Militärisches Durcheinandertal

Das Verteidigungsdepartement unter Samuel Schmid und die Schweizer Armee sind zum Dauerthema des Sommers 2004 geworden. Hinter den Schlagzeilen steht aber nicht ein mediales Sommerloch, sondern die existenzielle Sinnkrise der Armee.

«Keine Feinde, keine Freunde. Die Armee am Ende.»
(Facts, 8. Juli 2004)

Die Schweizer Armee befindet sich in ihrer tiefsten Sinn-Krise seit hundert Jahren. Ihre Situation entspricht dem Titel von Dürrenmatts armeekritischen Roman «Durcheinandertal» aus dem historischen Jahr 1989. Der Hauptgrund für die Armeekrise ist nicht das Bundesdefizit: Die einstmals heilige Kuh leidet unter dem eigenen Legitimitätsdefizit. Den New Public Managern (NPM), die es ernst meinen mit ihrem Grundanliegen, kann man nur zurufen: «Hic Rhodus hic salta!» Hier gibt es eine staatliche Einrichtung, die keine Aufgabe mehr hat und deshalb überflüssig ist.

Eine Antwort der Armee auf die legitimatorische Lücke ist ihre Verwandlung in eine militärische Multioptionsgesellschaft. Sie drängt sich überall auf, wo die «Produktion von Sicherheit» (NPM-Ton Keckeis) gefragt sein könnte. Die objektive Krise der Armee findet auch einen Ausdruck auf der subjektiven Ebene. Laut einer im August veröffentlichten Umfrage der Berner Zeitung gibt es in der Schweiz fast gleich viele Leute (33 %), welche die Armee grundsätzlich in Frage stellen, wie Leute, die an der Wehrpflicht festhalten wollen (36%).

Das Ende der Landesverteidigung und der Wehrpflicht

An die Aufgabe, die während Jahrzehnten im Mittelpunkt der Legitimationsbemühungen der Armee stand – die Landesverteidigung – glauben heute nur noch die Nationalkonservativen. Möglicherweise macht die SVP an ihrem Sonderkongress die Bekämpfung des Terrorismus zu ihrem neuen Armee-Thema. Ideologisch lässt sich diese gut verknüpfen mit der Fremdenfeindlichkeit. Trotzdem wird auch die SVP nicht wegreden können, dass in den letzten Jahren auf globaler Ebene alle Zeichen dafür sprachen, dass der Terrorismus mit militärischen Mitteln nicht angegangen werden kann.

«Achtung! Abschaffen! Warum die Schweiz keine Armee mehr braucht.»
(Weltwoche, 8. Juli 2004)

Weiter werden sich die Traditionalisten um eine Wehrpflicht sammeln, die immer weniger eine allgemeine ist. Ein Teil der linken Wehrpflichtgegner schlägt als Ersatz zur allgemeinen Wehrpflicht eine allgemeine Dienstpflicht vor. Doch eine Zwangsverpflichtung ist unsinnig: Erstens ist eine solche ein Affront gegenüber den Frauen, die den Grossteil der erzieherischen und sonstigen Gratisarbeit leisten. Zweitens beeinträchtigt sie die Qualität des Service Public. Wer möchte als 80jährigeR von einem Zwangsverpflichteten betreut werden? Drittens können die Dienstleistenden zum Lohndruck missbraucht werden, und das vor allem an Stellen, die hauptsächlich von Frauen besetzt sind. Viertens bedrohen die Zwangsverpflichteten die Arbeitsplätze von Schwachqualifizierten und die Praktikumsplätze von zukünftigen ÄrztInnen und PflegerInnen. Statt für eine Dienstpflicht sollte sich die GSoA offensiv für die staatliche Förderung freiwilliger friedensfördernder Dienste einsetzen. Wir müssen an die Forderungen anknüpfen, die wir mit der Initiative für einen freiwilligen Zivilen Friedensdienst aufgeworfen haben.

