nach BiH zurückkommen, sind sie grosser Gefahr seitens der Angehörigen der Angeklagten ausgesetzt. Sie sind vollkommen verängstigt und erhalten keinen Schutz. Das Tribunal sieht zwar ein, dass das ein Problem ist, aber sie sagen, es gäbe keine Möglichkeiten ihrerseits für einen besseren Zeugenschutz.

Was braucht Bosnien für eine politische Entwicklung?

Die Verhaftung und Verurteilung der beiden Hauptkriegsverbrecher Karadzic und Mladic sowie ihrer Mittäter ist die Basis für die Zukunft Bosnien-Herzegowinas.

Der Staat BiH braucht eine neue Verfassung, mit welcher eine Umstrukturierung der Staatsverwaltung und die Aufhebung des Teilstaates Republika Srpska, welcher unter Genozid und Vertreibung der nichtserbischen Bevölkerung entstanden ist, möglich wird.

Als Resultat dieser Veränderungen kann BiH zum Kandidaten für die EU-Mitgliedschaft werden.

Ebenso ist die wirtschaftliche Entwicklung eine der zentralen Fragen. Wir haben heute 41% Arbeitslosigkeit. Es gibt viele kluge junge Leute, doch sehen sie keine Perspektive in BiH und träumen vom Leben im Ausland. Sie sollen jedoch nicht auswandern, denn allein sie können BiH wiederaufbauen und das Land Europa näher bringen. So werden sie die Möglichkeit erhalten, auch in BiH erfolgreich arbeiten zu können. Ohne wirtschaftliche Unterstützung anderer Länder schaffen wir das nicht. Es reicht nicht, nur einige Soldaten zu schicken!

Mit der wirtschaftlichen Entwicklung werden die politischen Fortschritte kommen. Die schlechte ökonomische Situation macht den Menschen das Leben schwer.

Was hältst du von der heutigen politischen Situation, mit der Verwaltung durch den Hohen Repräsentanten Lord Ashdown?

Wir haben eine unglaublich komplizierte Verwaltung aus 280 Ministerien – eine Folge des Dayton Abkommens. Wir hoffen, dass die Zwangsverwaltung bald aufhört. Es wird so viel Geld dafür verschwendet, und trotzdem gibt es keine Entwicklung. Unser Land steht seit 10 Jahren still.

Unsere Politiker machen nichts selber. Sie sagen immer: «Wir werden den Hohen Repräsentanten fragen.» Oder: «Was wird der Hohe Repräsentant dazu sagen?». Sie sind nicht selbständig, und das ist gefährlich. Der einzige Weg ist, dass wir das Land in unsere Hände nehmen und selber unsere Probleme zu lösen versuchen. Die internationalen Funktionäre schreiben phantasievolle Berichte, in denen alles positiv und perfekt tönt, die aber einfach nicht stimmen. Sie schreiben nicht unseretwegen, oder der Kriegsopfer wegen, sondern nur für ihre eigene Karriere. Die Hohen Repräsentanten waren meist völlig unbekannt, bevor sie nach Bosnien kamen. Danach erhielten sie alle höhere Funktionen und sind in ihrer Karriere aufgestiegen.

Wie stellst du dir die internationale Hilfe vor? Man könnte wohl nicht einfach den Hohen Repräsentanten wegnehmen und das Geld der bosnischen Regierung zur Verfügung stellen?

Natürlich nicht, denn in unserer Regierung gibt es viel Korruption. Aber Korruption gibt es auch bei der Internationalen Gemeinschaft. So ist ein grosser Teil der Entwicklungshilfe für BiH für die Gehälter der Beschäftigten bei der internationalen Administration aufgewendet worden.

Das Geld würde ich nicht den Politikern geben. Es muss direkt investiert werden, zum Beispiel in Fabriken oder kleinen Produktionsbetrieben, die zum wirtschaftlichen Aufbau beitragen.

Wie stark sind die ethnischen Spannungen heute in Bosnien noch präsent?

Ich arbeite mit serbischen, kroatischen, muslimischen und jüdischen Frauen gemeinsam. Sarajevo ist eine kosmopolitische Stadt. Ich stamme aus einer gemischten Familie. Ich selber bin Moslem. Meine Tochter hat während dem Krieg einen kroatischen Katholiken geheiratet, dessen Vater serbisch-orthodox ist. Ein grosser Teil der Bevölkerung von BiH ist familiär ethnisch gemischt und sehr tolerant. Die meisten haben diese Einstellung, aber es gibt leider auch Fanatiker – wie überall auf der Welt auch.

Wir brauchen kein Militär, um in einer multiethnischen Gesellschaft leben zu können. An einem Platz in Sarajevo steht eine Moschee, gegenüber eine grosse katholische Kathedrale, dann steht da noch eine orthodoxe Kirche und auch eine Synagoge! Und dies seit hunderten von Jahren. Es ist so schön, wenn gleichzeitig der Gesang von der Moschee und das Läuten der Glocken erklingen. Während des Krieges wurde versucht, diesen multiethnischen Staat zu zerstören. Aber die gemeinsame Tradition war stark genug und kommt jetzt wieder zum Vorschein. Sogar in Srebrenica, wo die schlimmsten Kriegsverbrechen begangen wurden, können die Leute wieder zusammenleben.

Mit der schweizerischen GfbV Sektion haben wir ein Projekt zur Unterstützung der Rückkehrer. Wir geben muslimischen Frauen Kühe oder Schafe, welche wir in Serbien gekauft haben. Wenn die Kuh ein Kalb hat, so soll die Frau das Kalb einer serbischen Frau schenken. So verbinden wir die Völker wieder miteinander.

 


 

 

Frau Memisevic studierte Geschichte und dozierte an der Philosophischen Fakultät der Universität von Sarajevo. Nach dem Krieg in Bosnien-Herzegowina (BiH) gründete sie die bosnische Sektion der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV), als deren Präsidentin sie sich seither für die Opfer des Krieges engagiert.

 

 

 


Krieg in Bosnien-Herzegowina

Im Laufe der Teilung Jugoslawiens erklärte BiH am 17. Oktober 1991 seinen Austritt aus dem jugoslawischen Staat und wurde im April 1992 international anerkannt. Der Staat Jugoslawien, zu dem noch Serbien und Montenegro gehören, sowie Teile der serbischen Bevölkerung Bosniens akzeptierten die Unabhängigkeit nicht. Es kam zum Krieg, der ethnischen Vertreibungen, Massenmorden und -vergewaltigungen, Deportationen und Konzentrationslager mit sich brachte. Die internationale Gemeinschaft versuchte zu vermitteln, leider ohne Erfolg, und etabliert im März 1993 Uno-Schutzzonen in Bosnien. Am 11. Juli 1995 eroberten serbische Truppen unter dem Kommando von Ratko Mladic die demilitarisierte Schutzzone Srebrenica und richten ein Massaker an. Je nach Quelle wurden zwischen 3’000 und 12’000 Knaben und Männer, alles Zivilisten, ermordet.

Ende 1995 wurde das Dayton-Abkommen unterzeichnet. Es fixierte die ethnische Aufteilung Bosniens und definierte eine Schutztruppe der Nato, die mit einem Uno-Mandat versehen wurde. Seither steht das Land unter internationaler Verwaltung. Die Landeswährung ist die Konvertible Mark (KM).

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