Ursachen der Urkatastrophe

«Wir können aus der Geschichte des neun -zehnten Jahrhunderts den Ersten Weltkrieg nicht ‚erklären‘; aber wir können gar nichtanders, als im Lichte dieser Katastrophe das Jahrhundert verstehen, das in ihr sein Ende fand.» (Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft)

Es geht hier um einen Versuch, die Urkatastrophe aus der sozialen Interessenlage und der kulturellen Ideenwelt jener Kreise, die über Krieg und Frieden entschieden haben, zu er-klären. Zuerst aber sollen die beiden Thesen, welche in der Rechten beziehungsweise in der Linken vorherrschen, kurz hinterfragt werden. Die Behauptung, die Verantwortungsträgerseien nach dem Attentat von Sarajewo in den Krieg «geschlittert», ohne ihn gewollt zu haben, ist schlicht und einfach lächerlich. Deutsche, österreichische und andere Dokumente, aber auch etwa der Druck, den der französische Ministerpräsident Raymond Poincaré im Juli 1914in Petersburg auf das zögernde Russland aus-übte, enthüllen ein klares Ziel: Krieg. Unhaltbar ist auch die Behauptung, es sei beim Ersten Weltkrieg um die Aufteilung der Welt gegangen. Es gab mehr koloniale Gegensätze unter den Entente-Alliierten als zwischen diesen und dem Deutschen Reich. Bei der Faschoda-Krise(1898) im Sudan standen sich Grossbritannien und Frankreich gegenüber. An der Berliner Kongo-Konferenz (1884/85) spannte Bismarck mit Frankreich und Belgien gegen die Britenzusammen. Noch zwei Wochen vor Kriegsausbruch musste Poincaré den Zaren wegen den russisch-britischen Spannungen in Persienbesänftigen.

«Polizeilich gehüteter Militärdespotismus»
Die Hauptgründe, die zum Grossen Krieg mitseinen 20 Millionen Toten führten, liegen im Innenpolitischen. Am einfachsten lässt sich das am Beispiel Preussen erklären. Was Karl Marx 1875 über das Deutsche Reich und dessen preussische Vormacht geschrieben hat, galt nach der Jahrhundertwende immer noch: «Ein Staat, der nichts anderes als ein mit parlamentarischen Formen verbrämter, mit feudalem Besitz vermischter und zugleich schon von der Bourgeoisie beeinflusster, bürokratisch gezimmerter, polizeilich gehüteter Militärdespotismus ist». Träger des Reichs war ein Militäradel, dessen ökonomische Basis der ostelbische Grossgrundbesitz war und der zusätzlich zur Armee grosse Teile des Staatsapparates beherrschte. Geändert hatten sich im letzten Viertel des Jahrhunderts die folgenden Faktoren: Unter Führung des Militäradels wurde die Gesellschaft materiell und geistig extrem militarisiert. Ein Teil der Bourgeoisie, die Schwerindustrie, hatte sich mit ihm zu einem ultrareaktionären Bündnis verschmolzen, das Protektionismus mit Demokratiefeindlichkeit verband. Der andere Teil hat den Liberalismus zugunsten eines Imperialismus aufgegeben, der sich in einemäussert aufwändigen, aber militärisch sinnlosen Schlachtflottenbau gegen Grossbritannienmaterialisierte. Gleichzeitig erlebte die Sozialdemokratie einen spektakulären Aufstieg, machte die Gesellschaft eine rasante Modernisierung durch. Das ideelle Vakuum, das der politische und kulturelle Liberalismus hinter-liess, wurde ausgefüllt durch einen Sozial-darwinismus, der die Militarisierung zusätzlich förderte. Dem Militäradel waren zwei Sachen klar: Der Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozess zog ihm den materiellen Teppich unter den Füssen weg. Die Parlamentarisierung gefährdete seine politische Macht. Der Krieg war letztlich die einzige Chance dieser Kreise, die eigene Unentbehrlichkeit zu beweisen und die Kontrolle über den Staatsapparat zu bewahren.

