Ohne Direkte Demokratie kein friedliches Europa

Nach der Abstimmung von 1989 wurden in Europa viele engagierte BürgerInnen auf die Schweiz aufmerksam. Weshalb kam aus diesem biederen, konservativen Land die Meldung, dass 35,6% der SchweizerInnen die Armee abschaffen wollen? An unzähligen Treffen mit europäischen BürgerInnen wurde den GSoA-AktivistInnen und den andern EuropäerInnen klar: Ohne Direkte Demokratie in Europa ist eine Friedenspolitik von unten immer auf den Goodwill der Mächtigen angewiesen. Die Frage, wie ein demokratisch verfasstes Europa möglich wird, wurde zum zentralen Thema von eurotopia.

Dass das Gründungstreffen im Mai 1991 in Rostock stattfand, überrascht wenig. Fragten sich doch gerade in den Neuen Bundesländern viele Menschen, die den Zusammenbruch des realexistierenden Sozialismus in der DDR erlebt und gesehen hatten, dass auch im realexistierenden Kapitalismus nicht alles Gold ist, was glänzt, wie die neugewonnene Souveränität der BürgerInnen ausgebaut werden könnte. Das Gründungstreffen mündet im Aufruf für ein «Europa ohne Gewalt: direktdemokratisch, demilitarisiert, ökologisch und solidarisch». Hier begannen die unterschiedlichen Erfahrungen einzelner Menschen zusammenzufliessen im gemeinsamen Projekt, im sich bildenden Europa die Direkte Demokratie als wesentliches Gestaltungsmittel der BürgerInnen einzufordern.

Alle Staaten sind zu klein und zu gross geworden

Die bedrohlichsten Fragen der Gegenwart wie Friede, Neuverteilung der Arbeit oder die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen machen deutlich, dass die Nationalstaaten an Bedeutung verlieren. Demokratie ist bisher nur auf nationalstaatlicher Ebene verwirklicht. Aus diesem Grund verlieren mit den Staaten auch die BürgerInnen an politischen Handlungsperspektiven. Auf transnationaler Ebene handeln bisher nur Unternehmen und Regierungen. Beide entziehen sich der direkten Kontrolle durch BürgerInnen. Nur wenn es gelingt, auch auf transnationaler Ebene demokratische Rechte zu erkämpfen, führt der Verlust an Souveränität der Nationalstaaten nicht zwangsläufig zum Verlust der Souveränität der BürgerInnen. In Europa ist die EU das am weitesten fortgeschrittene Projekt, Politik grenzüberschreitend zu führen. Aus diesem Grund ist die EU zum Kristallisationspunkt der praktischen Arbeit von eurotopia geworden. Macht wird nie freiwillig abgegeben, dies gilt auch für die EU. Um für mehr Demokratie Druck von unten zu machen, brauchen BürgerInnen gemeinsame Vorstellungen eines zukünftigen Europas. eurotopia kämpft für ein Europa, in das die jeweiligen Länder ihre besten Erfahrungen und Errungenschaften einbringen und sich so in Europa wiedererkennen können. eurotopistInnen haben sich deshalb aufgemacht, dieses Europa der BürgerInnen kennenzulernen. Die Halbjahresversammlungen finden deshalb jeweils in einem Land statt, wo Menschen für ein Europa von unten kämpfen und bereit sind, ihre Erfahrungen in den gemeinsamen Prozess einfliessen zu lassen.

Elf Treffen für ein Europa von unten

So fanden bisher elf Treffen in elf europäischen Städten statt, an denen sich über tausend Interessierte beteiligten. An den Treffen wird am Freitagabend über aktuelle regionale Demokratiefragen diskutiert, am Samstag stehen praxisbezogene Beiträge eingeladener Gäste zum Thema transnationale Demokratie zur Weiterentwicklung der eurotopischen Ziele zur Diskussion. Eines davon ist die Erarbeitung eines Verfassungsvorschlags für eine zukünftige EU. Am Sonntagmorgen stehen praktische Fragen der Bewegung im Zentrum. Zwischen den Treffen mischen sich die verschiedenen Regional- und Nationalgruppen mit eigenen Veranstaltungen und politischen Interventionen in den Prozess des sich bildenden Europas ein. Auch wenn der Weg zu einem direktdemokratisch verfassten Europa noch weit ist, so sind mit eurotopia erste Schritte getan.

Adresse: eurotopia, Waghausgasse 4, Postfach, 3000 Bern 7, Tel. 031/311 05 55
Internet: http://www.eurotopia.ch


Ein demokratisches Europa ist eine konkrete Utopie

Andreas Gross ist ein Gründungsmitglied von eurotopia. Im Gespräch mit Martin Bühler erklärt er Ziele und Hintergründe der europäischen BürgerInnenbewegung.

Martin Bühler: Wo siehst Du in Europa ein Bedürfnis nach transnationaler Demokratie oder nach einer Verfassung?

