Wer das Völkerrecht relativiert, um den Nato-Angriff auf Jugoslawien zu rechtfertigen, erweist den Menschenrechten einen Bärendienst. Die Frankfurter Politologie-Professorin Ingeborg Maus antwortet auf die Fragen von Hans Hartmann.
Die Nato hat mit ihrem Angriff auf die Bundesrepublik Jugoslawien geltendes Völkerrecht verletzt. Dennoch halten viele diesen Krieg für gerecht, da er im Namen der Menschenrechte geführt wird. Völkerrecht ist für sie graue Theorie.
Ingeborg Maus: Der Main-Stream des öffentlichen Diskurses, der heute moralische Überlegungen an die Stelle des Rechts setzt, ist über die Funktion konkreter Rechtssysteme zu wenig informiert. Rechtsfragen sind keineswegs theoretischer Natur, sondern entscheiden beispielsweise darüber, ob Menschen am Leben bleiben oder nicht.
Es wird gar argumentiert, die Nato-Intervention setze neue völkerrechtliche Standards.
M: Ich habe während zehn Jahren am Beispiel der nationalsozialistischen Rechtsentwicklung studiert, wie eine rein moralische Argumentation das Recht überhaupt zerstören kann und den Machthabern Gelegenheit gibt, zu definieren, was Moral ist. So konnte im NS-System jeder Rechtsbruch als „moralisch“ angeleitete Setzung neuen Rechts legitimiert werden. Nur kodifizierte, inhaltlich bestimmte Rechtsnormen können politische Macht domestizieren. Und im Unterschied zur Moral kann Recht in einem demokratischen Prozess bestimmt werden.
Das gilt für nationalstaatliches Recht. In den internationalen Beziehungen jedoch…
M: … liegt zwischen moralistischer Politik und Völkerrecht die Grenze zwischen dem Tugendterror der Mächtigen und der Chance auf einen zivilisierten Umgang der Staaten miteinander. Erst der Rechtszerfall macht den „gerechten Krieg“ möglich, in dem der Zweck jedes Mittel heiligt. Im Krieg gegen Jugoslawien beging die Nato zum Schutz der Menschenrechte vielfache Menschenrechtverletzungen. Die Bombardierungen haben viele unschuldige Zivilisten getötet und die massenhaften Vertreibungen überhaupt erst ausgelöst. Dieser Krieg zeigt: Mit militärischen Mitteln lassen sich humanitäre beziehungsweise menschenrechtliche Ziele nicht errreichen.
Internationales Recht unterscheidet sich von nationalen Rechtssystemen. Das Völkerrecht ist kaum demokratisch legitimiert. Steht dahinter nicht einfach eine andere, pazifizierende Moral, die heute mit der Strafmoral des Menschenrechts-Interventionismus kollidiert?
M: Völkerrecht beruht zwar nicht auf demokratischer Gesetzgebung, aber auf einem Geflecht von Vertragwerken. Dennoch ist es ein Verfahren und nicht ein moralisches Prinzip. Die UN-Charta wurde nach den verheerenden Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges als verfahrensförmige Friedensordnung konzipiert. Sie will die inhaltlichen Ziele „Frieden“ und „Menschenrechte“ durch verbindliche Prozeduren erreichen.
Zeigt nicht die Selbstzerfleischung Jugoslawiens, dass das Völkerrecht heute der Achtung der Menschenrechte im Wege steht?
M: Die UN-Charta gibt der Überzeugung Ausdruck, dass nur ein Frieden auf der Basis zwischenstaatlichen Rechts die Voraussetzungen dafür schafft, dass Menschenrechte eingehalten werden. Wenn sich Staaten immerzu voreinander fürchten müssen, bleibt wenig Spielraum für die Entfaltung innerstaatlicher Freiheits- und damit Menschenrechte. Die Charta will daher die Menschheit von der Geissel des Krieges befreien und damit zugleich die Einhaltung der Menschenrechte „fördern“, so heisst es darin wörtlich. Dagegen ist ihr die Vorstellung fremd, Menschenrechte könnten mit kriegerischen Mitteln erzwungen werden. Wer die UN-Charta bricht, verstösst daher nicht nur gegen den Buchstaben des Völkerrechts, sondern auch gegen die Idee der Menschenrechte. Genau das hat die Nato getan.
Nach Kapitel 7 der UN-Charta kann die Uno allerdings die bewaffnete Intervention gegen einen souveränen Staat beschliessen, wenn von ihm eine Gefahr für den Weltfrieden ausgeht.
M: Es gibt die Tendenz, die Absicht dieses Kapitels mit wilden Interpretationen umzubiegen. Jeder beliebige innere Konflikt oder eine unbefriedigende Menschenrechtslage scheinen den an einer Intervention interessierten Mächten als Vorwand dafür zu genügen, um von einer Gefährdung des Weltfriedens zu reden.
Die UN-Charta verteidigt die Souveränität der Staaten gegen äussere Eingriffe vehement, mit der eng definierten Ausnahme in Kapitel 7. Dafür gibt es gute Gründe, denn mit Souveränität ist ja auch Volkssouveränität gemeint. Das bedeutet, dass jedes Staatsvolk einen autonomen Weg in Richtung Demokratie und Respektierung der Menschenrechte gehen darf. Bezogen auf den aktuellen Konflikt schützt das Völkerrecht also nicht Milosevic und seine Clique, sondern die Souveränität der Bürger und Bürgerinnen der Bundesrepublik Jugoslawien, ohne gewaltsame Eingriffe von aussen ein demokratisches und menschenrechtskonformes System entsprechend eigenen Lernprozessen durchzusetzen. Wer heute Menschenrechte einerseits, Völkerrecht beziehungsweise Souveränität andererseits einander entgegenstellt, löst diesen gut durchdachten Zusammenhang auf.
