Newsletter Ukraine 33

Liebe Leser*innen

Während Eilmeldungen im mittlerweile über einjährigen Liveticker zum Ukraine-Krieg weiterhin im Stundentakt eintreffen, hat sich die Berichterstattung zum Krieg allgemein deutlich verringert. Hintergrundrecherchen und tiefergehende Situationsanalysen wurden etwas rarer. Zum einen, weil die Realität des Krieges eine Übersicht zunehmend erschwert, zum anderen, weil – so schrecklich es auch tönen mag – der Newswert abgenommen hat. Daher widmet sich der vorliegende Ukraine-Newsletter dem konkreten Kriegsgeschehen.

Geografische Ausgangslage

Putins chauvinistischer Plan, die Ukraine zu annektieren, ist ins Stocken geraten. Noch immer befindet sich die Frontlinie tief im (Süd-)Osten der Ukraine, ein Sieg Russlands ist nicht absehbar. Die Frontlinie zieht sich zurzeit durch die Stadt Cherson, vorbei am AKW Saporischja, über Donezk hin zu Bachmut. 

Zurzeit finden vor allem folgende Hotspots Eingang in die mediale Berichterstattung:

Bachmut: In und rund um Bachmut, nahe Donezk, spielt sich noch immer eine der längsten und heftigsten Schlachten im Ukraine-Krieg ab. Seit August 2022 treffen dort russische und ukrainische Streitkräfte aufeinander, was einen enorm hohen Abnutzungskampf zur Folge hat. Die Region wurde auch schon als “Fleischwolf” des Ukraine-Krieges bezeichnet, weil dort besonders viele blutige Kämpfe geführt werden, die  zahlreiche Menschenleben kosten. Nach schweren Kämpfen in den letzten Tagen (Stand 10.5.23) konnten ukrainische Kräfte wieder Gebiete bei Bachmut zurückgewinnen. Beide Seiten bestätigen den teilweisen Rückzug russischer Soldaten insbesondere der Wagner-Truppen (Erklärvideo “Gruppe Wagner”). 

Saporischja: Seit Wochen wird von einer ukrainischen Gegenoffensive gesprochen. Diese Gerüchte werden nun dadurch verstärkt, indem die russischen Besatzer rund um Saporischja (bekannt durch ihr AKW) eine Teilevakuierung angeordnet haben (Stand 9.5.2023). Die evakuierten Menschen, darunter auch Kinder, sollen in ein temporäres Unterbringungslager gebracht werden. Die Stadt Saporischja sei für einen ukrainischen Gegenangriff deshalb so geeignet, weil sie als “Achillesferse der russischen Landverbindung zwischen der Halbinsel Krim und der Ostukraine” gilt. 

Natürlich finden viele Kämpfe und Luftangriffe auch vor und hinter der Front statt. Etwa rücken die Städte Kiew oder Charkiw, aber auch Stützpunkte in Russland, durch Luftangriffe immer wieder in den Fokus der Berichterstattung. Gerade letzte Woche (Anfang Mai) wurden in der Zentralukraine wieder vermehrt Luftschutzwarnungen ausgerufen, da von Russland starke Raketen- und Drohnenangriffe ausgingen. 

Schäden und Verbrechen an Mensch und Natur

Für die grundsätzliche Einordnung dieses Krieges sind weniger die einzelnen Kämpfe relevant. Diese helfen zwar, einzuschätzen, in welchem Stadium sich der Krieg befindet. Viel wichtiger ist jedoch folgendes: Jeder Raketenangriff, jeder einzelne Schuss Feuer und jede Landmine richten einen kaum quantifizierbaren Schaden an. Auf den eigentlichen Verlust eines Angehörigen, das Mit- und Überleben eines Kriegsverbrechens oder den ökologischen Schaden eines Raketeneinschlags in der Natur folgen schwerste psychische Traumata, Aufarbeitungsprozesse oder langfristige Naturschäden. Der soziale und ökologische Wiederaufbau sowie die psychologische Verarbeitung eines solchen Krieges wird Jahrzehnte dauern und zur Löw*innenaufgabe werden. Eine konkrete Anzahl Gefallene in diesem Krieg zu nennen, erscheint falsch. Einerseits sind gerade solche Zahlen oft sehr unglaubwürdig und nicht aktuell, andererseits gibt es eine enorme Dunkelziffer.

