Putin und der Pazifist

Vom pazifistischen Armeeabschaffer zum Verteidiger eines Kriegsherrn. Eine Auseinandersetzung mit den Stellungnahmen von Andreas Gross

«Putin wollte den Krieg» (Sergei Kowaljow, russischer Menschenrechtskämpfer, in: NZZ 29./30. Januar 2000)

«Und dann hat er jede unserer Fragen beantwortet, weit über die Zeit hinaus. Und in einer verbindlich engagierten, aber auch selbstkritischen und dialogischen Art, wie es für viele auch westliche Staatsmänner nicht üblich ist, und schon gar nicht für russische Politiker. “Ich habe in Putin tatsächlich einen anderen Menschen getroffen als den, der uns jeden Tag gezeichnet wird von Journalisten, die ihn noch nie getroffen haben. Dazu stehe ich.” (Andreas Gross, bekenndender Pazifist und Radikaldemokrat, im «Bund», 25.1.2000)

Ich muss gestehen, dass ich Wladimir Putin persönlich nie getroffen habe. Mein Urteil, dass Putin ein Kriegstreiber, ein politischer Kriegsgewinnler, ein Völkerrechts- und Menschenrechtsverletzer, ein Demokratie- und Minderheitenverächter, ein grossrussischer Nationalist und Verharmloser des Stalinismus ist, stützt sich nicht auf eine direkte Begegnung, sondern bloss auf Berichte von Korrespondenten und von ihnen übermittelte Zitate. Ich stütze mich

  • auf die NZZ, die am 29./30.1.2000 schrieb, der Europarat über «zu viel Nachsicht mit dem Kriegsherrn Putin»;

  • auf Roman Berger, der im «Tages-Anzeiger» vom 2.2.2000 darstellte, wie eng der zweite Tschetschenien-Krieg und Putins Präsidentschaftskandidatur zusammenhängen;

  • auf die «International Herald Tribune», in der am 31.1.2000 zu lesen war, Putin habe in einem Gespräch mit einer Schriftstellergruppe die Rolle des sowjetischen Geheimdienstes während der stalinistischen Säuberungen entschuldigt. So habe er gesagt, es wäre «unseriös», eine Organisation zu kritisieren, «für die er so viele Jahre gearbeitet habe»;

  • auf eine Putin-Aussage in der gleichen Zeitung: «Ich lese keine Bücher von Leuten, die ihr Vaterland verraten haben.»;

  • auf einen «Spiegel», dessen Putin-Titelgeschichte vom 10.1.2000 die Überschrift trägt: «Russlands neues Bündnis aus KGB und Kapital». Der darin zitierte deutsch-französische Europapolitiker Daniel Cohn-Bendit, der Putin als «Pendant zum nationalistischen Abenteurer Slobodan Milosevic» bezeichnet, dürfte der Wirklichkeit einiges näher kommen als die Meinung des helvetischen Europapolitikers, der im Eingangszitat erwähnt wird.

Milosevic, Putin und die Nato

Vielleicht ist der Milosevic-Putin-Vergleich (mindestens vorläufig) etwas übertrieben. Aber die höchst unterschiedliche Art, wie Andreas Gross auf die beiden für Krieg und Menschenrechtsverletzungen Verantwortlichen reagiert, ist recht aufschlussreich. Im ersten Fall befürwortete er die kriegerischen Nato-Bombardierungen (zu deren Folgen die russische Aggression gegen Tschetschenien gehört). Im zweiten Fall nahm er in einem Interview («Tribune de Genève» vom 21.1.2000) gegen friedliche Sanktionen des Europarates Stellung. Er begründete seine Haltung mit dem Hinweis, Putin sei «kein Ideologe», er pflege «einen neuen Stil, eine andere Kultur», die selbst der eines Gorbatschow überlegen sei. Für Menschen, die Putin nicht so «differenziert» sehen wie er selber, hat Andreas Gross folgendes Urteil parat: «Es sind die Totalitären, welche die Leute vorschnell verurteilen; so hat man es in diesem Land während der totalitären Phase gemacht.»

Trotz dem Risiko, als «totalitär» verurteilt zu werden, möchte ich drei scheue Fragen stellen: Ist Putins (zaristisch und stalinistisch geprägter) Chauvinismus nicht auch eine «Ideologie»? Woran zeigt sich dieser «neue Stil» und diese «andere Kultur» im Umgang mit dem tschetschenischen Volk oder mit den Müttern der russischen Soldaten? Ist Andreas Gross nicht aufgefallen, dass Putin die Begründung des Kriegs gewechselt hat von der «Ausrottung des Terrorismus» zur «Bekämpfung des Selbstbestimmungsrechts»?

Erodierte Originalität

Ehrlich gesagt bin ich über das Plädoyer von Andreas Gross für einen Kriegsherrn nicht besonders überrascht. Mächtige Männer haben ihn schon früher «fasziniert» (Zitat in der NZZ vom 21.1.2000). Und vom pazifistischen Antimilitarismus auf das militärische Konfliktmanagement ist er bereits mit seinem Einsitz in die (für einen harten Pentagonkurs plädierende) «Kommission Brunner» umgestiegen. Die Unterstützung des Bomben-Krieges über Serbien und Kosov@ lag ganz auf dieser Linie. Auffällig waren eher Argumente, die selbst bestandene Militärköpfe zum Schütteln brachten. So verglich Andreas Gross den «illegalen, aber legitimen» Nato-Feldzug mit «zivilem Ungehorsam». Dabei haben wir gemeinsam gelernt und gelehrt, dass ziviler Ungehorsam immer gewaltlos und ein Mittel von unten und nicht von oben ist. Ebenso haarsträubend war die Antwort im gleichen Radiointerview (DRS 1, Samstagsrundschau vom 17.4.1999) auf die Frage, was er zur Bombardierung von Flüchtlingskonvois halte: «Der arme Cheib ist der Pilot, der einen Fehler gemacht hat.»

Andreas Gross hat das Vorhaben der GSoA, gegen die geplante Revision des Militärgesetzes ein Referendum vorzubereiten, im «Bund» (20.11.1999) mit der Aussage kommentiert: «Die Originalität der 80er-Jahre sei ‘erodiert’, und die GSoA profiliere sich heute mit Tagesproblemen – ‘auf der nationalkonservativen Seite’.» Der Artikel schloss mit dem Zitat: «Ich bin je länger, je mehr froh, dass ich die Kraft gefunden habe, meine damalige Heimat zu verlassen.» Mindestens dieses Gefühl teilen wir. Wie würde die GSoA heute dastehen, wenn sie den Verteidiger eines nationalkonservativen Kriegsherrn in ihren Reihen hätte? Das wäre tatsächlich eine höchst originelle Herausforderung.