Muss die internationale Politik den Menschenrechtsverletzungen untätig zuschauen, bis jedes Land ein solches System etabliert hat?
M: Eine echte humanitäre Intervention müsste versuchen, indirekt Einfluss zu nehmen: durch Unterstützung demokratischer Strömungen, ökonomische Hilfe und Anreize für eine rechtsstaatliche Entwicklung.
Nun rechtfertigt die Nato ihren Krieg gegen Jugoslawien mit dem ausserordentlichen Ausmass der Menschenrechtsverletzungen, ohne gleich das ganze Völkerrecht über Bord zu werfen. Sie behauptet lediglich, es sei in diesem Fall nicht anwendbar gewesen. Wer jetzt völkerrechtlich argumentiere, befinde sich im Elfenbeinturm.
M: Es ist genau umgekehrt: Die Moralisten sitzen im Elfenbeinturm. Sie abstrahieren vom konkreten Konliktverlauf im ehemaligen Jugoslawien. Der Westen, und allen voran Deutschland, hat seit Beginn der Jugoslawienkrise immer zugunsten einer ethnisch definierten Souveränität interveniert und so die Integrität des multikulturellen Jugoslawiens untergraben, obwohl es ethnisch homogene Populationen gar nicht gab. Dies begann mit der Anerkennung Kroatiens als eigenständigem Staat, zu einem Zeitpunkt, als die jugoslawische Gesellschaft noch um eine friedliche Weiterentwicklung ihres nationalen Selbstverständnisses rang.
Der ethnische Nationalismus ist in der UN-Charta gar nicht vorgesehen, da er mit dem Menschenrechtsgedanken nicht vereinbar ist. Wenn dort von einem Selbstbestimmungsrecht der Völker die Rede ist, sind immer die Staatsvölker gemeint, die Summe der Menschen, die unter den Bedingungen ein- und derselben Verfassung leben. Die völkerrechtswidrige Einmischung des Westens zugunsten des ethnischen Nationalismus steht am Anfang der ethnisch motivierten Vertreibungen. Wenn sich die Idee weiterhin durchsetzt, dass jede ethnische Identität – über Autonomie hinaus – mit einem eigenen Staat ausgestattet werden muss, ist bald die ganze Welt vermint.
Trotzdem: Die Nato führte diesen Krieg nicht für die Unabhängigkeit des Kosovo. Im Vordergrund stand das Menschenrechtsargument. Halten Sie bewaffnete Interventionen zum Schutz von Menschenrechten immer für illegitim?
M: Ich halte sie prinzipiell für widerrechtlich. Damit ist aber nicht ausgeschlossen, dass in konkreten Ausnahmesituationen eine Intervention faktisch notwendig ist: Bei einem wirklichen Genozid, wie ihn das NS-System an den Juden verübte oder bei einer Menschenschlächterei, wie sie in Kambodscha stattfand. Ein Recht auf eine menschenrechtliche Intervention lässt sich allerdings selbst daraus nicht ableiten, wohl aber eine praktische Notwendigkeit, jenseits rechtlicher Überlegungen zu intervenieren. Das Bewusstsein, ausserhalb des Rechts zu handeln, könnte dann vielleicht eine grössere Rücksicht auf die Verhältnismässigkeit der Mittel sichern und beispielsweise die Flächenbombardierung der Zivilbevölkerung verhindern.
Welche Institution soll aber im konkreten Fall über eine „ausserrechtliche Intervention“ entscheiden?
M: Jedenfalls nicht ein Militärbündnis wie die Nato. Meiner Meinung nach kommt nur die Uno dafür in Frage.
Die ist den Launen der fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates ausgeliefert.
M: Da besteht sicher Reformbedarf. Die Uno muss aber nicht etwa militärisch „effizienter“ werden oder sich gar zu einer Art Weltregierung mit einem Gewaltmonopol entwickeln. Hingegen sollte sie mehr Mittel erhalten, um präventiv gewaltsamen Konflikten vorzubeugen und friedenssichernd nach Kapitel 6 der UN-Charta einzugreifen.
Kann in Zukunft ein internationales Kriegsverbrechertribunal eine grössere Rolle spielen?
M: Realpolitisch ist dies unwahrscheinlich. Die Grossmächte und insbesondere die USA, die nicht mit ihrer eigenen Vergangenheit als Kriegsmacht konfrontiert werden will, werden sich noch lange gegen eine wirklich unabhängige Strafgerichtsbarkeit wehren.
Am Friedenskongress von Den Haag vom Mai dieses Jahres haben Friedensgruppen dennoch eine Kampagne für ein ständiges Kriegsverbrechertribunal gestartet.
M: Ich glaube nicht, dass die Verhängung noch so drakonischer Strafen, das Morden, Totschlagen und Rauben unterbinden kann. Das wird einen internationalen Strafrecht noch weniger gelingen als dem nationalen bisher. Die Besonderheit von Kriegsverbrechen besteht nämlich darin, dass sie in Situationen begangen werden, in denen generell ein Tötungsgebot besteht. Man muss daher die Kriege vermeiden, in denen diese Verbrechen immer wieder geschehen.
* Ingeborg Maus ist Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Frankfurt am Main. Sie hat verschiedene Bücher und Aufsätze zu ideengeschichtlichen und demokratietheoretischen Themen publiziert.