Den Zivildienst nur abhängig von der Armee denken zu können, ist Ausdruck der starken Naturalisierung, die der Gedanke des Militärdienstes in unserer Gesellschaft erlebt.
Ursprünglich war er einzig als Alternative für Dienstpflichtige geplant, die aus moralischen Überlegungen nicht in die Armee einrücken wollten. Heute nimmt der Zivildienst eine weit aus wichtigere Rolle ein, als die eines simplen Ersatzes für ein überholtes Pflichtsystem. 1’786’385 Diensttage wurden 2017 von Zivis geleistet. 1’786’385 Tage, in denen Schulen, Altersheime oder Landwirtschaftsbetriebe durch den Einsatz der Zivildienstleistenden nicht nur entlastet, sondern auch bereichert wurden. Dass der Zivildienst für die jungen Männer eine Horizonterweiterung und wertvolle Arbeitserfahrung darstellt, ist eine Tatsache. Gerade dieser Punkt wird von bürgerlicher Seite als Missstand gesehen, da Zivildienstleistende im Gegensatz zu Soldaten zu viel Positives erleben würden. Die anderthalbmal so lange Dienstdauer ignorieren sie dabei jeweils gekonnt. Die Frage, ob und wie der Zivildienst unabhängig vom Militärdienst gedacht und weiterentwickelt werden kann, wird aber auch auf der anderen Seite des politischen Spektrums immer wieder diskutiert. Hauptstreitpunkt dabei ist die Freiwilligkeit.
Wieder einen neuen Titel schaffen?
Der Zivildienst beinhaltet klassischerweise Tätigkeiten, die mit wenig technischer Ausbildung geleistet und praktisch ausschliesslich in assistierender Funktion ausgeführt werden können. Würde man diese Tätigkeiten in das schweizerische Bildungssystem integrieren, müsste ein neuer Abschluss geschaffen werden – eine Art Anlehre in wenigen Wochen – der sich deutlich unter der Qualität der Berufslehre befinden würde. Und er würde folglich schlechter entlöhnt werden. Angenommen, man würde eine Art Sozialzeit auf freiwilliger Basis anbieten, würden zumindest sicherlich die SchulabgängerInnen nur als absolute Notlösung den Zivildienst antreten, da sie unter grossem Druck stehen, möglichst schnell eine gute Grundlage für ihre berufliche Karriere zu legen. Der heutige Personalbedarf könnte kaum gedeckt werden.
Empathie ist lernbar
Es gibt aber weitere Gründe, weshalb die Linke bei dem Wort «obligatorischer Zivildienst» nicht gleich reihenweise in Ohnmacht fallen müsste. Empathie ist eben doch lernbar und nicht einfach angeboren. Die eingangs erwähnte Horizonterweiterung meint nicht nur, dass es einem KV-Lehrling gut tut, mal etwas anderes als den Bürotisch vor sich zu sehen. Der Austausch und das Zusammenarbeiten mit Personen aus anderen Branchen, Lebensbereichen, (Sprach)-Regionen steigert das gegenseitige Verständnis – genau wie beim Militär, mit dem Unterschied, dass die geleistete Arbeit sinnvoll ist und sich nicht mit Panzern und Schnellfeuerwaffen dekorieren muss, um wahrgenommen zu werden. Wir sind so stark gebrandmarkt durch die Unsinnigkeit des Militärzwangs, dass wir die Vorteile einer zivilen Dienstpflicht kaum mehr wahrnehmen können. Eine Dispensierung aus legitimen Gründen ist ja auch bei einem obligatorischen Zivildienst immer noch vorstellbar, genauso wie es eine Anpassung des Lohnsystems wäre, um nicht in eine Billigarbeitsfalle zu tappen. Und: Weshalb nur ein Obligatorium für junge Leute? Kann man die Freiwilligkeit nicht an einem anderen biografischen Moment einsetzen lassen und auch ältere Personen zulassen? Die Veränderungen im Arbeitsmarkt werden je länger desto mehr Stellen obsolet machen. Weshalb vor dem immer noch stigmatisierten Gang zum RAV und dem Sozialamt nicht etwas Bereicherndes tun, für das man sich nicht zuerst umschulen lassen muss? Und wer weiss, vielleicht würde sich unsere Gesellschaft endlich wieder daran erinnern, dass auch Arbeiten, für die man keinen hohen Titel braucht, extrem wertvoll, bedingungslos respektabel und fair zu entlöhnen sind. Free the Zivi, unabhängig vom Militärdienst, aber obligatorisch für alle!