Innere Einsätze ohne rechtliche Grundlage

Angesichts der Tatsache, dass die Landesverteidigung überholt ist, ergreift das VBS die Flucht in die inneren Einsätze. Dabei wollten die Armeeplaner vor fünf Jahren noch gänzlich auf die «subsidiären Einsätze im Innern des Landes» verzichten.

«Zielsuche für die Schweizer Armee»
(NZZ, 17. Juli 2004)

Der Hauptgrund für diese radikale Schwerpunktverlagerung liegt nicht in irgendeiner Verschlechterung der inneren Sicherheit. Sie liegt hauptsächlich an gewachsenen Schwierigkeiten, im Ausland Arbeit und damit Legitimation für die Armee zu finden. Hört man etwa Keckeis zu, hat man oft den Eindruck, der Schwarze Block müsse heute den riesigen Platz ausfüllen, den früher die Rote Armee eingenommen hat?

Die Militarisierung der inneren Sicherheit könnte in den nächsten Jahren zu einer Schlüsselfrage werden. Neben der friedenspolitischen Linken wehren sich die Polizei, die Grenzwächter, viele Militärs und Soldaten dagegen. Den jüngsten Stolperstein haben Staatsrechtler gesetzt. Der Freiburger Thomas Fleiner moniert, dass eine derartige Ausweitung der inneren Einsätze die festgeschriebene Kompetenzordnung zwischen Bund und Kantonen in Frage stelle und deshalb eine Verfassungsänderung voraussetze. Der Genfer Professor Giorgio Malinverni sagt, dass die heutige Rechtslage es der Armee nicht erlaube, Polizei «dauerhaft zu ersetzen». Ob Keckeis’ und Schmids Pläne nun verfassungs- oder bloss gesetzeswidrig sind, auf eine Volksabstimmung läuft es ohnehin hinaus. Und eine solche fürchten Militärspitze und VBS wie der Teufel das Weihwasser, vor allem wegen der damit verbundenen öffentlichen Debatte.

Blockade bei den Auslandeinsätzen

Klare Veränderungen hat es zu Ungunsten von Auslandeinsätzen gegeben. Der Kosovo steckt in einer politischen Sackgasse. Mit dem Afghanistan- und dem Irakkrieg hat die Perspektive, aus der militärische Interventionen beurteilt werden, zudem drastisch gewechselt. In Abu Ghraib und Guantanamo haben sich nicht nur Bush’s Aussichten verdüstert. Alle militärischen Interventionisten aller Länder müssen künftig gegen diese schauerlichen Bilder ankämpfen. Dass die Nähe des Humanitären zum Militärischen für die zivilen Helfer katastrophale Folgen hat, illustriert die Begründung der Médecins sans Frontières für ihren Rückzug aus Afghanistan nach 24 Jahren Tätigkeit. Der «humanitäre Krieg» der westlichen Militärbündnisse hat sich als das entlarvt, was er bereits in den 1990er Jahren gewesen ist: eine gigantische Kriegslüge.

«Es gibt Anfang des 21. Jahrhunderts keine einzige Aufgabe fürs Schweizer Militär, die unbestritten ist.»
(Sonntagszeitung, 8. August 2004)

Die militärische Marginalisierung der Uno schwächt die Legitimität von Auslandeinsätzen zusätzlich. UNO-Mandate, die wie beispielsweise beim aktuellen Bosnien-Einsatz der EU, an der sich die Schweizer Armee beteiligen will (“>siehe hier), am Schluss allenfalls noch nachgeliefert werden, haben keine grosse Bedeutung mehr.

Anstatt die Beteiligung an solchen Interventionen von Koalitionen westlicher Militärmächte zu fordern, sollte sich die friedenspolitische Linke in der Schweiz dafür einsetzen, dass die Uno als weltweit einzige Organisation mit der Legitimation zu (allenfalls auch militär-polizeilichen) Einsätzen zur Krisenverhinderung und Konfliktlösung sich gegen die Allmachtsansprüche westlicher Militärbündnisse durchsetzen kann.