Kolumne

Wir schreiben 1999. Ein Dorf im Kosovo, in Europa. Ein Dorf wird von serbischen Truppen an einem Nachmittag Ende März umzingelt. Den albanischen BewohnerInnen wird mitgeteilt, dass sie in einer Stunde das Dorf zu verlassen hätten. Nachdem sich die Kolonne der Vertriebenen in Bewegung gesetzt hat, eröffnet ein Dutzend maskierter Männer das Feuer auf sie. Eine Mutter sieht ihren fünfzehnjährigen Sohn zusammenbrechen, ihr zweiter Sohn wird in die Schulter getroffen.
Diese Frau ist eine jener zahlreichen Flüchtlinge, die ihre Geschichte den Delegierten von Amnesty International erzählt haben. Sie lebt jetzt in einem albanischen Flüchtlingslager. Wird ihr jemals Gerechtigkeit widerfahren?
Die Tragödie in Kosovo ist auch eine Tragödie der Menschenrechte. Die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen der vergangenen Monate zeigen, wie zerbrechlich die Vorstellung von der Allgemeingültigkeit der Menschenrechte ist. Die Vertreibungen, Hinrichtungen, das ´Verschwindenlassenª von Menschen, deren Zeugen wir geworden sind, muss jede Selbstgefälligkeit in uns, die wir für die Menschenrechte arbeiten, ersticken und uns an den Fortschritten zweifeln lassen, die seit 1948, dem Jahr der Erklärung der Menschenrechte, erzielt worden sind. Die langen Flüchtlingskolonnen halten uns die unbewältigten Aufgaben vor Augen.
Die Tragödie im Kosovo kam für Amnesty nicht überraschend. Seit mehr als zehn Jahren informiert Amnesty regelmässig über die systematischen Menschenrechtsverletzungen im Kosovo. Wenige der Opfer sind für das erlittene Unrecht entschädigt worden. Noch seltener mussten die Täter sich vor einem Gericht verantworten. Die Dokumentationen von Amnesty, aus denen ersichtlich ist, dass den Kosovo-AlbanerInnen die elementarsten Rechte verweigert wurden, haben die internationale Gemeinschaft während Jahren vor einer Katastrophe gewarnt.
Heute fragt sich Amnesty, warum diese lautstarken Appelle überhört werden konnten. Wird ein Friedensabkommen garantieren können, dass die Menschenrechtsverletzungen nicht andauern?
Die Verhandlungen über eine friedliche Lösung im Kosovo werden bald, zehn Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer, die letzte Gelegenheit sein, den Menschenrechtsverletzungen, Vertreibungen, der blinden Repression, deren Opfer ein ganzes Volk ist, und der Straflosigkeit der Täter ein Ende zu setzen. Dazu müssen jedoch vorbeugende und neuartige Massnahmen entwickelt werden; insbesondere müssen die VertreterInnen der Zivilgesellschaft in den Prozess eingebunden werden.
Es ist Zeit, eine Bilanz zu ziehen. Die internatonale Gemeinschaft wird sich Rechenschaft ablegen müssen über die Warnungen, die sie in den Wind geschlagen, über die Gelegenheiten, die sie verpasst hat, und sie muss sich Gedanken machen über eine präventive Diplomatie, die den Menschenrechten den ihnen gebührenden ersten Platz einräumt. Nur auf diesem Weg kann Kosovo auf den Weg des Friedens und der Gerechtigkeit zurückgelangen.