Doch auch die Naturschäden, welche der Krieg hinterlassen wird, sind massiv. Die Dokumentation dieser Verbrechen an der Natur ist und bleibt für die Aufarbeitung zentral. Ein ukrainischer Umweltaktivist meinte letztes Jahr gegenüber dem guardian: “Ein Teil der schwerwiegenden Schäden, nicht nur der Umwelt-, sondern auch der Wirtschaftsschäden, wurden nicht ordnungsgemäss dokumentiert. Die Ukrainer*innen versuchen, alles so schnell wie möglich zu reparieren. Aber man muss alles dokumentieren, wenn man eine Entschädigung erhalten will”. Die niederländische Friedensorganisation PAX gehört zu den wenigen, die sich der Beobachtung der Umweltschäden in der Ukraine angenommen haben. Sie stellte Anfang dieses Jahres fest, dass die Natur in einem hochindustrialisierten Land wie der Ukraine besonders betroffen ist. Angriffe auf Standorte der Schwerindustrie für Chemikalien, Ölraffinerien und Atomkraftwerke haben verheerende Folgen für Boden, Luft und Wasser. Das ukrainische Ministerium für Umwelt hält ausserdem fest, dass bereits 20% aller Schutzgebiete des Landes Schaden genommen hätten.

Übrigens:  Im März sprach der internationale Gerichtshof in Den Haag einen Haftbefehl gegen Vladimir Putin aus. Dies wegen Kriegsverbrechen und dem gut belegten Vorwurf, ukrainische Kinder verschleppt zu haben. Ein Beispiel: Putin hat ein Dekret unterzeichnet, um ukrainische Kinder schneller zu russischen Staatsbürger*innen zu machen. Der klare Haftbefehl hat in erster Linie eine starke symbolische Bedeutung, denn Putin kann erst verhaftet werden, wenn er in ein Land reist, das Mitglied des internationalen Gerichtshofes ist. Brisanterweise könnte nun aber tatsächlich genau eine solche Reise bevorstehen. Südafrika, das Russland schon des Öfteren politische Nähe gezeigt hat, soll Zielland sein. Jedoch bringt sich Südafrika dadurch selbst in Bedrängnis, wie der SRF kürzlich verdeutlichte. Um der Forderung nach einer Verhaftung Putins zusätzliche Kraft zu verleihen, hat die Petitionsplattform AVAAZ eine Petition lanciert.

Was sollte die Schweiz tun?

Die Ukraine hat als unabhängiger und territorial integrer Staat Anspruch auf ihr Staatsgebiet, genauso wie die betroffenen Bewohner*innen das Recht haben, ein Leben in einer freien Gesellschaft und nicht in einer russischer Autokratie zu führen. Das ist Völkerrecht. Ein möglichst schnelles Ende der Kampfhandlungen unter der Bedingung, dass die ukrainische Bevölkerung nicht der imperialistischen Weltvorstellung eines Autokraten zum Opfer fällt, wäre für die Zivilbevölkerung wünschenswert. Wie es jedoch hierzu kommen soll, und was danach passiert, weiss niemand. So oder so wird der Wiederaufbau eine Monsteraufgabe und die Schweiz muss dabei eine entscheidende Rolle spielen. Denn wenn die Schweiz endlich aufhören würde, Putins Krieg über den Rohstoffplatz oder die noch immer nicht eingefrorenen Oligarchengelder mitzufinanzieren, so kommt der Frieden näher. Auch die Schweizer Mithilfe am Wiederaufbau wäre mittels der Konfiszierung von russischen Oligarchengelder und dem Erheben einer Kriegsgewinnsteuer bedeutender. 

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