Andreas Gross: Bedürfnisse nach transnationaler Demokratie entstehen überall, wo BürgerInnen die begrenzten Gestaltungskräfte der nationalen Demokratien erkennen und nicht resignieren, sondern merken, dass die demokratischen Rechte ausgebaut werden müssen. In Frankreich wurde dies vielen Streikenden Ende letzten Jahres bewusst: Das europäische Sozialmodell kann nur transnational verteidigt und ausgebaut werden; allein wird jeder Staat und seine sozialen Errungenschaften zum Spielball globaler Märkte, die ihn unterlaufen und erpressen können. Ökologisch denkenden Menschen sind diese Zusammenhänge seit längerem klar. Denken wir nur an AKWs: Von einer Katastrophe wären alle EuropäerInnen unmittelbar betroffen. Weshalb sollen nicht auch alle EuropäerInnen über Anzahl, Ausstattung und Alternativen zu AKWs entscheiden? Auch SchweizerInnen merken dies, wie viele ÖsterreicherInnen oder TschechInnen, am Beispiel der europäischen Verkehrspolitik. So lange diese wie heute von der automobilen Verkehrslobby geprägt wird, die Energie- und Transportkosten viel zu billig bleiben, werden sie ihre Alpentäler und ihre ökologischen Interessen kaum schützen können. Zu viele Menschen wenden sich derzeit aber eher von der Politik ab, als dass sie deren Reichweite ausbauen wollen. Es gehört nicht mehr zum allgemeinen Bewusstsein, dass BürgerInnen gemeinsam handeln und gemeinsam Veränderungen realisieren können, die kein Mensch alleine schafft. Der Ruf nach einer europäischen Verfassung ist noch wenig zu hören. Er setzt ein hohes Bewusstsein, einige demokratische Erkenntnisse und – ebenfalls derzeit nicht selbstverständlich – eine demokratische Kultur voraus, die weiss, dass Reformen nicht ohne die Betroffenen, sondern nur mit ihnen möglich und von Dauer sein können. Zudem haben nicht alle politischen Kulturen in Europa einen Verfassungsbegriff, welcher der europäischen Verfassungsgebung förderlich ist. Dieser Prozess ist erst am Anfang, doch ist er spannend und vielversprechend. Entsprechende Ansätze gibt es seit etwa vier Jahren in zahlreichen Ländern. Im übrigen vertrete ich ein Politik- und Reformverständnis, wonach ich öffentlich und entschieden für meine Erkenntnisse und Überzeugungen auch dann eintrete, wenn noch nicht alle sie teilen. Dies kann manchmal mühselig und undankbar sein, doch auf der Höhe der Zeit zu denken und auf politischem Neuland zu handeln ist für mich befriedigender als dem hinterherzuhumpeln.

Die Ziele von eurotopia sind sehr utopisch, und Du wirst ihre Verwirklichung persönlich kaum erleben. Was motiviert Dich zu Deinem Engagement?

Jede vernünftige Einrichtung, auf die heute viele stolz sind, war einmal eine Utopie. Das gilt für die Abschaffung der Sklaverei über das Frauenstimmrecht und die AHV bis zur UNO oder EU. Wir sollten nicht, wie zu viele andere, konkrete Utopien mit Illusionen verwechseln. Letztere sind nicht zu verwirklichen. Konkrete Utopien sind sinnvolle und an sich mögliche Neuerungen, die aber unseres Handelns bedürfen, bevor sie verwirklicht werden können – nie so, wie wir sie uns heute vorstellen, aber in diesem Sinne und in dieser Tendenz. Es sind reife Früchte, die aber erst gepflückt werden müssen, was oft länger geht und anstrengender ist als in der Natur. Um so wichtiger sind sie in einer Zeit, in der viele wenig Zukunft vor sich sehen. Ich persönlich habe schon erleben dürfen, dass in einer zehnjährigen, harten Arbeit mentale Einstellungen Hunderttausender von Menschen sich änderten, politisch vermeintlich Unmögliches möglicher und denkbarer wurde, dass also Prozesse in Gang zu bringen sind, welche von einigen als utopisch angesehen werden. Solche Erfahrungen ermutigen und zeigen, dass wir nicht zu schnell aufgeben sollten. Wichtig ist dabei die permanente, selbstkritische Reflexion im kleineren Kreis und die ebenso ständige öffentliche Diskussion. Sie sind die Vorraussetzung dafür, dass man sich politisch nicht in Scheinwelten verirrt und dann wirklich in illusionäre Sphären abhebt. Demokratie war bis heute in überschaubaren politischen und geografischen Räumen organisiert. Europa und die kulturellen Unterschiede in Europa sind enorm. Wie können BürgerInnen gemeinsam Projekte entwickeln und in direktdemokratische Handlungsperspektiven umsetzen, wenn sie vom Nordkap bis Athen und von Lissabon bis Prag oder Moskau verstreut leben? In dieser Frage stecken verschiedene Aspekte: Viele heutige Demokratien sind schon sehr gross und gar nicht besonders überschaubar. Denken wir nur an Norwegen, Frankreich, Italien, die USA oder Australien. Zweitens gehört die Differenz zur Freiheit und zur Vielfalt der europäischen Geschichte: Homogene Räume sind eher die Ausnahme und nicht besonders ermutigend. Lebendige Demokratien vermögen schon heute Vielfalt zu gestalten. Früher waren kleine Räume viel grösser als heute beispielsweise der europäische Kontinent. Distanz ist heute weit mehr eine kulturelle Kategorie und keine objektiv geografische. Viele Menschen können sich heute sehr nahe fühlen, auch wenn Hunderte von Kilometern sie trennen. Sie teilen oft ähnliche Werte, Entwürfe, Projekte, Sorgen und Hoffnungen. Viele wissen, wie viel wir gemeinsam haben, was uns wichtig ist, was unser gemeinsames Handeln bedarf. Zu diesem gemeinsamen politischen Handeln und dem gemeinsamen Gestalten unseres Kontinents hatten wir politisch, technisch und kulturell noch nie so gute Voraussetzungen wie heute. Wir leben – das können wir uns durchaus bewusster machen – in sehr privilegierten Zeiten. Vielleicht machen wir zu wenig daraus. Demokratisierung bedeutet immer Verfeinerung der Macht. Jene, die dies nicht wollen, haben immer behauptet, es gehe nicht, weil etwas zu gross oder zu klein, zu heikel oder zu schwierig sei. Es gibt immer Einwände von jenen, die etwas verhindern wollen. Wer etwas will, muss es auch wagen.

