Nachruf auf Vre Karrer

Ermordet am 22. Februar 02 in Somalia

Als Vre Karrer, Hebamme, Krankenschwester und Dozentin für Krankenpflege, 1993 im Alter von 65 Jahren erstmals ihren Fuss auf somalischen Boden setzte, gab es in Merka keine Krankenstation. Damals herrschte in der 100 Kilometer südlich von Mogadischu gelegenen Stadt Bürgerkrieg – wie im übrigen Somalia auch. Diktator Barre war vertrieben; nun stritten die Kriegsfürsten rücksichtslos um die Macht im verfallenen Staat. Vre gründete zusammen mit Einwohnern Merkas die Krankenstation «Neue Wege», benannt nach der schweizerischen Geberorganisation. Die Krankenstation war lang die einzige medizinische Versorgung in diesem Gebiet. Neben dem Ambulatorium umfasst die Genossenschaft inzwischen eine Landwirtschaftskooperative, eine Schule für Krankenpflege und eine Primarschule für Kriegswaisen. Neu hinzugekommen ist zudem eine Berufsmittelschule. In der gesamten Genossenschaft arbeiten heute über 80 Menschen aus verschiedenen Clans zusammen – ein kleines Wunder im Land der verfeindeten Sippen.
Dieser Text über Vre steht im Nominationsschreiben für den Prix Courage 1996, den die Zeitschrift “Beobachter” verleiht. Vre hätte ihn gewiss verdient, denn sie war die couragierteste Person, die ich je kennengelernt habe. Meine Bestürzung war gross, als ich erfuhr, dass sie am 22. Februar in Somalia erschossen worden war. Die Umstände ihres Todes sind noch immer unklar. Wir wissen nur, dass mehrere Bewaffnete sich nachts gewaltsam Zugang zu ihrem Zimmer verschafften und sie ermordeten. Es handelte sich nicht um einen Überfall, deren Vre schon mehrere mit Zivilcourage und geschicktem Verhandeln überlebt hatte, sondern um gezielten Mord.
Vre war überzeugte Pazifistin und seit langem den Ideen der GSoA verbunden. Bei unserem letzten ausführlichen Gespräch im März 01 betonte sie, wie sehr sie sich freue, dass es die GSoA gebe und junge Leute sich für einen zivilen Friedensdienst einsetzten. Viele Aspekte des zivilen Friedensdienstes hat Vre in ihrer Arbeit im Somalia vorweggenommen und beispielhaft umgesetzt. (Siehe auch Interview in der GSoA-Zitig Nr. 98) Vre war der Überzeugung, dass Konflikte durch Verhandlungen und Gespräche mindestens soweit gelöst werden können, dass beide Seiten damit leben können. Sie war sich jedoch sehr wohl bewusst, dass es “unlösbare” Konflikte gibt – dann, wenn eine Seite absolut zur Gewalt entschlossen ist. Wir hatten immer Angst, dass Vre einmal in eine solche Lage geraten könnte. Leider ist diese Befürchtung eingetroffen. Obwohl wir wissen, dass Mut, Gradlinigkeit, Phantasie und Liebe von kaltem Mord ausradiert werden können, waren wir bestürzt, schockiert und wütend, als es plötzlich am 22. Februar geschah. So wie wir ihren Mut bewundert haben, so sehr trauern wir um sie.
Renate Schoch

Ich wusste gar nicht, dass Vre gerade in der Schweiz war, als ich sie letzten Herbst beim Treffpunkt im Hauptbahnhof Zürich antraf. Wir, ein paar junge Leute aus Zürich, hatten uns da verabredet, um gemeinsam über mögliche Aktivitäten gegen die sich abzeichnende Bombardierung Afghanistan zu diskutieren. Vre, infolge Krankheit gerade in der Schweiz, hatte von der Sitzung erfahren und spontan beschlossen, daran teilzunehmen. An die Sitzung erinnere ich mich noch genau: Vre unter 20 Jugendlichen, die nicht wussten, welche Frau, da unter ihnen sass, lebhaft diskutierendend, rasch Respekt gewinnend. Mit harten Worten kritisierte sie die Kriegserklärungen der USA, schlug vor, nach Genf zur Uno zu reisen, um die Vereinten Nationen zur emanzipierten Rolle aufzufordern. Alles an ihr, ihr Auftreten, ihre Worte, ihre Stimme zeigten auch in diesem Moment, mit welch leidenschaftlicher Energie Vre wieder und wieder eine Botschaft an die Menschen bringen konnte: Krieg ist die falsche Antwort.
Stefan Luzi

 

, ,