Zwischen Juni und September haben in Japan dieses Jahr Hundertausende gegen die Pläne von Premierminister Shinzo Abe protestiert, um Auslandeinsätze der japanischen Armee zu ermöglichen. Die Demonstrationen bringen auch das Misstrauen einer Jugend zum Ausdruck, die von der Nuklearkatastrophe von Fukushima traumatisiert ist.
Seit mindestens zehn Jahren versuchen konservative Kräfte den Artikel 9 der japanischen Verfassung zu streichen. Der sogenannte Pazifismus-Artikel fordert: «In aufrichtigem Streben nach einem auf Gerechtigkeit und Ordnung gegründeten internationalen Frieden verzichtet das japanische Volk für alle Zeiten auf den Krieg als ein souveränes Recht der Nation und auf die Androhung oder Ausübung von Gewalt als Mittel zur Beilegung internationaler Streitigkeiten. Um dieses Ziel zu erreichen, werden keine Land-, See- und Luftstreitkräfte oder sonstige Kriegsmittel unterhalten. Ein Recht des Staates zur Kriegsführung wird nicht anerkannt.»
Die erste Regierung von Shinzo Abe (2006 bis 2007) hatte die Streichung des Artikels bereits in ihr Programm aufgenommen. Seit die Liberal-Demokratische Partei (LDP) Abes 2012 an die Macht zurückgekehrt ist, haben sich die Angriffe auf den Artikel 9 noch einmal intensiviert. Abe verkündete, dass er Japan «normalisieren» wolle, in dem Sinne, dass es Japan wie jedem anderen «normalen» Länder erlaubt sein soll, an «Operationen der kollektiven Selbstverteidigung» ausserhalb seines Territoriums teilzunehmen. Die Regierung argumentiert zwar mit den Gefahren des globalen Terrorismus, der Verbreitung von Atomwaffen und des Cyberkriegs. Aber es ist offensichtlich, dass die Motivation vor allem von geostrategischen und wirtschaftlichen Interessen herrührt, insbesondere angesichts der wachsenden wirtschaftlichen und militärischen Stärke Chinas.
Pazifistische Proteste
Schon 2005 hatten japanische PazifistInnen die «globale Kampagne für den Artikel 9» gestartet. Anlässlich einer Konferenz, an der mehr als 30’000 Personen teilnahmen, erhielt die Bewegung 2008 namhafte internationale Unterstützung von NobelpreisträgerInnen und Intellektuellen. Dennoch ist die Protestbewegung von 2015 eine grosse Überraschung. Innert weniger Monate gelang es der jungen Studierendenorganisation «Students Emergency Action for Liberal Democracy» (SEALDs), Zehntausende auf die Strasse zu bringen, um gegen das Gesetz zu protestieren, das den japanischen «Selbstverteidigungskräften» die Teilnahme an Auslandeinsätzen erlaubt.
Die ideologischen Grundlagen, die Slogans und die Demonstrationsformen dieser Bewegung unterscheiden sich zum Teil von pazifistischen und Antikriegs-Protesten in Europa oder Nordamerika der letzten Jahrzehnte. Sie zeugen auf jeden Fall von einem sehr starken Widerstand gegen den herrschenden Diskurs und einem starken Willen einer jungen Generation, sich zu engagieren.
Das Parlament, in dem die LDP Abes die Mehrheit hält, hat das umstrittene Gesetz bereits verabschiedet, aber es ist möglich, dass das Gesetz für verfassungswidrig erklärt wird. Die pazifistischen Proteste werde noch mindestens bis zu den Wahlen 2016 weitergehen. Dann wird die LDP versuchen, eine Zweidrittelmehrheit zu erreichen, die nötig ist, um die Verfassung zu ändern.