Irak: Über Leichen gehen

Mord und Gewalt sind im US-«befriedeten» Zweistromland an der Tagesordnung. Flucht oft der einzige Ausweg.

Von Karin Leukefeld*

«Ich habe es mit eigenen Augen gesehen, Männer in Uniformen hatten auf der Strasse einen Checkpoint aufgebaut, sie hielten ein Auto an, die Insassen, eine Mutter mit ihren Kindern, mussten aussteigen, und sie wurden alle erschossen, sogar das Baby!» Abu Maan reibt sich die Tränen aus den Augen, während er erzählt: «Ist das Demokratie?» Abu Maan ist ein kräftiger Mann von 68 Jahren, seit frühester Jugend hat er in Adhamiya (Bagdad) gelebt. Viele Regierungen hat Abu Maan kommen und gehen sehen, König Feisal in den 1950er Jahren, Abdulkerim Qasim in den 1960er Jahren und schliesslich auch Saddam Hussein. Doch was seit der US-Invasion 2003 in seinem Land geschieht, das gab es noch nie, sagt Abu Maan. Dreimal hat man ihn entführt, er wurde geschlagen und beleidigt. Um einer vierten Entführung zu entgehen, packte er seine Sachen, nahm seine Familie, verliess Geschäft und Haus und floh nach Damaskus. Acht Monate ist das jetzt her, wann er zurückkehren kann, weiss er nicht. Kriminelle seien das, sagt Abu Maan. Nie zuvor hätten sie im Irak unterschieden, ob jemand Sunnit oder Schiit gewesen sei, «wir alle folgen dem Propheten, und unser Buch ist der Koran.»

Entführungen an der Tagesordnung

Ein unbekannter Iraker, der sich «Abu Mhmd» nennt, verschickt seine Beobachtungen per E-Mail in alle Welt. Es seien schiitische Milizen, die «Verbrechen an Sunniten» begehen, schreibt er. Verkleidet als Soldaten des Innenministeriums hätten sie kürzlich einen Konvoi von irakischen Pilgern angegriffen, die von der Hadsch, der Pilgerfahrt nach Mekka, zurückkehrten. Fünf Personen hätten sie mitgenommen, die anderen ihrem Schicksal in der Wildnis überlassen, nicht ohne sie vorher auszurauben. Einige der Pilger hätten sich bis Bagdad durchgeschlagen, der Rest sei verschollen. Ungestraft könnten diese Banden agieren, schreibt Abu Mhmd, «sie kommen, sperren die Strassen, betreten das Gebäude, das sie sich ausgesucht haben, und nehmen alle Männer mit.»

Wer nachweislich Schiit sei, werde freigelassen, während die Sunniten zu Tode gefoltert würden.

Wer immer für das Grauen verantwortlich ist, für Iraker ist Flucht oft der einzige Ausweg. Nach UN-Angaben leben inzwischen 40.000 Iraker im Libanon, 80.000 in Ägypten, eine unbekannte Zahl in der Türkei, 700.000 in Jordanien und mehr als eine Millionen in Syrien. Keine Erwähnung finden die Iraker in den Arabischen Emiraten, Jemen und Katar. Nichtregierungsorganisationen gehen davon aus, dass in Jordanien und Syrien jeweils die doppelte Zahl von Flüchtlingen lebt.

Die Gewalt im Irak nimmt weiter zu

 

Flucht als einziger Ausweg

Im Irak boomt das Geschäft mit der Flucht. Ra’ad Farouk (34), ein Mitarbeiter im irakischen Gesundheitsministerium, zahlte für sich und seine Frau 25.000 US-Dollar an einen «Auswanderungsmakler», um sich Asyl in Schweden zu kaufen. Um das Geld bezahlen zu können, verkaufte er sein Haus. Vor einem Jahr lag der Preis pro Person noch bei 5.000 Dollar. Nun soll er weitere 10.000 US-Dollar zahlen. «Ich weiss nicht, ob der Mann wirklich integer ist», meinte Ra’ad gegenüber Mitarbeitern des UN-Informationsdienstes IRIN. Seine Freunde hätten ihm gesagt, der Makler habe gute Kontakte zu den skandinavischen Botschaften in Amman. Die «Auswanderungsmakler» in Bagdad bieten Asylpapiere für Dänemark, Schweden und Finnland, Deutschland, Grossbritannien und Kanada an. Ein gewisser Abu Khudaifa, der sein Maklergeschäft mit einem Lebensmittelladen getarnt hat, erklärte, die Leute wüssten, dass sie ihr Geld nicht zurückerhielten, falls die Papiere nicht beschafft werden könnten. «Wir müssen hohe Bestechungssummen zahlen, die wir natürlich auch nicht zurückbekommen.» Bisher seien täglich rund zehn Iraker zu ihm gekommen, doch inzwischen seien es an manchen Tagen dreimal so viele. Nach Angaben der schwedischen Einwanderungsbehörde wurden im vergangenen Jahr 9.000 Visumsanträge von Irakern gestellt, Dänemark meldete 5.000 Anträge. Nach UNHCR-Angaben ist das ein Anstieg um 50 Prozent gegenüber 2005.


*Freie Journalistin, Damaskus. Erstveröffentlichung in: junge Welt, 18. Januar 2007

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