Wer das militärische Konfliktmanagement beherrscht, hat in der globalen Politik des 21. Jahrhunderts Gewicht. Nach dem Rückschlag in Bosnien 1994, als die Nato im Balkan militärisch und politisch das Zepter übernahm, engagiert sich die Uno heute wieder stärker im Peacekeeping. Beinahe 38’000 Soldaten und Polizisten sowie 11’700 Zivilangestellte stehen zur Zeit (am 1. Oktober 2000) in 15 Uno-Missionen im Einsatz.1 Diesen Umschwung brachte letzes Jahr die Entsendung von Uno-Einheiten nach Sierra Leone (UNAMSIL) und Ost-Timor (UNTAET) sowie der Start der zivilen UNMIK-Mission im Kosovo. Für jede dieser Operationen (und für die geplante Operation im Kongo, MONUC) budgetiert die Uno im Zeitraum vom Juli 2000 bis Juni 2001 Kosten von ungefähr einer halben Milliarde Dollar. Insgesamt wird das Peacekeeping in dieser Rechnungsperiode gegen drei Milliarden Dollars kosten – etwa gleich viel wie in den drei vorangehenden Jahren zusammen. Und die budgetierten Zahlen steigen von Monat zu Monat.
Die notorisch finanzschwache Uno, die von ihrem nominell grössten Geldgeber, den USA, seit Jahren an der kurzen Leine gehalten wird, hat sich mit diesem Intensiv-Programm wahrscheinlich übernommen. Denn die Finanzierung der friedenserhaltenden Einsätze ist keineswegs gesichert. Bereits zugesicherte Beiträge im Umfang von 2,5 Milliarden Dollar stehen noch aus. Das zentrale Materiallager für Friedenseinsätze im italienischen Brindisi ist praktisch leergeräumt. Die einzelnen Missionen kämpfen zudem mit politischen Schwierigkeiten: So hat sich beispielsweise Indien, welches nach Nigeria am zweitmeisten Soldaten nach Sierra Leone schickte, aus der UNAMSIL zurückgezogen. Der indische Uno-Oberkommandierende wirft der nigerianischen Armee vor, sich am illegalen Diamantengeschäft mit den Kriegsparteien zu beteiligen.
Die Uno hat generell Mühe, Truppen und Polizisten aufzutreiben, welche die vom Sicherheitsrat bewilligten Kontingente auffüllen.2 Schuld daran sind die reichen Länder des Nordens, die sich lieber im Rahmen der Nato oder – wie etwa neuerdings wieder die britische Armee in Sierra Leone – auf eigene Faust engagieren. In den letzten Jahren mussten die Entwicklungsländer daher für vier Fünftel der UN-Peacekeeping-Truppen aufkommen. Daran wird sich auch kaum etwas ändern, obwohl US-Präsident Bill Clinton Anfang September am sogenannten Uno-Milleniums-Gipfel feierlich dazu aufrief, das Uno-Peacekeeping zu stärken. Mitte November jedenfalls blockierten die USA zusammen mit Russland, China, Frankreich und Grossbritannien einen Vorschlag von Bangladesh, der die fünf permanenten Mitglieder des Sicherheitsrates dazu verpflichten wollte, je fünf Prozent der Truppen bei jedem Uno-Friedenseinsatz zu stellen.
Der «Brahimi-Bericht»
Angesichts dieser Tatsachen ist es verständlich, dass der neuerliche Uno-Peacekeeping-Aktivismus nicht einmal Generalsekretär Kofi Annan ganz geheuer ist. Im März dieses Jahres setzte er eine zehnköpfige Expertenkommission ein, welche unter der Führung des früheren algerischen Aussenministers Lakhdar Brahimi die Probleme der UN-Sicherheitsaktivitäten durchleuchten und Verbesserungsvorschläge ausarbeiten sollte. Ende August legte die Kommission, der neben dem ehemaligen Nato-General Klaus Naumann und Ex-IKRK-Chef Cornelio Sommaruga vor allem hochrangige UN-Insider angehörten, ihren Bericht vor. Das Resultat ist niederschmetternd: Das bisherige System des Peacekeeping steht nach Einschätzung der Kommission vor dem Kollaps, und die im Bericht vorgeschlagenen Reformen seien «das notwendige Minimum, um den Vereinten Nationen die Chance zu geben, eine effiziente, handlungsfähige Institution des einundzwanzigsten Jahrhunderts zu werden».3
Der Brahimi-Bericht zeigt eine ganze Reihe von Problembereichen auf, welche zu den Schwierigkeiten der Uno in den neunziger Jahren beigetragen haben und ihre Handlungsfähigkeit in den kommenden Jahren beeinträchtigen werden. Als wichtiges Hindernis für effektive Krisenprävention wird beispielsweise «der Graben zwischen verbaler Ankündigung einerseits und effektiver finanzieller und politischer Unterstützung präventiver Programme» durch die Mitgliedstaaten andererseits genannt. Der Wiederaufbau wiederum werde durch die Verzettelung der Anstrengungen zwischen mehreren Uno-Unterorganisationen und Abteilungen behindert. Auch für die Abrüstung, Entwaffnung und Reintegration ehemaliger Kämpfer gebe es keine Koordination. Die leitenden Posten bei Friedensmissionen werden je nach politischer Opportunität vergeben, statt nach professionellen Kriterien, bemängelt die Kommission weiter, und Versuche, alle
«Die Zustimmung der Konfliktparteien, Unparteilichkeit und der Einsatz von Gewalt nur zum Selbstschutz bleiben die Grundprinzipien des Peacekeepings.»
