Die internationale regelbasierte Ordnung ist unter Druck. Das Tabu des Einsatzes von Atomwaffen droht zu fallen. Dennoch gibt es berechtigte Hoffnung.
Im November 2022 eroberte die Ukraine weite Gebiete des Oblast Cherson nördlich des Flusses Dnipro von den russischen Besatzungstruppen zurück. Obwohl es in dieser Region nur einige wenige Brücken über den Dnipro gibt und sich diese in Reichweite der ukrainischen Artillerie befanden, gelang es den russischen Streitkräften, Zehntausende Soldaten ans Südufer des Flusses zu evakuieren. Im Gegensatz zu ähnlichen früheren Operationen – beispielsweise zwei Monate zuvor in der Region Charkiw – musste die russische Armee dabei kaum Verluste an Material und Personal hinnehmen.
Anfänglich wurden die Ereignisse noch als Schulbuchbeispiel eines geordneten und gut organisierten Rückzugsgefechts interpretiert. Inzwischen kommen jedoch Zweifel an dieser Lesart auf. Laut CNN schätzten die US-Geheimdienste damals die Wahrscheinlichkeit, dass Russland eine taktische Nuklearwaffe einsetzen würde, wenn die Besatzungstruppen zu hohe Verluste hinnehmen müssten, auf 50 Prozent. Spekulationen legen nahe, dass der Abzug der russischen Truppen über den Dnipro nur deshalb so reibungslos möglich gewesen sei, weil die US-Regierung Druck auf die Ukraine ausgeübt habe.
Es mag sein, dass diese Gerüchte falsch sind, oder dass die Beurteilung der US-Geheimdienste über die russischen Absichten inkorrekt war. Alleine die Spekulationen zeigen jedoch, dass der Einsatz von Nuklearwaffen immer mehr als ein denkbares Szenario gehandelt wird. Die ukrainische Regierung hat verschiedentlich angedeutet, dass im Land hypothetisch das nötige Know-How vorhanden wäre, sich ebenfalls nuklear zu bewaffnen. Dass mit Drohungen von Atombomben auf dem Schlachtfeld reale Erfolge ermöglicht werden, könnte bei zahlreichen Akteuren Begehrlichkeiten wecken. Das gilt offensichtlich für Iran und Nordkorea. Aber in der Folge dürften sich auch Saudi-Arabien und Südkorea entsprechende Gedanken machen. Selbst bei Ländern wie Polen oder Deutschland besteht die Gefahr, in einen neuen atomaren Rüstungswettlauf hineingezogen zu werden.
Umso wichtiger ist es, diese Spirale der Drohungen zu durchbrechen. Auffallend ist, dass die Drohungen immer nur Nuklearwaffen umfassen, nicht jedoch chemische oder biologische Waffen – obwohl das rein militär-strategisch durchaus eine Option sein könnte. Offenbar wirken die internationalen Normen und Verbote bei diesen Waffensystemen weiterhin. Langfristig wird es solche Normen auch bei Nuklearwaffen brauchen. Auch die Schweiz sollte mit dem Beitritt zum Uno-Atomwaffenverbots-Vertrag endlich ihren Beitrag leisten.