Nach dem «Great Unrest» der Grosse Krieg
Bei den Reichstagswahlen 1912 wurde die SPD mit 35 Prozent wählerstärkste Partei. Sowohl innerhalb des Liberalismus als auch innerhalb des politischen Katholizismus gab es eine Stärkung der Mitte gegenüber der Rechten. Der Militäradel und die Schwerindustrie, die erst-mals in die Minderheit versetzt worden waren, suchten zuerst den Bürgerkrieg in den Berg-baugebieten des Ruhrgebiets. Die Arbeiterbewegung, in der sich Sozialisten mit Katholiken und Liberalen zusammenschlossen, liess sich nicht provozieren. Dem gefährdeten Junkertum und der bedrohten Montanbourgeoisie blieb nur noch der Krieg nach aussen. Auch in Österreich-Ungarn beherrschte der(deutschsprachige) Hochadel die für Krieg und Frieden zuständigen Staatsstellen. Er sah im Militarismus die einzige Chance, gegen die Aufstände der Nationalitäten und den Aufstieg der Sozialdemokratie das Imperium zusammenzuhalten. Damit war der Weg frei für die Kriegseskalation nach der Ermordung des Thronfolgers in Sarajewo. Zum Finanzkapital Österreich-Ungarns hielt der bürgerliche Ökonom Josef Schumpeter fest, es sei die idealtypische Verkörperung jener Bourgeoisie, derer sich die vorindustrielle classe politique bediente, um ihre eigene Macht zu verewigen. Im zaristischen Russland sah es ganz ähnlich aus. Armee und Staatsapparat lagen in den Händen eines grundbesitzenden Adels, dessen materielle Bedeutung angesichts der Industrialisierung an Gewicht verlor. Der Bourgeoisie fehlte die Kraft zu einer eigenständigen Politik. Zudem fiel es der Monarchie immer schwieriger, das Völkergefängnis zu kontrollieren. Aber waren Grossbritannien und Frankreich nicht viel entwickeltere Staatswesen und Gesellschaften? Gewiss spielten die aussenpolitischen Motive in diesen Ländern eine grössere Rolle als in den drei bereits erwähnten. Aber auch in Grossbritannien war die politische Elite der beiden bürgerlichen Parteien, der Tories und der Liberals, mehrheitlich adlig und damit militärisch. Auch das Aussenministerium, die Kolonialverwaltung, das Heer und die Justizwaren Domänen der Aristokratie. Zusätzlich gestärkt wurde der Militarismus durch den kolonialen Geist und das koloniale Personal. Besonders gefördert wurde die Kriegsmentalität durch die nordirische Adelselite, die 1912gegen den irischen Republikanismus die «Ulster Volunteer Force», eine Privatarmee, gegründet hatte. Dazu kam die Angst vor den Frauen-und Arbeiterbewegungen. Grossbritannienhatte 1912 eine grosse Streikwelle erlebt, die als «Great Unrest» in die Geschichte einging.

«Militärischer Geist» als «sozialer Zement»
Frankreich war zwar vor dem Kriegseintritt der USA die einzige Republik unter den europäischen Mächten. Aber das Land hatte das Drama der Dreyfus-Affäre (1894 bis 1906) hinter sich, welche den Hochadel und das Grossbürgertum noch enger zusammenrückenliessen. 1913 wurde deren Kandidat, der rechts-republikanische Poincaré zum Premierministergewählt. Zum Hintergrund des bürgerlichen Rechtsrutsches gehörten die Wahlerfolge der Sozialisten unter Führung des Dreyfusards Jean Jaurès sowie der spektakuläre Aufstieg der radikalen Gewerkschaft CGT. 1910 hatte der rechtsextreme Erfolgsautor Gustave LeBon den «militärischen Geist» als einzigen «sozialen Zement» propagiert, der Frankreich noch bleibe. Auch in diesem Sinne wurde 1913 gegen den Widerstand der Linken die Verlängerung der Wehrpflicht von zwei auf drei Jahre durchgesetzt. Christopher Clarc schreibt in seinem Wälzer «Die Schlafwandler» im Schlusskapitel den Satz: «Die Krise, die im Jahr 1914 zum Krieg führte, war die Frucht einer gemeinsamen politischen Kultur.» Stärker, als Clarc dies tut, ist zu betonen, dass es sich um Kriegs-Kultur im umfassenden Sinne des Wortes handelte: Massive Aufrüstung, Militarisierung der Köpfe, Einführung und Ausbau der allgemeinen Wehrpflicht, sozialdarwinistisches «Recht des Stärkeren», Chauvinismus, Spannungspolitik und Geheim-diplomatie. Aber auch die politische Struktur hatte viele Gemeinsamkeiten. Arno J. Mayer bringt es in seinem Buch «Adelsmacht und Bürgertum. Die Krise der europäischen Gesellschaft 1848-1914» auf den Punkt: «Nach wie vor bildete das Militär das Zentrum im bürokratischen ‚Stahlkorsett‘ der europäischen Regierungssysteme.» Der Grosse Krieg bestätigt: Wer den Krieg vorbereitet, will ihn auch.