Uno-Aktivitäten in einer Konfliktregion aufeinander abzustimmen, scheitern immer wieder an «bürokratischem Widerstand». Ausserdem schafft es die Uno nur, 50 bis 60 Prozent der in den Missionen benötigten zivilen ExpertInnen zu gewinnen; viele von ihnen müssen eine Aufgabe erfüllen, für die sie gar nicht qualifiziert sind, und die Zahl der vorzeitigen Abgänge ist ebenso hoch wie diejenige der Neurekrutierungen.
Noch schlimmer sieht es gemäss dem Bericht im New Yorker Uno-Hauptquartier, dem Departement für Peacekeeping-Operationen (DPKO) aus. Dort müssen 32 Militärexperten und neun Polizeioffiziere den Einsatz von zur Zeit 29’000 Soldaten und 9’000 Zivilpolizisten in den verschiedenen Missionen planen, unterstützen und überwachen. Selbst für die Koordination grosser laufender Operationen stehen in New York bestenfalls ein einziger politischer Beamter, ein Finanzexperte, ein Logistikspezialist und ein Personalmanager zur Verfügung. Das DPKO hat keine Kapazitäten für die strategische Planung der Friedensmissionen insgesamt, es gibt kein brauchbares Frühwarnsystem, ja noch nicht einmal ein Nachrichten- und Informationsbeschaffungszentrum. Die Arbeitsbedingungen sind schlecht, die Personalfluktuation dementsprechend hoch und wie die einzelnen Missionen selbst, schafft es auch das Hauptquartier nur teilweise, die Kontinuität zu bewahren und die erworbenen Erfahrungen weiterzugeben. Um diese unhaltbare Situation zu verbessern, wird Kofi Annan für die nächsten beiden Jahre bei den Mitgliedstaaten 71 Millionen Dollars beantragen. Damit sollen im Hauptquartier 250 neue Stellen finanziert werden.
Robustes Peacekeeping?
Kein Thema ist zur Zeit jedoch die Umsetzung jenes Vorschlags der Expertenkommission, der in der Öffentlichkeitam meisten Aufsehen erregt hat. Dabei geht es um das sogenannte «Robuste Peacekeeping». Die Brahimi-Kommission fordert nämlich, die Uno solle sich nur noch unter bestimmten Bedingungen auf Friedensoperationen einlassen, die nicht vorbehaltlos von allen Konfliktparteien unterstützt werden: Der Sicherheitsrat und die Mitgliedstaaten müssten eine ausreichend grosse Zahl gut ausgebildeter und ausgerüsteter Einheiten bewilligen und auch effektiv in nützlicher Frist zur Vefügung stellen; die Truppen müssten fähig sein, sich selbst und in gewissen Fällen auch die Zivilbevölkerung gegen Übergriffe zu schützen; und das Mandat müsse der Mission auch den nötigen Spielraum einräumen, um zwischen den Aggressoren und den Opfern derartiger Übergriffe zu unterscheiden.
Hintergrund dieser Vorschläge ist die traumatische Katastrophe der Uno-Blauhelme im Bosnienkrieg und speziell beim Fall von Srebrenica. Dass das «Versagen» der Uno damals auch ein Resultat knallharter Interessen- und Konkurrenzpolitik der Nato-Mächte (USA, Grossbritannien) im Sicherheitsrat war, und dass diese Länder auch heute kein Interesse an einem erfolgreichen Uno-Konfliktmanagment haben, blendet die Kommission ebenso aus, wie sie die letztlich entscheidende Frage nach der politischen Reform der Uno und einer Demokratisierung der Entscheidprozesse umschifft.