Als Mitglied von eurotopia muss mann oder frau sich leisten können, ständig in ganz Europa umherzureisen. Eine europäische Verfassung ist ein sehr abstraktes und theoretisches Thema, das nur wenige interessiert. Kannst Du da wirklich von einer BürgerInnenbewegung und von Druck von unten sprechen?

Als wir vor fünf Jahren eurotopia gründeten, hätten wir vieles von dem, was wir seither erleben konnten, kaum zu hoffen gewagt. Gerade weil das Projekt einer europäischen Verfassung eher abstrakt und neu ist, ist erstaunlich, wieviele sich wie rasch mit diesem Gedanken auseinanderzusetzen beginnen und wie plausibel er vielen scheint. Mangelndes Interesse ist nicht zu beklagen, schon eher fehlendes Selbstvertrauen und mangelnde Kenntnis über die realen Möglichkeiten und alternativen Optionen zu dem, was uns stört und belastet. Selbstverständlich ist noch keine Massenbewegung da und von einem echten politischen Druck kann auch noch nicht die Rede sein. Doch alles Grössere hat einmal klein begonnen. Wer subito alles will, der wartet ewig und erst noch vergeblich. Dies sollte gerade für eine GSoA einsichtig sein. Immerhin veröffentlicht heute die WoZ im übersetzten Le Monde Diplomatique eurotopische Ideen und Vorstellungen, die sie vor drei Jahren noch als idealistisch belächelt und von deren Publikation sie wenig wissen wollte. Vor einem Jahr hätten wir noch kaum gedacht, dass der offiziellen Regierungskonferenz der EU (IGC) eine BügerInnenbewegung (ICC) zur Seite gestellt werden könnte. Diese ICC hat drei verschiedene Wurzeln, eine belgisch-britische, eine französische, eine skandinavisch- deutsch-schweizerische, die alle drei unabhängig voneinander eine ähnliche Idee und eine ähnliche organisatorische Vorstellung hatten, sich im Brüsseler Parlament erstmals trafen und im Herbst zum ersten Mal in Irland zu einer grossen gemeinsamen Konferenz über Demokratie zusammenkommen werden. Oder wer hätte vor einem Jahr zu hoffen gewagt, dass ein junger Schweizer, aus Berlin kommend, in Paris französischen, demokratischen Europäern zeigen kann, dass es ähnlich denkende Deutsche gibt, beide voneinander aber nichts wussten, dank ihm aber zusammenfanden und im Anderen auch mehr vom Eigenen erkennen konnten?

Welche konkreten Handlungsperspektiven bietet eurotopia interessierten Menschen?

Handeln bedeutet zuerst immer denken, diskutieren, sich auf den Weg machen. Hier können wir an Lektüre, Diskussionen und gemeinsamem Nachdenken enorm viel anbieten. Ebenso an neuen gemeinsamen Einsichten, was mehr Mut macht zu neuem Handeln. Vor allem ist eurotopia aber auch eine Bewegung, die jedem und jeder Raum gibt, seine eigenen Wege zu gehen, seine eigenen Ideen einzubringen. Es ist kein fertiges Nest, in das mann oder frau sich einfach setzen kann, sondern ein grosses Projekt, zu dem viele etwas beitragen können.

Realotopia-Verlag, Gartematt Postfach, 8180 Bülach, Tel. 01 860 79 50, Fax 01 862 18 53

 

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