Immerhin versucht die Kommission nicht, mit dem militärischen Zauberstab die Schwierigkeiten vom Tisch zu wischen, die das auf einem – mehr oder weniger stabilen – Friedenskonsens aufbauende Peacekeeping mit sich bringt. Im Gegenteil: Der Bericht ruft die Uno-Verantwortlichen zu mehr Vorsicht auf. «Statt eine Mission mit unklaren Anweisungen in die Gefahr zu schicken,
verlangt die Kommission vom Sicherheitsrat, eine solche Operation gar nicht erst zu mandatieren», heisst es da etwa, und bezüglich dem Schutz der Zivilbevölkerung: «Es gibt hunderttausende von Zivilisten im Gebiet der heutigen Uno-Missionen, die von Gewalt bedroht sind. Die dort stationierten Truppen könnten selbst mit entsprechenden Anweisungen nur einem kleinen Teil davon helfen. Wer aber solchen Schutz verspricht, weckt sehr hohe Erwartungen. Die grosse Kluft zwischen dem erwünschten Ziel und den verfügbaren Mitteln könnte bei den Betroffenen zu einer langfristigen Enttäuschung über die Uno führen.»
Der Brahimi-Bericht eignet sich also nicht als Projektionsfläche für (friedenspolitische?) Allmachtsphantasien von einer überall intervenierenden Uno, die Menschenrechte mit Waffengewalt durchsetzt. In den wesentlichen Punkten bestätigt er vielmehr die bisherige – zwar unvollkommene aber eben doch auf ein universelles System kollektiver Sicherheit hinarbeitende – Logik des Peacekeepings. So heisst es beispielsweise: «Die Kommission hält fest, dass die Zustimmung der Konfliktparteien, die Unparteilichkeit und der Einsatz von Gewalt nur zum Selbstschutz die Grundprinzipien des Peacekeepings bleiben sollten».
Eher beiläufig erwähnt der Brahimi-Bericht, dass der politische Fokus auf die Beseitigung von Konfliktursachen gelegt werden müsse, dass mit militärischen Mitteln kein Frieden geschaffen werden könne und dass «ein wirksameres System der langfristigen Konfliktprävention» dringend notwendig sei – nur schon, weil die Weltorganisation selbst mit sehr viel mehr Mitteln niemals überall intervenieren könnte. Aus friedenspolitischer Sicht bleiben das zentrale Einsichten.
An präzisen Bedingungen festhalten
Die GSoA hat im Rahmen der Diskussion über das neue Militär drei Minimalbedingungen für den Verzicht auf ein Referendum formuliert: Erstens die strikte Anbindung von schweizerischen Einsätzen an ein Uno- oder Osze-Mandat, zweitens die Beschränkung auf friedenserhaltende (Peacekeeping) – und keine friedenserzwingende (Peace- enforcement) Einsätze – und drittens die Begrenzung der Bewaffnung auf den Selbstschutz im Sinne des UN-Peacekeepings. Die Parlamentsmehrheit hat den Bundesrat gezwungen, die erste Bedingung zu akzeptieren. In den anderen beiden Punkten setzte sich der Bundesrat hingegen durch und hielt an der Nato-Terminologie fest: Das neue Militärgesetz sieht die Beteiligung an «friedensunterstützenden» Einsätzen vor und verwischt die Grenze zwischen friedenserhaltenden- und friedenserzwingenden Einsätzen. Die Uno hingegen hält auch in ihrem neusten Bericht an der klaren Trennung fest. Mit gutem Grund: Friedenserhaltende Einsätze erfolgen unter Uno-Kommando. Für die Durchführung von friedenserzwingenden Kriegseinsätzen hingegen erteilt die Uno höchstens ein Mandat, die Durchführung wird einem Militärbündnis (z.B. der Nato in Kosov@) oder einem einzelnen Staat (z.B. der USA im Golfkrieg) überlassen.
Wer die Uno gegen die Nato stärken will und in den Aufbau eines Systems kollektiver Sicherheit investieren will, der tut gut daran, den Beitrag der Schweiz auf internationaler Ebene präzis zu definieren. Das hat die Mehrheit des schweizerischen Parlamentes verpasst -und ein Gesetz verabschiedet, das den Bedürfnissen der Nato und nicht der Uno Rechnung trägt.
1. Die in der Folge aufgeführten Zahlen stammen entweder von der offiziellen Uno-Homepage (www.un.org) oder aus dem ebenfalls dort abrufbaren «Brahimi-Bericht» (s.u.)
2. So konnte ein Viertel der vom Sicherheitsrat bewilligten 8641 Posten für Zivilpolizisten bis jetzt nicht besetzt werden. (Brahimi-Bericht, §119).
3. Alle folgenden Zitat stammen aus dem «Report of the Panel on United Nations Peace Operations» (Brahimi-Bericht).